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Migranten mit HIV bringen Russland nur Verluste


In Russland gilt ein Gesetz, dem entsprechend ausländische Bürger mit einer HIV-Infektion nicht behandelt, sondern in ihre Länder deportiert werden. In der Regionalen Expertengruppe (REG) für die Gesundheit von Migranten in Osteuropa und Zentralasien besteht man darauf, dass diese Maßnahme nicht so sehr eine inhumane als vielmehr eine wirtschaftlich unvorteilhafte für den Staatshaushalt sei. Unter anderem aufgrund der Schwierigkeiten bei deren Umsetzung in der Praxis. Die Sache ist die, dass die HIV-infizierten oder AIDS-kranken Gastarbeiter aufgrund der drohenden Ausweisung einfach in die Illegalität gehen. Die REG schlägt vor, solchen kranken ausländischen Bürgern zu erlauben, sich gerade auf eigene Kosten in der Russischen Föderation behandeln zu lassen.

Bei der turnusmäßigen Tagung der REG – einer internationalen NGO, mit der Regierungen mittelasiatischer, transkaukasischer und osteuropäischer Staaten zusammenarbeiten -, wurden den Behörden der Russischen Föderation empfohlen, auf die unbedingte Ausweisung von ausländischen Bürgern mit einer HIV-Infektion aus dem Land zu verzichten. Vor allem weil die derzeit geltenden Maßnahmen nur die Situation mit der Erkrankung verschlechtern würden. Dies erlaube den Gastarbeitern nicht, sich legalisieren und behandeln zu lassen, und nötige sie, in den Grausektor zu gehen, den weder das Innenministerium noch das Gesundheitsministerium sowie die russische Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadzor kontrollieren würden. Und dies bedeute schlicht und einfach, dass die Infektion weiterhin verbreitet werden könne. „Einer der Wesenszüge der gegenwärtigen Etappe der Weiterverbreitung der HIV-Infektion in der Russischen Föderation ist die Zunahme des Maßstabs der verdeckten Epidemie unter den Arbeitsmigranten, die gezwungen sind, ihren HIV-Status geheim zu halten“, erklärten die Teilnehmer der REG.

Allem nach zu urteilen, nimmt die Aufmerksamkeit für dieses Problem zu, da ab dem kommenden Jahr in der Russischen Föderation neue Migrations- bzw. Einwanderungsregeln zu gelten beginnen. Alle Ankommenden werden verpflichtet sein, innerhalb eines Monats eine daktyloskopische Erfassung und medizinische Untersuchung zu durchlaufen, um nachzuweisen, dass sie kein AIDS haben. Ein Teil der ausländischen Bürger kommt jedoch nach Russland, wobei sie bereits um ihre Erkrankung wissen. Einige sind sogar schon in der Heimat erfasst worden. Das heißt: Sie sind sofort bereit, die Reihen der Illegalen aufzufüllen. Es gibt auch solche, die als gesunde zum Arbeiten kommen und gerade in Russland infiziert werden. Aber man erkennt sie dennoch als unerwünschte an, selbst wenn sie bereits einen legalen Aufenthaltsstatus besitzen. Alles in allem wird der Graubereich durch HIV-Migranten erweitert, die nur in Extremfällen in Kliniken geraten. Ihre Behandlung kostet dem Haushalt dort etwa 200.000 Rubel pro Person.

In der REG erklärt man, dass man die Gelder der Steuerzahler einsparen könnte, wobei man auch noch Humanismus an den Tag legen würde, indem man den ausländischen Bürgern erlaubt, in der Russischen Föderation zu bleiben und dabei sich auf Kosten eigener Mittel oder des Herkunftslandes behandeln zu lassen. Beispielsweise ist Kirgisien bereit, offiziell Präparate zu übergeben. Bisher muss dies über Verwandte der HIV-Infizierten getan werden. Nach Aussagen von Anastasia Pokrowskaja, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentralen Forschungsinstituts für Epidemiologie von Rospotrebnadzor, sehe das Prozedere gegenwärtig so aus: Die Migranten werden in der Russischen Föderation beim Einreichen der Dokumente für ein (Arbeits-) Patent oder für eine zeitweilige Aufenthaltserlaubnis und ständige Aufenthaltserlaubnis getestet und gelangen sofort in die Listen jener, denen die russischen Behörden den Status eines unerwünschten Aufenthalts im Land ausstellen. Ein Teil der ausländischen Bürger erfährt jedoch die Diagnose der Erkrankung anonym, zum Beispiel in privaten medizinischen Einrichtungen. Und da werden sie, um ihren Status zu verschleiern, auch zu illegalen. „Russland betrachtet einen HIV-positiven Ausländer als eine Gefahr für die Bürger Russlands. Dies wird damit begründet, dass diese Bürger angeblich epidemiologisch gefährlich sind“, erläuterte Pokrowskaja, obgleich dies nach ihrer Meinung tatsächlich von vielen Faktoren und natürlich von der anzuwendenden Heilbehandlung abhänge.

Der regionale Berater der Vertretung des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (englisch United Nations Population Fund, UNFPA) für Osteuropa und Zentralasien, Andrej Poschtaruk, erinnerte bei der Sitzung der REG daran, dass gegenwärtig diese Regionen die einzigen in der Welt seien, wo die Zahl der HIV-positiven Bürger zunehme. Anfang des Jahres 2021 „wurde eine Zunahme an neuen HIV-Infektionsfällen um 43 Prozent fixiert. Zum Vergleich: In der Welt liegt dieser Wert bei minus 23 Prozent“. „Bis zum vergangenen Jahr wurden in Russland rund 40.000 Ausländer mit HIV ermittelt. Wir wissen aber nicht, wie viele von ihnen das Land verlassen haben und wie viele geblieben sind“, erklärte Daniil Kaschnizkij, Koordinator der REG für die Arbeit mit der akademischen Gemeinschaft. Nach seinen Worten wirke nie die Erwartung der Behörden, dass die Migranten mit HIV freiwillig das Land verlassen würden. Diese Menschen, die hierherkommen, bürden sich Schulden auf. Sie haben in der Heimat keine Einkommensquelle. Der Vorsitzende der usbekischen NGO „Ishonch va Hayot“ („Glaube und Leben“) Sergej Utschajew erläuterte: „Die illegalen Migranten, gegen die man ein Einreiseverbot verhängte, können sich im einheimischen AIDS-Zentrum nicht online erfassen lassen und kommen nicht in das System des Gesundheitswesen Russlands. Und daher kehren sie bereits in den terminalen Stadien zurück“.

Dozent Michail Burda vom Lehrstuhl für Politologie und politische Verwaltung des Instituts für Gesellschaftswissenschaften an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst erinnerte daran, dass die Kontrolle des medizinischen Zustands der Gastarbeiter während ihres Aufenthalts auf dem Territorium der Russischen Föderation dem Arbeitgeber, das heißt der empfangenden Seite überlassen wurde. Eine Heilbehandlung erfolgt im Rahmen einer freiwilligen Krankenversicherung, die verständlicherweise bei weitem nicht jeder Ankömmling hat. „Wenn man von der Ermittlung gefährlicher Erkrankungen unter jenen spricht, die einer illegalen Arbeitstätigkeit nachgehen, so ist dies ein reales Problem. Von solchen Illegalen gibt es in Russland recht viele“, sagte der Experte.

Wie der gesellschaftliche Aktivist Alexej Jegorkin anmerkte, sei es eine große Frage, warum eine medizinische Gegenindikation für einen Aufenthalt von Gastarbeitern in Russland faktisch nur AIDS sei, obgleich es „eine Masse von anderen gefährlichen Krankheiten gibt – Tuberkulose, Syphilis, Cholera“. Dabei hege auch keiner einen Zweifel daran, dass die meisten Migranten, die zu einer Deportation „aufgrund des Gesundheitszustands“ verurteilt worden sind, versuchen, in Russland zu bleiben. Und das „Fehlen einer Kontrolle und unehrliche Beamten sind ihnen bei diesen Absichten Helfer“. In der Realität gebe es keine Kontrolle über solche Personen, bestätigte er. Ja, und sie seien einfach Menschen mit einer medizinischen Diagnose und keine Kriminelle. „Einem zu deportierenden Migranten wird immer Zeit für die Ausreise eingeräumt. Und da suchen die meisten von ihnen die Flucht. Es versteht sich, dass sie keiner suchen wird. Und sie beginnen ein neues Leben in der Illegalität“, unterstrich Jegorkin. Dadurch würden die Risiken anderer Menschen nur zunehmen. Doch für den Staat würden sich erst dann Schwierigkeiten ergeben, wenn der Illegale zu einem kritischen Zustand gelange. Ja, und da würde man beginnen, ihn zu behandeln. Kostenlos für ihn, aber nicht für den Haushalt. Nach Aussagen Jegorkins sei es erstaunlich, dass die Offiziellen einen einzelnen Teil irgendeines ernsthaften Problems herausgreifen, um es dann in allen Details zu erörtern, wobei der gesamte Kontext ignoriert werde. Warum beispielsweise beunruhigt keinen, dass vom Prinzip her die meisten der „herbeigeschafften“ Arbeiter von Baustellen sowie des kommunalen und wohnungswirtschaftlichen Sektors unter unhygienischen Bedingungen leben. Dies gilt sowohl für die ausländischen als auch Binnenmigranten. „Solche Arbeitskräfte nehmen die Arbeitgeber wie Einweg-Ausrüstungen wahr, was in der Realität weitaus mehr Probleme als die ausländischen Bürger mit einer AIDS-Diagnose verursacht“.

„Die Politik hinsichtlich der HIV-infizierten Migranten ist eine schlechte, harte und wirtschaftlich unvorteilhafte“, erklärte der „NG“ das Mitglied des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen Alexander Brod. Er ist sich gewiss: Man muss die diskriminierende Gesetzgebung aufheben und den Ausländern die Möglichkeit geben, frei einen Test und eine Behandlung in Russland zu durchlaufen. Aber von den heutigen Forderungen gebe es nach seinen Worten nur einen Schaden: „Die Migranten verheimlichen die Erkrankung und suchen nicht offiziell nach medizinischer Hilfe, denn sie werden deportiert, bekommen keine zeitweilige oder keine ständige Aufenthaltserlaubnis“. Russland erleide Ansehensverluste, meint Brod, da dies „das einzige Land im Europarat ist, dass Ausländer mit HIV verjagt, wobei es anderthalb Millionen eigene infizierte Bürger hat“. „Wir werden zu einem Territorium, das als ein Land im Verruf steht, Migranten zu hassen. Dies birgt in der Zukunft ernsthafte Risiken für den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft in sich“, merkte Brod an.