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Minsk droht eine vollkommene Isolierung von Europa


Polen, Lettland und Litauen könnten die Routen für den Transport von Waren aus Europa nach Weißrussland und Russland unterbrechen. Solch eine Erklärung hat der stellvertretende Minister für Infrastruktur der Ukraine, Mustafa Najem, abgegeben. In den letzten Wochen sind bereits ernsthafte Einschränkungen beim Passieren der Grenze mit diesen Ländern für weißrussische LKWs registriert worden. Experten schließen eine radikale Entwicklung der Ereignisse nicht aus. Offizielle Vertreter Weißrusslands und eurasischer Strukturen signalisieren aber die Bereitschaft zu einer kompletten Neuaufstellung der logistischen Netzwerke.

In den nächsten Tagen kann eine Entscheidung über ein völliges Kappen der Landwege für den Transport von Waren zwischen Polen und den Ländern des Baltikums einerseits und Weißrusslands und Russlands andererseits gefällt werden.

„Wir haben uns offiziell an unsere Kollegen mit der Bitte gewandt, jeglichen Autoverkehr mit der Russischen Föderation und der Republik Belarus zu stoppen. Gedankt sei allen Transportministern der aufgezählten Länder. Die Reaktion ist eine momentane. Wir warten auf ein endgültiges Ergebnis“, erklärte der stellvertretende ukrainische Infrastrukturminister Mustafa Najem.

Zuvor war mitgeteilt worden, dass der Botschafter der Ukraine in Polen, Andrej Destschitza, Gespräche mit den Regierungen Polens, Litauens und Lettlands über eine vollständige Schließung der Grenze mit Weißrussland führe. Diese Maßnahme verfolgt das Ziel, jegliche Lieferungen aus der EU nach Russland zu blockieren.

Offizielle Litauens bestätigten, dass eine derartige Entscheidung wirklich gefällt werden könne. Der Außenminister dieser baltischen Republik, Gabrielius Landsbergis, erklärte: „Es erfolgen Diskussionen. Ein genaues Datum kann ich nicht nennen. Wenn Entscheidungen gefällt werden, die auszuarbeiten sind, dann werden wir sie auch bekanntgeben“.

Derweil haben die polnischen Grenz- und Zolldienste seit Beginn der Woche die Überprüfungen des Frachtguttransports bei der Ausreise nach Weißrussland entsprechend von Entscheidungen des Innen- und des Finanzministeriums verstärkt. „All unsere Grenz- und Zolldienste überprüfen sehr sorgfältig jedes Fahrzeug. Wir müssen uns dessen sicher sein, dass in ihnen keine Waren mit einer doppelten Zweckbestimmung (also auch für mögliche militärische Zwecke – Anmerkung der Redaktion) transportiert werden. Dies ist eine Anweisung sowohl des Finanzministers als auch des Innenministers“, erklärte Polens Vizeinnenminister Maciej Wonsik.

Er gestand ein, dass „die Wartezeit in den Warteschlangen an der Grenze 80 Stunden erreichen kann“. Und er erklärte, dass „das Beste für die Europäische Union die Verhängung einer Wirtschaftsblockade Russland sein wird“. Nach seiner Meinung sei diese Maßnahme erforderlich, damit „solange wir die polnisch-weißrussische Grenze schließen, über die der Transport nach Russland erfolgt, die Waren nicht aus Rostock oder Hamburg nach Petersburg gelangen“.

Es muss betont werden, dass die Lage an den Grenzübergangsstellen an der Grenze Weißrusslands zur EU bereits viele Tage eine angespannte bleibt. Am Mittwoch teilte Weißrusslands Staatliches Grenzkomitee mit, dass innerhalb von 24 Stunden die polnischen Dienste lediglich 46 Prozent der Transportmittel von der festgelegten Norm abgefertigt hätten. An den Grenzübergangsstellen hätten sich hunderte LKWs aufgestaut. Auf das Territorium Litauens seien 60 Prozent der Lastkraftwagen von der Durchlassfähigkeit durchgekommen. Die lettische Seite hätte die größte Loyalität an den Tag gelegt. Abgefertigt wurden 85 Prozent der LKWs.

Vor dem Hintergrund der besorgniserregenden Erklärungen und Restriktionen beim Passieren der Grenzen erklärte Weißrusslands Vizewirtschaftsminister Dmitrij Jaroschewitsch, dass an einer Neuausrichtung der Exportströme gearbeitet werde. „Es versteht sich, die perspektivreichsten sind für uns Russland und China. Insgesamt können in diese Länder kurzfristig über fünf Milliarden Dollar des europäischen Exports umgelenkt werden. Darunter im vollen Umfang Lebensmittel, Erzeugnisse des Maschinenbaus und der Leichtindustrie“.

Der russische kremlnahe Politologe und Vorsitzende des Rates der Stiftung für Entwicklung und Unterstützung des „Valdai“-Klubs, Andrej Bystrizkij, kommentierte für die „NG“ die Situation so, wobei er den Vorbehalt formulierte, dass man sich mit Vorsicht gegenüber den Erklärungen offizieller Vertreter der Ukraine verhalten müsse: „Solche Gespräche werden geführt. Angesichts dessen, dass der Grad der Nervosität zunimmt, kann eine Unterbrechung der Lieferwege nicht ausgeschlossen werden. Dies ist aber eine sehr schwere Entscheidung, aus logistischer Sicht eine sehr widersprüchliche. Dennoch sind aber die Länder des Baltikums und Polen derzeit so aufgepusht, dass sie sich auch auf solch unvorsichtige Schritte einlassen können. Aber solche Maßnahmen müssen natürlich mit den anderen Ländern der Europäischen Union abgestimmt werden“. Der Experte betonte, dass es derzeit schwierig sei, die Konsequenzen eines derartigen Schritts für Weißrusslands Wirtschaft zu beurteilen. Es sei aber offensichtlich, dass die eigentliche Logik der Ereignisse das Land zu einer noch allumfassenderen Integration mit Russland veranlasse.

Derweil arbeitet die Eurasische Wirtschaftskommission neue Logistik-Ketten für Lieferungen im Zusammenhang mit der Situation an der Grenze mit der Europäischen Union aus. Die offizielle Sprecherin der Kommission Ija Malkina erklärte: „Vorgesehen sind Maßnahmen, die auf die Schaffung eines günstigen Regimes für den Frachtguttransport in den vorrangigen Richtungen, auf die Entwicklung neuer logistischer Lieferketten, die Vorbereitung eines komplexen Plans zur Entwicklung eurasischer Transportkorridore und Verabschiedung von Empfehlungen bezüglich der Entwicklung von Transport- und Logistikzentren im Rahmen der (Eurasischen Wirtschafts-) Union, aber auch auf die Bestimmung einer Liste vorrangiger Integrations- und Infrastrukturprojekte ausgerichtet sind“.

Während an der West- und an der nordwestlichen Grenze Weißrusslands die Logistik-Spannungen zunehmen, bleibt die Lage an der Südgrenze zur Ukraine eine unbestimmte. In den sozialen Netzwerken wird auf Accounts der ukrainischen Streitkräfte berichtet, dass Armeeeinheiten zur Grenze in den Verwaltungsgebieten Kiew und Tschernigow gekommen seien. Offizielle Erklärungen, wonach die Grenzübergangsstelle unter Kontrolle gebracht worden seien, gibt es aber bisher keine.

Zur gleichen Zeit lässt an den Punkten, die sich in der letzten Zeit unter der Kontrolle der Ukraine befanden (und die sind an mehr als der Hälfte der gemeinsamen Grenze gelegen), der Flüchtlingsstrom nicht nach. Freilich ist er nicht mit den Zahlen zu vergleichen, die aus Polen oder Moldawien kommen. Das weißrussische staatliche Grenzkomitee teilte beispielsweise mit, dass ab 06.00 Uhr des 4. April bis 06.00 Uhr des nächsten Tages 808 Bürger der Ukraine über die ukrainisch-weißrussische Grenze gekommen seien. Und am Freitag meldete das UN-Hochkommissariat für Flüchtlingsfrage, dass von den rund 4,4 Millionen Ukrainern, die im Verlauf der gegenwärtigen und von Moskau am 24. Februar begonnenen sogenannten militärischen Sonderoperation zu Flüchtlingen geworden sind, lediglich rund 19.000 Weißrussland für ein Obdach ausgewählt haben, was von der Attraktivität des Landes zeugt.