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Minsk hat Moskau eine finanzielle Bombe untergeschoben


Die Proteste in Weißrussland werden für Russland zu Verlusten führen. Und das in jedem Fall. Auch wenn Moskau offiziell Minsk unterstützt und mit ihm die Bürde der westlichen Sanktionen teilt. Auch wenn die Russische Föderation vollkommen abstrahiert. Auf jeden Fall wird man scheinbar eine rechtzeitige Tilgung der Schulden gegenüber Russland in einer Höhe von beinahe 8 Milliarden US-Dollar durch Minsk vergessen müssen. Außerdem wird Moskau im Falle einer freundschaftlichen Unterstützung augenscheinlich gezwungen sein, Minsk bei der Tilgung anderer Auslandsanleihen in einem Umfang von weiteren 10 Milliarden US-Dollar zu helfen. Ja, und im Falle eines Abbruchs der Kontakte wird Russland einen Verbündeten verlieren, in den es bis zur Abkühlung der Beziehungen laut Expertenschätzungen bis zu neun bis zehn Milliarden US-Dollar im Jahr investierte.  

Die Folgen der Präsidentschaftswahlen, die am 9. August in Weißrussland zu Ende gegangen sind, „schaffen eine Reihe politischer und wirtschaftlicher Risiken, und erhöhen die Wahrscheinlichkeit internationaler Sanktionen“, teilte die Rating-Agentur S&P mit. Die Analytiker räumen ein, dass die Konfrontation zwischen den Herrschenden und der Opposition in Weißrussland zu einer langanhaltenden werden könne.  

US-Außenminister Mike Pompeo stellte über die Möglichkeit der Verhängung von Sanktionen gegen Weißrussland oder einer Einschränkung der Lieferungen von Erdölprodukten an das Land an und teilte vage mit, dass Vieles von „Kriterien“ abhänge, obgleich er insgesamt solche eine Entwicklung der Ereignisse nicht ausgeschlossen hat. Die Europäische Union kann bereits Ende August neue Sanktionen in Bezug auf Weißrussland verhängen, erfuhr Reuters aus Quellen. 

Die Proteste in Weißrussland dauern an. „Eine Welle von Meetings in Unternehmen hat begonnen“, meldete die russische Nachrichtenagentur Interfax. Erwähnt werden größte Betriebe, Bauunternehmen, aber auch Kultureinrichtungen. 

Laut Prognosen von S&P könne sich in diesem Jahr das weißrussische BIP um 4 Prozent verringern. 

Russland hat lange Zeit die Wirtschaft des verbündeten Weißrusslands subventioniert. Jetzt aber können sich scheinbar diese Investitionen als nutzlose erweisen. Dies erfolgt im Falle eines völligen Abbruchs der Beziehungen, wenn es Moskau vorzieht, vollkommen von den sich in Weißrussland abspielenden Ereignissen zu abstrahieren. 

Doch finanzielle Verluste wird es auch in dem Falle geben, wenn Moskau offen und offiziell Minsk unterstützt – bis dahin, dass es mit ihm die Last der westlichen Sanktionen teilt. 

Die Frage besteht darin, konkret auf welche Verluste ist Moskau zu gehen bereit. Und gerade für welche Schulden des Verbündeten ist Moskau bereit, die Verantwortung zu übernehmen. 

Sowohl im ersten als auch im zweiten Fall muss Moskau allem nach zu urteilen über eine rechtzeitige Tilgung der Schulden gegenüber der Russischen Föderation durch Minsk vergessen. Es sei daran erinnert, dass es da jetzt insgesamt um etwa 7,5 Milliarden US-Dollar geht. Dies sind rund 40 Prozent der gesamten staatlichen Auslandsverschuldung von Weißrussland, die entsprechend den Ergebnissen des ersten Halbjahres des Jahres 2020 18 Milliarden US-Dollar ausmachen. 

Laut Angaben des weißrussischen Finanzministeriums beläuft sich die staatliche Auslandsverschuldung auf fast 29 Prozent des BIP des Landes. Das heißt, auf die Schulden gegenüber Russland entfallen rund 12 Prozent des BIP von Weißrussland. 

Wie Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko mitteilte, zahle die Republik an Russland entsprechend den früher aufgenommenen Krediten ca. eine Milliarde US-Dollar im Jahr. Allem nach zu urteilen können unter den neuen Umständen die weiteren Zahlungen hinsichtlich der Schulden gegenüber Russland stark in Frage gestellt werden. 

Lukaschenko hatte im Februar dieses Jahres präzisiert: „Wir bitten bei ihnen (bei Russland – Anmerkung der Redaktion) schon um keinerlei Geld. Wir haben auch bereits die Kredite von ihnen im vergangenen Jahr getilgt und uns nicht mit Krediten übernommen“. Es sei daran erinnert, dass sich Minsk im Frühjahr vergangenen Jahres an Moskau um einen Kredit zwecks Refinanzierung der Schulden in einer Höhe von 600 Millionen US-Dollar gewandt hatte. Und im Herbst hatte sich der Chef des Finanzministeriums Anton Siluanow recht kühl über die Perspektiven dieser Anleihe geäußert, wobei er zu verstehen gab, dass es auch keinerlei Kredit geben könne und er diese Tranche mit der Perspektive für eine weitere Integration Russlands und Weißrusslands verknüpfte.  

Seinerseits hatte Weißrusslands Finanzministerium Ende letzten Jahres feierlich bekanntgegeben: „Erstmals in der souveränen Geschichte Weißrusslands ist ein ungebundener 5-Jahres-Kredit der China Development Bank über eine Summe von 3,5 Milliarden Yuan (umgerechnet fast 500 Millionen US-Dollar) gewonnen worden“. China ist, was angemerkt sei, Weißrusslands zweitwichtigster Gläubiger im Ausland. Also denn, die Erschütterungen der weißrussischen Wirtschaft haben derzeit solch ein Ausmaß angenommen, dass es vorerst recht problematisch ist, mit einer Rückzahlung der russischen Schulden zu rechnen. 

Und nun kommen dazu zwei weitere, hypothetisch mögliche Szenarios hinzu. Das erste Szenario: Moskau unterstützt offiziell und offen Minsk, das seinerseits allem Anschein nach unter Sanktionen oder andere Restriktionen des Westens fallen wird. Damit wird Moskau direkt oder indirekt auch die Sanktionsbürde von Minsk auf sich nehmen. 

„Es ist offensichtlich, dass sich jetzt sehr ernste Risiken hinsichtlich einer Einschränkung des Zugangs zu Leihkapital ergeben. Um die Devisenschulden zurückzuzahlen, muss Weißrussland Anleihen aufnehmen. Und wenn Sanktionen folgen, wird sich der Kreis der möglichen Gläubiger auf ein Minimum verkleinern“, erläuterte Alexej Antonow, Chefanalytiker der Firma „Alor Broker“. Weißrussland hat Anleihen nicht nur von Russland bekommen. Und theoretisch kann man erwarten, dass Minsk eine zusätzliche Finanzspritze für die Rückzahlung der Schulden an andere Gläubiger braucht, unter denen unter anderem China ist. Und dies, woran erinnert sei, sind insgesamt rund 10 Milliarden US-Dollar. Mit wem und zu wessen Gunsten wird in diesem Fall der Haupthandel ausgetragen – mit Moskau, das sich entschlossen hat, Minsk zu helfen? Mit Peking, das als erster Lukaschenko zum Wahlsieg gratulierte?

Das zweite Szenario: Moskau abstrahiert vollkommen von den sich in Minsk abspielenden Ereignissen, wobei es die Situation dem Selbstlauf überlässt. Wie die „NG“ bereits geschrieben hat, würden laut den vorsichtigsten Berechnungen die Verluste Russlands mit einem Schlag im Falle eines Abbruchs der Beziehungen mit Weißrussland über 20 Milliarden US-Dollar ausmachen. Diese Beurteilung des Verlustes berücksichtigt die wahrscheinliche Weigerung von Minsk, die Schulden zu tilgen, darunter die für die Errichtung des Weißrussischen AKW, den Verlust der militärischen Infrastruktur in Weißrussland sowie die Probleme mit dem Transit russischer Exportwaren (siehe — https://ngdeutschland.de/trennung-mit-weisrussland-wird-russland-uber-20-milliarden-dollar-kosten/). Es macht aber auch Sinn, daran zu erinnern, dass Russland früher, vor der Abkühlung der Beziehungen alljährlich „die weißrussische Wirtschaft mit 9 Milliarden US-Dollar laut Expertenschätzungen subventionierte. „Von 2011 bis 2015 wurden alljährlich zollfrei 18 bis 23 Millionen Tonnen Erdöl an unsere weißrussischen Partner geliefert. Und insgesamt hat der russische Haushalt im Zeitraum von 2011 bis einschließlich 2015 im Zusammenhang damit 22,3 Milliarden US-Dollar weniger erhalten. All dies ist nichts anderes als eine direkte und indirekte Unterstützung unseres weißrussischen Partners im Unionsstaat“, teilte der Pressedienst des Kremls mit. Dazu kam eine zusätzliche finanzielle Unterstützung unterschiedlicher Art. In den Medien wurde unter anderem berichtet, dass beispielsweise laut Schätzungen des Internationalen Währungsfonds die gesamte Unterstützung für Weißrusslands Wirtschaft durch Moskau damals fast 9 bis 10 Milliarden US-Dollar im Jahr ausgemacht hätte. Wenn man einen vollkommenen Abbruch der Beziehungen von Moskau und Minsk annimmt, dem am ehesten ein Default der Wirtschaft der Republik folgen wird, so wird man dann all diese Investitionen als eine sinnlose Ausgabe von Geldern – als ein Aufblasen der weißrussischen Finanzblase – betrachten können.

„Gegenwärtig realisieren unsere Länder viele gemeinsame Vorhaben auf dem Gebiet der geologischen Erkundungsarbeiten und Nutzung von Natur und Bodenschätzen, der Medizin, der Kosmos-Branche, Energiewirtschaft, Landwirtschaft, Industrie und im Wissenschaftsbereich“, zählte Diana Stepanowa, Dozentin an der Russischen G.-V.-Plechanow-Wirtschaftsuniversität, gegenüber der „NG“ auf. 

Nach Aussagen der Expertin „wird sich aufgrund der möglichen Sanktionen und des Abreißens einiger Wirtschaftsbande eine zusätzliche finanzielle Belastung für Russland ergeben“. „Weißrussland kann aller Wahrscheinlichkeit nach anfangen, höhere Zahlungen für den Transit russischer Waren zu erheben. Möglich ist aber auch eine Unterbrechung des Transits für einige Waren Russlands aufgrund politischer Motive. Weiter sind ein Herausdrängen russischer Eigner aus weißrussischen Unternehmen und andere wirtschaftliche Maßnahmen zur Demontage des Unionsstaates möglich“, vermutete D. Stepanowa. „All dies haben wir schon früher auf dem Territorium der Ukraine beobachtet.“ Gleichfalls könne man die Weigerung von Minsk, die finanziellen Verbindlichkeiten gegenüber Russland zu erfüllen, bestätigte die Expertin. „Russland riskiert, die faktisch einzige verbliebene Onshore-Transportmagistrale mit Europa zu verlieren“, fügte Stepanowa hinzu. Ihren Schätzungen zufolge würden Russlands Verluste erheblich höher ausfallen, natürlich im Falle eines Abbruchs der Beziehungen von Moskau und Minsk, als im Falle deren Bewahrung. 

„Das offizielle Moskau umgeht sehr akkurat und vorsichtig die Themen, die mit der weißrussischen Politik zusammenhängen“, unterstrich Anna Bodrowa, Senior-Analytikerin des Zentrums „Alpari“. Vorerst sind keine sichtbaren Folgen der politischen Probleme Weißrusslands für Russland zu bemerken. Sie können sich ergeben, wenn der Kreml seine Position diesbezüglich artikuliert.“ Nach Meinung von Natalia Miltschakowa aus dem Zentrum „Alpari“ sei Russland nicht bereit, weder die finanziellen Aufwendungen von Minsk noch dessen wahrscheinlichen Ausgaben, die erforderlich sind, um die auch ohne hin durch die Coronavirus-Pandemie in Mitleidenschaft gezogene Wirtschaft zu aktivieren, zu übernehmen. 

Es gibt freilich auch andere Bewertungen unter den Experten. „Die Ereignisse in Weißrussland an sich werden keinen ernsten Einfluss auf die russische Wirtschaft angesichts der geringen Größe der weißrussischen Wirtschaft im Vergleich zur russischen ausüben“, meint so Sergej Khestanow, Dozent an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst. Er räumte aber ein, dass „sich theoretisch auch der Sanktionsdruck auf Russland verstärken kann. Dies wird jedoch vor allem vom Ausgang des politischen Kampfs in den USA abhängen“.