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Mit Putin werden Sie nichts machen können


Die am 24. Februar begonnene militärische Sonderoperation hat unser tatsächliches Leben real verändert oder wirklich unser reales Leben geändert. Die Nuancen der Formulierungen haben Bedeutung – in Abhängigkeit vom Wunsch, auf etwas einen besonderen Akzent zu setzen. Wir werden jedoch keinen solchen Akzent setzen. Für uns ist es wichtig, das Entstehen einer anderen Realität in den vergangenen acht Monaten zu unterstreichen. Diese neue Realität verändert so rasant ihr Aussehen und prägt sich aus, dass es unmöglich ist, eine ihr entsprechende neue Normalität zu fixieren. Denn als Normalität wird das bezeichnet, dass über Wesenszüge einer Bestimmtheit und einer längeren Stabilität verfügt.

Doch von derartigen gibt es wenig. Die Teilmobilmachung, die Zerstörung von Objekten der kritischen Infrastruktur in der Ukraine durch einen Beschuss aus Raketenwerfern, der Sprengstoffanschlag auf der Krimbrücke, das Gerede von einem nuklearen Krieg, die Massenflucht junger Menschen im Einberufungsalter und eine Viertel Million im letzten Monat einberufener Reservisten verändern prinzipiell das Leben „hier und jetzt“, wobei sie es zu einem qualitativ anderen im Vergleich zum Leben „hier, aber damals“ machen.

Die Spaltung in vielen Schichten der Gesellschaft ist eine ausdrucksstarke und offensichtliche, obgleich auch eine asymmetrische. Propaganda verdrängt das Informieren. Die sich gegenüberstehenden Gruppierungen sind in den gegenseitigen Vorwürfen und Entlarvungen sehr weit gegangen, wobei man sich die Rhetorik eines gegenseitigen Niedermachens von Verrätern, Abtrünnigen, Komplizen usw. angeeignet hat. Grundlagen für eine Aussöhnung sind nicht auszumachen – nicht nur heute, sondern auch in Dezennien.

Es ändern sich die Lehrprogramme und Texte von Lehrbüchern. Das politische Leben im Land ist bis auf die Dichte von Zigarettenrauch ausgedünnt worden. Und die Trennungslinien der Herrschenden sind praktisch unbemerkbar geworden, wie auf einer Konturen-Landkarten. Mehr noch, auch schon innerhalb der legislativen Gewalt sind Appelle zu vernehmen, die Wahlen zu canceln. Das Motiv ist simpel: Wird die Gesellschaft unsere Meinungsverschiedenheiten verstehen, wird sie unsere Differenzen in Zeiten der Vereinigung rund um die Herrschenden akzeptieren, wird dies nicht zu einem öffentlichen Beleg unserer inhaltlichen Nutzlosigkeit, Ambitioniertheit und unseres Egoismus?

Die Gerichtsgewalt demonstriert ebenfalls eine Verwandtschaft und einen gemeinsamen Elan mit der exekutiven Gewalt bei der Implementierung von Akten, die die Rechte auf eine Meinungsfreiheit und eine Freiheit von Überlegungen in der Epoche der militärischen Sonderoperation einschränken. Es ist so weit gegangen, dass machttreue Abgeordnete, Propagandisten, Militärkorrespondenten und Generäle sich auf einmal nach dem Zurückziehen aus dem ukrainischen Verwaltungsgebiet Charkow die Frage stellten: Ist es nicht an der Zeit, die Wahrheit zu sagen? Anfangs hatte man beschlossen, dass man als Wahrheit nur das ansehen könne, was das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation zum Besten gibt. Und alles, was ihm widerspricht, seien Fakes. Mit einer strafrechtlichen Ahndung. Und danach fing man an, die Wahrheit zu fordern, womit auf den Mangel dieser in offiziellen Quellen hingewiesen wurde. Aufgetaucht ist auch ein neues „Gesicht der Wahrheit“, das Gesicht von Armeegeneral Sergej Surowikin, der über mögliche unpopuläre Entscheidungen informierte. Alle atmeten erleichtert auf, nachdem sie sich mit einem Atemzug an Wahrheit befriedigt hatten. Dennoch wurde keine zusätzliche Konkretheit hinsichtlich der Ziele der militärischen Sonderoperation, der Termine für ihren Abschluss und visuellen Sieges-Symbole vermittelt. Die „Verteidigung des Volkes des Donbass“, die Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine als Ausgangsziele der militärischen Sonderoperation sind offiziell nicht aufgehoben worden. Mehr noch, hochrangige Offizielle sprechen hinsichtlich der militärischen Sonderoperation wie entsprechend einer einzigen Schablone: Ich hege keinen Zweifel daran, dass alle Ziele der Operation, die den russischen Streitkräften gestellt wurden, unbedingt erreicht werden. Ja, derart ist das widerspruchsfreie Niveau an Beständigkeit, das auf paradoxe Weise nichts aufhellt. Dies kann man ebenfalls zur neuen Realität rechnen.

Allem nach zu urteilen, sind die Beziehungen mit dem Westen unters Messer gekommen. Doch die Suche nach Freunden, Verbündeten und Märkten in Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ist bisher zu keinem Ersatz für den Westen geworden. Und es ist keine Tatsache, dass sie dies wird. Der Grund ist ein einfacher. Die Entwicklungsländer stecken in Schulden und hängen finanziell in ihrem Alltagsleben zu sehr vom Westen und dessen Schlüsselinstituten – der Weltbank und dem IWF – ab. Argentinien führt schwere Verhandlungen über die Bereitstellung von 40 Milliarden Dollar für das Land. Gebraucht werden aber mindestens 52 Milliarden. Indien schließt mit den USA einen Vertrag über die gemeinsame Herstellung von Mikrochips ab, wobei letztere aufmerksam aufpassen, dass keinerlei Chips, die Russland für seine kritisch wichtigen Wirtschaftssektoren und Verteidigungskomplex benötigt, nicht dorthin gelangen. Von nirgendwo her und niemals. Sanktionen, eine Blockade, strafrechtliche Verfolgungen, diplomatischer Druck in Bezug auf Ungehorsame – Instrumente für eine Zügelung und Nötigung in den internationalen Beziehungen – sind auch eine Realität.

Zwei wirtschaftliche Modernisierungen in der Geschichte Russlands – unter Peter I. und Stalin – erfolgten mit einer technologischen Unterstützung des Westens. Über 20.000 ausländische Ingenieure und Facharbeiter, Ford, Siemens, Junkers, Albert Kahn und General Electric hatten am Aufbau der Flaggschiffe der ersten 5-Jahr-Pläne der Sowjetunion – der Traktorenwerke von Tscheljabinsk und Stalingrad, der Metallurgie-Kombinate von Magnitogorsk und Nowokusnezk, der Automobilwerke GAZ und AZLK, des Kasaner Flugzeugbaubetriebes und vieler anderer – teilgenommen. Jetzt aber wird man augenscheinlich mit eigenen Kräften über die Runden kommen müssen.

Und was ist mit Putin?

Er verliert nicht an Geist und der Überzeugtheit, dass er alles richtig mache. Und er bedauert nichts. Seine Gespräche mit Journalisten aus dem Kreml-Pool belegen dies eindeutig. Das bürokratische Umfeld, von Putin persönlich aus eigenen Vorstellungen über das Wunderbare etabliert, unterstützt ihn. Ohne Illusionen. Kritik kommt natürlich vor, mitunter eine scharfe, aber an anderen Mitgliedern des Teams und nie an Putin. Das gleiche gilt auch für das russische Volk. Für seine Mehrheit. Es ist Putin für den Schutz der Russen dankbar. Denn über die Russen im Donbass spricht keiner in der Welt. Putin spricht aber über sie. Und vor acht Monaten ist er von Worten zu „Taten“ übergegangen. Dieses Narrativ für die Mehrheit von Russlands Bürgern darf man heute nicht zerstören und ins Schwanken bringen. Was die Oligarchen, die unter Sanktionen stehen, angeht, so sieht das Rechnen des Westens mit deren Aufruhr, nachdem er, der Westen, ihnen Paläste, Jachten, Konten und Visa weggenommen hat, idiotisch aus. Gelinde gesagt. Von einem Menschen Vertrauen gegenüber seiner Politik und seinen Idealen (des Westens – Anmerkung der Redaktion), nachdem gerade er dessen Reichtümer und dessen Status weggenommen hat, zu erwarten, ist unsinnig.

Somit kann man heute Putin weder von oben noch von unten oder von außen her verdrängen. Er kann sich nur selbst verdrängen. Dies ist die Realität des autoritären populären Leaders einer Nuklearmacht. Mit der muss man leben.

Andernfalls werden die falschen Erwartungen, die „auf glaubwürdigen Informationen beruhen“, dass Putin bald in eines der befreundeten Länder in der Art von China ausfliegen und sich dort für ständig niederlassen werde, die „Analytiker“ und ihre leidende Gemeinde immer weiter vom Begreifen dessen wegführen, was sich tatsächlich abspielt, warum es geschieht und wie lange es andauern wird. Und was getan werden muss, um zu überleben, um das Leben und die Gesundheit zu bewahren. Was (dieses Begreifen – Anmerkung der Redaktion) sich in einer anderen historischen Etappe der russischen Realität eignen kann.