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Mit Zuckerbrot und Peitsche verdammt man Russlands Rentner zur Armut


In den anderthalb Jahren COVID-19-Pandemie hat unter den Bürgern Russlands, die ihre Finanzsituation als schlecht und sehr schlecht ansehen, der Anteil derjenigen um fast 30 Prozent zugenommen, die älter als 60 Jahre sind. In diese Gruppe ist ein Teil der Rentner geraten, vor allem aus den Reihen der nichtberufstätigen. Aufgrund der hohen Inflationsrate reichen die Renten nicht mehr aus, um die Bedürfnisse zu befriedigen. Dies teilte die Stiftung „Öffentliche Meinung“ (SÖM) mit. Während die jüngeren Bürger Russlands noch irgendwie mit den Schwierigkeiten fertig werden, ist die Lage der betagten, besonders derjenigen, die schon nicht mehr arbeiten können, noch anfälliger geworden. Folglich sehen die Argumente der Regierung, die mit Zuckerbrot und Peitsche versucht, die älteren Bürger vom Arbeitsmarkt zu vertreiben, indem den berufstägigen Rentnern die Indexierung der Renten erneut versagt wurde, während ihnen gleichzeitig alles Gute in der Zukunft versprochen wird, nicht überzeugend aus.

In der Pandemiezeit ist die Lage der betagten russischen Bürger angreifbarer geworden, folgt aus Angaben einer Meinungserhebung der Stiftung „Öffentliche Meinung“. „Im Verlauf aller Pandemie-Monate hatten wir Bürger Russlands gebeten, ihre materielle Lage zu beurteilen. Als eine schlechte und sogar schlechte hatten 22 bis 29 Prozent der Befragten ihre materielle Lage bezeichnet“, teilte die SÖM in der Übersicht „Die Pandemie: finanzielle Folgen für Menschen mit einer unterschiedlichen materiellen Lage“ mit.

Diejenigen, die ihre finanzielle Situation für eine schlechte oder sehr schlechte halten rechnen die SÖM-Experten zur Kategorie der materiell wenig abgesicherten Bürger. Und gerade sie haben unter der Pandemie sehr stark gelitten. „Für die materiell schlecht gestellten Bürger, unter denen erheblich mehr Vertreter der sozial schwachen Gruppen als im Durchschnitt gemäß der repräsentativen Auswahl sind, ist es schwieriger, irgendwelche Quellen für zusätzliche Einkommen aufgrund ihrer geringen Möglichkeiten zu finden“, erläuterten die Forscher. Unter ihnen sind mehr Menschen als im Durchschnitt der Bevölkerung im Alter von 46 bis 60 Jahren und Rentnern, dafür aber spürbar weniger junge Menschen. Und während sich insgesamt die Größe der Gruppe der materiell Schwachen im Verlauf der Pandemiemonate nur unerheblich veränderte, so haben sich innerhalb dieser Gruppe wesentliche Verschiebungen vollzogen.

„Im Vergleich zum Beginn der Pandemie ist die Zahl der Arbeitslosen in ihr zurückgegangen (ein Teil von ihnen hat Arbeit gefunden, und ihre materielle Lage hat sich verbessert), aber auch die Zahl der Berufstätigen (ihre Arbeitseinkommen sind im Vergleich zu den ersten Pandemiemonaten angestiegen, als viele Beschäftigte im privaten Sektor überhaupt ohne Arbeitseinkommen geblieben waren). Dementsprechend ist in dieser Gruppe der Anteil der Menschen über 60 Jahre größer geworden“, teilte man in der SÖM mit. In diese Gruppe ist ein Teil der Rentner gekommen, für die unter den Bedingungen der sich verstärkenden Inflation die Renten nicht mehr ausreichen, um alle Bedürfnisse bzw. Ausgaben zu abzusichern.

Im Ergebnis dessen hat sich unter den sozial Schwachen der Anteil der Personen über 60 Jahre vergrößert. Während sie im Zeitraum April-September des Jahres 2020 21 Prozent ausmachten, waren es im Zeitraum Oktober 2020 – September 2021 bereits 27 Prozent. Damit ist dieser Anteil um fast 30 Prozent gewachsen. Wie die SÖM-Projektdirektorin Ludmilla Presnjakowa der „NG“ erläuterte, habe sich der Anteil der betagten Bürger in der Gruppe der sozial Schwachen hauptsächlich durch eine Verringerung des Anteils der Menschen im Alter von 31 bis 45 Jahren – von 33 bis auf 28 Prozent – vergrößert.

Aber nicht nur. Man kann von Prozessen sprechen, die sich gegenseitig überschneiden. Arbeitslose und relativ junge Bürger haben allmählich die Gruppe der sozial Schwachen verlassen. Dies führte zu einer Zunahme des „Gewichts“ der Betagten in ihr. Dabei wurden aber auch unter den Betagten an sich immer mehr Bürger mit materiellen Schwierigkeiten konfrontiert. Daher wurde deren Zustrom in die Gruppe der sozial Schwachen beobachtet.

Wenn man einmal die sozial Schwachen entsprechend ihren Beschäftigungsarten klassifiziert, so entfallen innerhalb dieser Gruppe auf die Rentner, die nicht berufstätig sind, 31 Prozent, während des im ersten halben Jahr der Pandemie 27 Prozent gewesen waren. „Eine immer größere Anzahl von Rentnern wird mit der Inflation nicht fertig. Sie können den Preisanstieg nicht wettmachen, besonders wenn der Mensch in solch einem Alter ist, in dem er schon nicht mehr berufstätig sein kann“, erläuterte Presnjakowa.

Laut Angaben des russischen Statistikamtes Rosstat ist im Verlauf beinahe dieses gesamten Jahres die reale Höhe der festgelegten Renten unter Berücksichtigung der Inflationsrate im Vergleich zum analogen Zeitraum des Vorjahres zurückgegangen. Früher wurde ein solcher negativer Trend in der Krise der Jahre 2015-2016 beobachtet. Beispielsweise lagen die realen Renten in der Russischen Föderation im September mit 1,8 Prozent unter dem Wert des analogen Zeitraumes des Vorjahres. Und dies sind Angaben von Rosstat „ohne Berücksichtigung einmaligen Zahlungen in einer Höhe von 10.000 Rubel, die entsprechend einem Erlass des Präsidenten der Russischen Föderation vom 24. August 2021 festgelegt worden waren“ (um so Russlands Rentner zur Teilnahme an den Duma-Wahlen vom September zu stimulieren – Anmerkung der Redaktion).

Wie die „NG“ bereits geschrieben hatte, erlaubt die einmalige, vom Präsidenten angeordneten September-Beihilfe für alle Rentner ohne deren Trennung nach berufstätigen und nichtberufstätigen, kurzfristig die Statistik aufzubessern, ändert aber nicht grundlegend die materielle Lage der betagten Bürger.

Die Staatsduma hat am Dienstag in zweiter Lesung den Gesetzentwurf über den Haushalt des Rentenfonds Russlands für die Jahre 2022-2024 verabschiedet. Für das Amt von Andrej Kigim wird eine Anhebung der Altersrenten um 5,6 Prozent im nächsten Jahr vorgesehen, Aber nur für die nichtberufstätigen Rentner. Denn es sei nicht ganz gerecht, wie Regierungsbeamte aus dem Finanzministerium erläuterten, die Renten für die arbeitenden Rentner zu indexieren.

Im Finanzministerium hat man freilich nicht ins Kalkül gezogen, dass ein Teil der Rentner einfach gezwungen ist, gerade deshalb zu arbeiten, weil ohne den Lohn bzw. das Gehalt die geringe Rente sie sofort in die Armut treibt. Und obgleich in der Statistik keine armen Betagten auftauchen, da ihnen Beihilfen bis zum Erreichen des Existenzminimums gezahlt werden, wäre es wohl angebrachter, eben dieses Existenzminimum als ein Minimum zum Überleben zu bezeichnen. In diesem Jahr beträgt es für die Rentner insgesamt im Land etwas mehr als 10.000 Rubel im Monat (umgerechnet ca. 119 Euro).

Mehr noch, die Pläne des russischen Rentenfonds, den nichtarbeitenden Rentner im kommenden Jahr die Renten um fast sechs Prozent bei einer Inflationsrate, die bereits jetzt schon auf das Jahr hochgerechnet die 8-Prozent-Marke überschritten hat, anzuheben, verdammt die betagten Bürger Russlands faktisch zu einem realen Verlust von Einkommen. Und dies wird völlig offiziell getan. Und gerade in Bezug auf die Bürger, in deren Hinsicht man von Gerechtigkeit und der Notwendigkeit einer Unterstützung spricht.

Nicht ohne Grund hat solch eine erschreckende Situation Präsident Wladimir Putin genötigt, daran zu erinnern, dass „das Tempo der Rentenindexierung über der faktischen Inflationsrate liegen muss“. „Unter Berücksichtigung des signifikanten Anstiegs der Inflation wäre es heute falsch, von diesem Prinzip abzugehen“, sagte das Staatsoberhaupt Ende letzter Woche.

Natalia Miltschakowa, stellvertretende Leiterin des Zentrums „Alpari“, sagte der „NG“: „Entsprechend unserer Prognose kann hinsichtlich der Ergebnisse des Jahres 2021 die durchschnittliche Höhe der Altersrente real um zwölf Prozent im Vergleich zum Wert für das Jahr 2020 – ausgehend von der durchschnittlichen nominellen Rente in Russland von etwa 17.500 Rubel im Jahr 2021 – zurückgehen. Und die von uns prognostizierte Verbraucherinflationsrate wird entsprechend den Ergebnissen des Jahres 2021 9,8 Prozent ausmachen“. „Im Jahr 2022 kann sich laut unserer Prognose die Verbraucherinflation bi auf 6 bis 7 Prozent verlangsamen. Daher kann sich die reale Rente im nächsten Jahr nicht so erheblich verringern wie in diesem“, fügte die Expertin hinzu. Wenn man aber berücksichtige, dass die von der Bevölkerung beobachtete Inflation „gewöhnlich die Werte von Rosstat um das 2- bis 2,5fache übersteigt“, so werde dies für die Rentner wahrscheinlich ebenfalls ein schmerzhafter Schlag sein.