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Möglicher Streik spaltet Lukaschenkos Opponenten


Eine Vereinigung weißrussischer Arbeiter hat den Beginn eines gesamtnationalen Streiks bekanntgegeben. Eine andere hat diese Idee nicht unterstützt. Experten halten gleichfalls den Aufruf für einen nicht zeitgemäßen und gar für einen schädlichen. Analytiker zweifeln vom Prinzip her an einer „Hegemonie des Proletariats“.

Den Aufruf, am 1. November nicht zur Arbeit zu gehen, veröffentlichte die Weißrussische Arbeiter-Vereinigung (WAV). „So kann es nicht weiter gehen. Es ist für die Arbeiter an der Zeit, die Zukunft in ihre Hände zu nehmen. Wir haben kein Recht, es weiter in die Länge zu ziehen, während unsere Verwandten, Freunde und Mitstreiter in Gefängnissen sitzen, während unsere Mütter und Schwestern, Brüder und Väter in überfüllten Krankenhäusern aufgrund des Coronavirus ums Leben kommen“, heißt es in einer WAV-Erklärung. Gleichfalls wird mitgeteilt, dass der Streik so lange andauern werde, solang die zehn Forderungen der Streikenden nicht erfüllt werden würden.

Die Forderungen waren am 30. August formuliert worden, als die WAV einen Vorstreik-Zustand ausgerufen hatte – Beendigung der Repressalien, Beginn von Verhandlungen der Herrschenden und demokratischen Kräfte über Neuwahlen, Wiedereinstellung der aufgrund politischer Motive Entlassenen und Gewährung der Möglichkeit für jene, die das Land aufgrund von Verfolgungen verlassen haben, zurückzukehren. Außerdem verlangt die Weißrussische Arbeiter-Vereinigung, den Strom der illegalen Migranten in die EU zu stoppen, den Weißrussen die Möglichkeit zu gewähren, sich mit europäischen Impfstoffen vakzinieren zu lassen, die Restriktionen für eine Ausreise aus dem Land aufzuheben sowie zu erlauben, unabhängige Gewerkschaften zu bilden und das Kleinunternehmertum zu entwickeln.

„Wir hören auf, das Regime zu ernähren. Wir hören auf, zur Arbeit zu gehen und bleiben zu Hause. So werden wir unser Land verteidigen sowie Gesetz und Gerechtigkeit in dieses zurückholen. Nur so schützen wir uns und unsere Nächsten vor der Epidemie… Das Regime ist schwach und hilflos wie nie zuvor. Sanktionen machen die Wirtschaft fertig… Aber die Haupthoffnung ruht gerade auf uns. Nur gemeinsam werden wir im Land die Macht dem Volk zurückgeben“, hatte sich WAV-Führer Sergej Dylewskij an die Arbeiter gewandt. Die Initiatoren des Streiks halten den Zeitpunkt für dessen Durchführung aus der Sicht der epidemiologischen Situation für einen guten. Die Offiziellen haben alle Anti-COVID-Restriktionen aufgehoben. Und zu Hause zu sitzen ist jetzt weitaus sicherer als zur Arbeit zu gehen.

Nach einer kurzen Verwirrung hat eine andere Vereinigung weißrussischer Arbeiter – die „Rabotschy Ruch“ („Arbeiterbewegung“), die früher auf für einen Streik plädiert hatte – auf diesen Aufruf reagiert. „Wir unterstützen nicht die Ausrufung eines gesamtnationalen Streiks für den 1. November“, heißt es in einer von der Bewegung veröffentlichten Erklärung. Dort wird behauptet, dass die Ausrufung des Streiks keiner mit ihr abgestimmt habe, dass solch eine Entscheidung nicht zeitgemäß sei und in der gegenwärtigen Situation der Streik kein Massenstreik sein werde. Die unvorbereiteten und haltlosen Erklärungen führen ausschließlich zur Untergrabung des Vertrauens und zu neuen Repressalien, die die Aktivisten vor Ort auslaugen“, meinen die Vertreter der Vereinigung „Rabotschy Ruch“. In seinen Kommentaren für Medien erklärte der Anführer der Bewegung Jurij Rawowoj den Fehlstart mit dem Einfluss der Emigranten vorangegangenen Welle auf Sergej Dylewskij, die die Situation im Land bereits nicht spüren. Und Dylewskij selbst rief er auf, sich zu besinnen und seinen Appell zurückzuziehen. „Wir können einen Streik organisieren, aber nicht jetzt“, erklärte Jurij Rawowoj. Übrigens, Dylewskij selbst hat Weißrussland ebenfalls vor einem Jahr verlassen und befindet sich in Warschau. Allerdings hält sich auch Jurij Rawowoj außerhalb des Landes auf. Genauso wie auch alle übrigen Anführer oder gar Aktivisten der Protestbewegung. Sergej Dylewskij hat bisher nicht auf den Appell reagiert. Und er lehnt es auch ab, Journalisten Kommentare zu geben. Wie aus Meldungen im WAV-Telegram-Kanal folgt, haben die Initiatoren des Streiks keine Pläne, diesen zu canceln.

An seine Möglichkeit glauben jedoch auch weder Experten noch Politiker. Sie erinnern daran, dass im vergangenen Jahr mit einer analogen Initiative zu eben dieser Zeit auch die Anführerin der weißrussischen demokratischen Kräfte Swetlana Tichanowskaja aufgetreten war. Jedoch selbst damals, als die Proteste noch nicht endgültig niedergeschlagen waren, hatte keiner auf diesen Aufruf reagiert. Heutzutage sind die Erfolgschancen noch geringer, meinen Analytiker. Darüber spricht unter anderem der Politologe Valerij Karbalewitsch. „Ich stehe sehr vorsichtig der Perspektive einer Realisierung dieser Idee gegenüber… Heute sehen wir einen bestimmten Rückgang, eine Entpolitisierung und Demobilisierung der Gesellschaft. Dazu kommen die sehr harten Repressalien, die man sich vor einem Jahr nicht vorstellen konnte. In der Zeit wie für einen Streik braucht man eine emotionale Erhitzung und einen emotionalen Aufschwung, gebraucht werden irgendwelche Trigger. Ich sehe heute nichts davon“, sagte der Experte in einem Interview für den weißrussischen Dienst von Radio Liberty. Der an einer entsprechenden Diskussion teilnehmende Berater von Swetlana Tichanowskaja, Alexander Dobrowolskij, erklärte, dass sie über Informationen verfügen würden, wonach eine Vorbereitung zu dem Streik im Land erfolge. Die Mehrheit sei jedoch der Auffassung, dass derzeit nicht die Zeit dafür wäre. „Wir unterstützen die Forderungen der Arbeiter. Wir bewerten aber recht kritisch die Möglichkeiten (des Streiks – „NG“). Wir möchten ihnen gern Erfolg wünschen, ich persönlich habe aber dafür keine besondere Hoffnung“, sagte Dobrowolskij.

„Diese Erklärung sieht meines Erachtens wie ein Abenteuer aus. Sie basiert auf keinem realen Begreifen der Situation im Land,“ erklärte der „NG“ der politische Analytiker Alexander Klaskowskij. Nach seiner Meinung „erwartet die Idee ein Scheitern“. Mehr noch, die Streikaufrufe könnten eine neue Welle von Repressalien auslösen. Und „es wird viele Menschen erwischen, die vielleicht in einer anderen Situation nicht leiden würden“. Außerdem ist der Experte der Auffassung, dass das Setzen auf die Arbeiterklasse vom Prinzip her nicht gerechtfertigt sei. „Wenn man sich an den August des vergangenen Jahres erinnert, an die Hochzeit der Proteste, so ist selbst damals, ungeachtet dessen, dass es in einer Reihe von Großbetrieben Meetings gegeben hatte, dies nicht zu Streiks ausgewachsen. Sogar damals hatte sich die Arbeiterklasse nicht als progressivste und entschlossenste Einheit eben dieser Augustrevolution gezeigt“, erinnerte der Experte. Die Politologen sagen, dass die Zeit der proletarischen Revolution schon längste vergangen sei, dass Belarus in eine postindustrielle Ära gekommen sei, dass die Arbeiterklasse schon kein solcher Hegemon sei, der den Verlauf der gesellschaftlichen Prozesse bestimme. „In der Tat waren während der August-Aktionen des vergangenen Jahres in den ersten Reihen Vertreter der Mitteklasse – Unternehmer, IT-Spezialisten, der gebildetere und fortgeschrittenste Teil der weißrussischen Gesellschaft“, sagte Alexander Klaskowskij.