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Moskau kann Minsk noch zu einem Machttransit nötigen


In Gomel findet in der U-Haftanstalt der Prozess gegen den Blogger Sergej Tichanowskij und seine Mitstreiter, unter denen ein Bürger Russlands ist, statt. Dmitrij Popow erklärte, dass die Heimat ihn im Stich gelassen habe. Daher verzichte er auf die russische Staatsbürgerschaft. Experten stellen Vermutungen über das Kräfteverhältnis in den weißrussisch-russischen Beziehungen an.

Gerichtsprozesse zu den Ergebnissen der Präsidentschaftswahlen des vergangenen Jahres finden in Weißrussland jeden Tag statt. Der Prozess gegen den Blogger Sergej Tichanowskij, dessen Pläne, am Präsidentschaftswahlkampf teilzunehmen, seine Gattin Swetlana realisierte, hat am 24. Juni in Gomel begonnen. Er findet direkt im Untersuchungsgefängnis und hinter verschlossenen Türen statt. Neben Tichanowskij sitzen auf der Anklagebank der Kameramann seines YouTube-Kanals „Ein Land für das Leben“ Artjom Sakow, der Blogger-Kollege aus Minsk Wladimir Zyganowitsch, der Administrator des Telegram-Kanals „Belarus des Gehirns“ Igor Losik, der bekannte weißrussische Politiker Nikolaj Statkjewitsch und der russische Staatsbürger Dmitrij Popow, der die sozialen Netzwerke von „Ein Land für das Leben“ moderierte.

Ungeachtet dessen, dass alle Angeklagten vor Beginn der Massenprotestaktionen festgenommen wurden, wirft man ihnen allen die Organisierung von Massenunruhen vor. Laut Informationen, die in den staatlichen Massenmedien verbreitet worden waren, sei Dmitrij Popow aus Russland nach „Weißrussland“ für ein „Pushen“ von Sergej Tichanowskij entsandt worden. Dies sei vermutlich im Frühjahr des Jahres 2020 geschehen. In Russland habe er sich mit den Projekten „Männerstaat“ und „Scanner“ befasst. Letzteres hatte Polizeibeamten und Mitarbeiter der russischen Garde die Anonymität genommen. Festgenommen hat man ihn am 4. Juni 2020. Ihm drohen zwölf Jahre Haft.

Dass Dmitrij Popow Russlands Präsidenten Wladimir Putin bitte, ihm die russische Staatsbürgerschaft abzuerkennen, teilte seine Schwester, der er darüber geschrieben hatte, Journalisten mit.

Bisher hätte er Russland für seine Heimat gehalten und über ein Jahr gewartet, dass „Russland seine nicht im Stich lässt, wie Putin mehrfach sagte“. Es hätte sich aber herausgestellt, dass „dem nicht ganz so ist“, zitieren Medien den Inhaftierten, der in Weißrussland als ein politischer Gefangener anerkannt worden ist. Nach seinen Informationen sei ein russischer Konsul nur einmal zu ihm gekommen. Und alles, was er sagen konnte, war: „Dima, nun Sie verstehen doch alles“. Gleichfalls hätte er sich über Folterungen beklagt, und das Verhalten des russischen Staates in Bezug auf seine Bürger bezeichnete er als ein „zynisches“.

Dmitrij Popow ist nicht der einzige Bürger Russlands, der gegenwärtig entsprechend politisch motivierten Paragrafen in einem weißrussischen Gefängnis sitzt. Laut Informationen des weißrussischen Menschenrechtszentrums „Wesna“ sind dies außer ihm noch weitere vier Personen: noch ein Aktivist von „Ein Land für das Leben“, Andrej Nowikow, der 20jährige Jegor Dudnikow, der Teilnehmer der Brester Protestreigen Danila Tschemodanow und die zusammen mit dem Blogger Roman Protasewitsch festgenommene Sophia Sapega nach der erzwungene Minsker Landung eines Ryanair-Jets vom 23. Mai. Allerdings ist sie vorerst entlassen und unter Hausarrest gestellt worden.

Die größte Aufmerksamkeit seitens der Heimat erfährt Sophia Sapega. Auf allerhöchster Ebene wurde mehrfach wiederholt, dass man in Russland ihr Schicksal verfolgen und eine Erleichterung ihres Schicksals anstreben werde. Nach Meinung von Experten sei das, dass man ihr zum gegenwärtigen Zeitpunkt die bisherige Sicherungsmaßnahme in einen Hausarrest umwandelte, ebenfalls eine Folge des Drucks von Russland. „Um Sophia Sapega hatte sich ein großer Medienskandal ergeben. Daher sind die russischen Offiziellen gezwungen gewesen, darauf zu reagieren. Hinsichtlich der anderen russischen Bürger ist dies für sie nicht sehr interessant, denn dies sind politische Gegner Lukaschenkos. Und dies bedeutet, dass sie wahrscheinlich auch politische Gegner der russischen Herrschenden sind. Und mit ihren politischen Gegnern rechnen die russischen Offiziellen genauso wie auch die weißrussischen ab“, kommentierte der Politologe Valerij Karbalewitsch die Situation für die „NG“.

Oft sind giftige Kommentare hinsichtlich des „Falls der Belgazprombank“ zu lesen. Moskau habe sich nicht nur nicht für deren langjährigen Leiter Viktor Babariko, sondern auch für die Bank an sich stark gemacht, die die weißrussischen Offiziellen zuerst „zerschlugen“ und dann ihre Führung einsetzten. Nach Meinung von Valerij Karbalewitsch sei dies gleichfalls mit der Ähnlichkeit des Charakters der politischen Herrschenden in den Unionsstaaten zu erklären. „Die russischen Offiziellen rechnen mit ihren politischen Opponenten ganz genauso ab. Daher ist es für Russland schwierig, sich für die politischen Gefangenen in Belarus zu engagieren, während in Russland ähnliche Prozesse erfolgen. Lukaschenko könnte durchaus berechtigt öffentlich darauf mit dem Finger zeigen“, sagte Valerij Karbalewitsch der „NG“. „Überdies ist Babariko ja lediglich ein Angestellter, den ein russisches Unternehmen eingestellt hat. Und zum Zeitpunkt der Festnahme war er bereits entlassen gewesen“, fügte der Experte hinzu.

Experten konstatieren, dass gegenwärtig wie allerdings auch stets die weißrussisch-russischen Beziehungen komplizierte bleiben würden, und äußern dabei unterschiedliche Standpunkte hinsichtlich dessen, wessen Position zum jetzigen Zeitpunkt die stärkere sei. Es ist offensichtlich, dass im Sommer und Herbst Alexander Lukaschenko vor dem Hintergrund der Massenproteste bereit war, Russland alles zu versprechen und mehr noch: sich auf irgendwelche kleine Zugeständnisse einzulassen. Nach der Niederschlagung der Proteste hat Alexander Lukaschenko jedoch beschlossen, dass man das Zugesagte nicht erfüllen könne. (Experten behaupteten, dass er der russischen Führung einen Machttransit und neue Wahlen ohne ihn versprochen hätte.) Am Vorabend des Sotschi-Besuchs von Alexander Lukaschenko am 22. Februar hatte der Politologe Valerij Karbalewitsch in einem Kommentar für die „NG“ die Vermutung bekundet, dass das weißrussische Oberhaupt dort Wladimir Putin davon überzeugen werde, die September-Vereinbarungen von Sotschi zu revidieren, da er mit der Situation fertig geworden sei und es für einen Machttransit bereits keinerlei Bedarf gebe. Überdies hatten zu diesem Zeitpunkt auch in Russland selbst Proteste begonnen.

Eine gewisse Zeit lang ist das Thema der Verfassungsreform und des Machttransits in Weißrussland wirklich nicht angesprochen worden. Nach dem Minsk-Besuch des Sekretärs des russischen Sicherheitsrates Nikolaj Patruschew haben jedoch mehrere Experten erneut vermutet, dass das Thema des Machttransits in Weißrussland bei den Gesprächen von Moskau und Minsk beim nächsten Treffen der Staatsoberhäupter, das vermutlich Ende Juli-Anfang August erfolgen wird, wieder aufgegriffen werde. Darüber schrieb unter anderem in einem Telegram-Kanal der weißrussische Politologe Arsenij Siwizkij. „Hinsichtlich ihres Inhalts sind sowohl die jetzigen Gespräche mit Patruschew als auch das sich in Vorbereitung befindliche Treffen mit Putin mit denen identisch, die im August-September 2020 erfolgten und zu den Versuchen eines Durchdrückens des eigenen Szenarios für eine Lösung der weißrussischen politischen Krise in Gestalt der „Sotschi-Vereinbarungen“ durch den Kreml führten“, schreibt er. Nach Meinung von Arsenij Siwizkij habe Moskau von Washington freie Hand für die Realisierung dieses Szenarios erhalten. Und jetzt „beabsichtigt Moskau, die Umsetzung der „Sotschi-Absprachen“ mit neuer Kraft zu fordern, wobei es eine Unterstützung seitens des Westens für sein Szenario entsprechend der Formel für die Lösung der Moldawien-Krise von 2019 hat“.

In der neuen Fassung „sehen die „Sotschi-Vereinbarungen“ eine Freilassung der politischen Gefangenen (einschließlich Viktor Babariko und der Mitglieder seines Teams u. a.), den Start eines breiten inklusiven Dialogs zwischen den weißrussischen Offiziellen und der Opposition und die Organisierung neuer Präsidentschaftswahlen bis Ende des Jahres 2021 ohne eine Teilnahme von Lukaschenko mit der gleichzeitigen Durchführung einer Verfassungsreform mit einem Übergang von Belarus von einer superpräsidialen zu einer parlamentarisch-präsidialen Herrschaftsform im Gegenzug zu persönlichen Garantien und ein politisches Unterkommen in Russland vor“, berichtete Siwizkij. Solch eine Deadline sei im Zusammenhang damit genannt worden, da ab dem neuen Jahr das 4. und des 5. Sanktionspaket (der EU) gelten werden, was „für Belarus eine vollkommene Wirtschaftsblockade und eine Ultratoxizität verheißt“.

Valerij Karbalewitsch schloss solch eine Entwicklung der Ereignisse nicht aus. „Jetzt ist ein neuer wichtiger Faktor aufgetaucht, der Russland zu Sotschi des vergangenen Jahres zurückbringen kann. Dies sind die Wirtschaftssanktionen der EU“, sagte er. Der Experte nannte drei Ursachen, warum dies für Russland wichtig sei. „Erstens schaffen die Sanktionen ernsthafte Probleme für die weißrussische Wirtschaft. Und dies ist bereits auch ein Problem für Russland, denn man muss unterstützen und retten. Ein Wirtschaftskollaps in Belarus gehört nicht zu den Plänen Russlands. Zweitens hat sich die weißrussische politische Krise in eine Krise der regionalen Sicherheit verwandelt. Und ich nehme an, dass die westlichen Spitzenvertreter Wladimir Putin öffentlich kritisieren. Sozusagen: Wenn Sie meinen, dass Belarus in ihrem Einflussbereich ist, so unternehmen Sie etwas! Drittens ist der russische Oligarch Michail Guzerijew unter die Sanktionen geraten. Und dies löst in bestimmtem Maße bei anderen russischen Oligarchen Aufmerksamkeit und Wachsamkeit aus. Für sie können Komplikationen mit irgendwelchen kommerziellen Projekten in Belarus entstehen“. Valerij Karbalewitsch schließt nicht aus, dass all diese Faktoren den Kreml veranlassen könnten, zu den Sotschi-Vereinbarungen von 2020 zurückzukehren. „Dies sind jedoch lediglich Hypothesen. Und es gibt bisher keinerlei Bestätigungen für sie sowohl seitens der belorussischen als auch seitens der russischen offiziellen Vertreter“, fügte der Experte hinzu. Er lenkte gleichfalls das Augenmerk darauf, dass die russischen Unternehmen es abgelehnt hätten, Erdöl für die Raffinerie „Naftan“ zu liefern. „Dies ist sehr merkwürdig. Und dies ist eventuell einer der Mechanismus zur Ausübung von Druck auf Belarus“, meint Valerij Karbalewitsch.