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Moskau reduziert den Maßstab der Sonderoperation in der Ukraine


Moskau hat scheinbar Kurs auf eine Reduzierung der Dimensionen seiner sogenannten militärischen Sonderoperation in der Ukraine genommen. Solch eine Schlussfolgerung kann man nicht nur aus der Erklärung des Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, wonach für die militärische Sonderoperation das „Endziel die Befreiung des Donbass“ sei, sondern auch im Zusammenhang mit dem Verlassen der Insel Smeinyj (deutsch. Schlangeninsel) durch die russischen Truppen ziehen. Das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) akzentuiert in einer neuen Übersicht die Aufmerksamkeit darauf, dass die Truppen der Russischen Föderation „weiterhin die Verteidigungspositionen in der südlichen Richtung verstärken“, und Angriffshandlungen seien nur „um Charkow und im Donbass“ organisiert worden (https://www.understandingwar.org/backgrounder/russian-offensive-campaign-assessment-june-30).

Die russischen Truppen und „Bürgerwehren“ der Donbass-Republiken DVR und LVR vermochten bei Lisitschansk taktische Erfolge zu erreichen, die propagandistische Wirkung durch sie wurde durch mehrere Umstände verdorben. In der russischen Gesellschaft wurde mehrheitlich äußerst negativ die Nachricht darüber aufgenommen, dass am Mittwoch bei einem Austausch von 144 Kriegsgefangenen mit Kiew Moskau 95 Kämpfer in diese Zahl mit aufgenommen hatte, die das Kombinat „Asowstahl“ in Mariupol verteidigt hatten. Und von denen waren 43 ukrainische Nationalisten aus dem Regiment „Asow“. Wie früher im russischen Verteidigungsministerium behauptet wurde, hätten sich 2439 ukrainische Militärs in Gefangenschaft begeben (der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij sprach von 2.500). Viele russische Politiker und Vertreter des öffentlichen Lebens hatten vorgeschlagen, sie zu verurteilen und sogar hinzurichten, wobei man sie als „Nazis“ bezeichnete. Dabei hatte die militärische Aufklärung der Ukraine als erste über den Austausch nach der Formel 144 gegen 144 informiert, während in Russland die offiziellen Strukturen sich einige Zeit in Schweigen hüllten. Lediglich nach einer geraumen Zeit bestätigte das Oberhaupt der von Moskau kontrollierten DVR, Denis Puschilin, die Tatsache. Und erst am folgenden Tag, am 30. Juni, informierte der Sprecher des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation, Generalleutnant Igor Konaschenkow, über den vorgenommenen Gefangenenaustausch. Wobei das Verteidigungsministerium augenscheinlich dafür, um sich der Verantwortung für das Geschehene zu entledigen, darauf verwies, dass der Austausch „entsprechend einer direkten Anweisung des Obersten Befehlshabers der Streitkräfte der Russischen Föderation“, Wladimir Putin, „organisiert und vorgenommen worden war“. Jetzt seien, wie in ukrainischen Medien geschrieben wird, die russisch-ukrainischen Verhandlungen über einen Austausch von Gefangenen nach der Empörung in der Russischen Föderation auf Eis gelegt worden.

Außer der Rückkehr eines Teils der „Asow“-Kämpfer in die Heimat wurde zu noch einem Geschenk für die Propaganda Kiews die Meldung darüber, dass die russischen Truppen die Schlangeninsel unweit der Küste des ukrainischen Verwaltungsgebietes Odessa verlassen hätten. Im Verteidigungsministerium der Russischen Föderation bezeichnete man das Geschehen als einen „Schritt des guten Willens“, der im Zusammenhang mit dem „Abschluss der Realisierung der gestellten Aufgaben“ unternommen worden sei. Im Verteidigungsministerium erklärte man: Diese Tatsache demonstriere der internationalen Staatengemeinschaft, dass die „Russische Föderation die Anstrengungen der UNO zur Organisierung eines humanitären Korridors für die Ausfuhr von Agrarerzeugnissen vom Territorium der Ukraine nicht behindert“.

Experten erklären den Abzug der Garnison von der Insel mit dem Versuch, die Militärs und die Technik im Zusammenhang damit zu bewahren, dass der Beschuss seitens der Ukraine zwecks Zurückeroberung der Insel zu einem ständigen geworden war. Womit sie der Wahrheit weitaus näher sind. Autoren des Telegram-Kanals „Rybar“ betonen, dass nach der Verlegung von französischen Artilleriesystemen CAESAR und von taktischen „Totschka-U“-Raketenkomplexen (mit einer Reichweite von mehr als 100 Kilometern) in das Verwaltungsgebiet Odessa die Intensität des Feuers seitens des Gebietes Odessa auf die Schlangeninsel zugenommen hätte. Und unter diesen Bedingungen „kommt ein physisches Kontrollieren der Insel einem Selbstmord gleich“.

Der Militärexperte aus dem Donbass, Wladlen Tatarskij, ist der Auffassung, dass das Fehlen von „Mitteln zur Aufklärung und Zielanweisung für die operativ-taktische Staffel, die erlaubt hätten effektiv die Luftstreitkräfte und „Kaliber“ (-Raketen) zu lenken“, in der Bewaffnung der russischen Flotte sowie der Luft- und Kosmos-Streitkräfte zum Hauptgrund für die Aufgabe der Insel Smeinyj durch die russischen Truppen geworden sei. Dies ist beispielsweise mit den Drohnen MQ-9 Reaper möglich. MQ-9 sind Angriffs- und Aufklärungsdrohnen, die in der Lage sind, aus einer Höhe von bis zu 15 Kilometern im Verlauf von mindestens 24 Stunden eine Aufklärung in einer Tiefe von mehr als 1000 Kilometern zu führen. Russland hat keine derartigen Systeme. Tatarskij ist sich gewiss: Man könne die Insel wieder unter die Kontrolle der Russischen Föderation bringen, wenn „eine Kontrolle über das Verwaltungsgebiet Odessa erlangt wird“, oder unmittelbar vor der Unterzeichnung eines Waffenstillstands (zu ultimativen Forderungen Moskaus, was Kiew bisher kategorisch ablehnt – Anmerkung der Redaktion). Andernfalls werde es nur unnötige Opfer geben.

„Vor dem Hintergrund dessen, wie Russland eine relativ lange Zeit den Versuch unternimmt, Territorium des Donbass zu erobern, und Verteidigungslinien in den Richtungen Nikolajew und Kriwoi Rog aufbaut, halte ich das Gerede von einer Kontrolle des Verwaltungsgebietes Odessa für unangebracht“, erklärte der „NG“ der Militärexperte und Generalleutnant im Ruhestand Jurij Netkatschjow. „Gegenwärtig, unter den Bedingungen, unter denen die NATO eine neue Etappe der Militärhilfe für die Ukraine beginnt und die eine Gegenoffensive vorbereitet, stehen vor den russischen Truppen im Süden die Aufgaben, das Verwaltungsgebiet Cherson und den Teil des Verwaltungsgebietes Saporoschje, die sie kontrollieren, zu halten“.

Netkatschjow lenkt das Augenmerk darauf, dass Präsident Wladimir Selenskij in einer Videobotschaft an die Teilnehmer des NATO-Gipfels in Madrid um neue Militärhilfe gebeten und klar zu verstehen gegeben hätte, dass die Ukraine beabsichtige, den Kampf gegen Russland „zwecks Beendigung der russischen Okkupation“ fortzusetzen. Die NATO hat gern auf die Appelle reagiert. „Sie sind bereit, alle Streitkräfte der Ukraine zu schulen und auf die NATO-Standards umzustellen, aber auch deren Rüstungsindustrie zu modernisieren. Selenskij möchte mit Hilfe der Allianz, offenkundig Revanche nehmen. Und er möchte vorerst keine Friedensverhandlungen mit Moskau“, meint Netkatschow. Er ist sich sicher, dass die „Ukraine nach der Pfeife der USA tanzt“ (ein Narrativ, welches die russische Staatspropaganda jeden Tag vermittelt – Anmerkung der Redaktion). Und die zeigen den Kurs. Die Chefin des US-Geheimdienstes National Intelligence, Avril Haines, hatte auch direkt erklärt, dass sie „die Abhaltung von Friedensverhandlungen zwischen Moskau und Kiew nicht für möglich hält“.

  1. S.

Hinsichtlich der Situation um die Schlangeninsel gab es natürlich nicht nur aus Moskau Reaktionen, sondern auch aus Kiew. Präsident Selenskij erklärte am Donnerstagabend in einer Videobotschaft: „Es ist unbestritten, das wichtigste Wort heute ist „Smeinyj“. Sicherlich hatte man genauso viel über die Schlangeninsel nur an dem Tag gesprochen, als ein russisches Schif dort angekommen war. Danach ist das Schiff auch wieder weggefahren, für immer. Und nun ist auch die Insel wieder frei… Die Schlangeninsel ist ein strategischer Punkt“, betonte Selenskij. „Und dies verändert erheblich die Situation im Schwarzen Meer. Dies garantiert noch nicht die Sicherheit. Dies garantiert noch nicht, dass der Feind nicht zurückkehrt. Dies schränkt aber bereits die Handlungen der Okkupanten ein. Schritt für Schritt werden wir sie aus unseren Gewässern, von unserem Boden, aus unserem Himmel verdrängen“.