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Moskau und Ankara sprechen die Einrichtung eines Getreidekorridors ab


Es gebe zwei Varianten für eine Aufhebung der Blockade der ukrainischen Häfen, erklärte die stellvertretende Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses der Werchowna Rada (des ukrainischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion), Roxolana Pidlassa. Nach Meinung einer Reihe von Experten würden die westlichen Länder mit dem sogenannten „Getreideproblem“ den Wunsch verschleiern, eine Präsenz ihrer Kriegsschiffe in der Region zu sichern, aber auch eine Lieferung von Waffen für die Ukraine auf dem Seeweg zu organisieren. Die Einrichtung eines Transportkorridors werden auch eine Delegation des russischen Außenministeriums und Russlands Außenamtschef Sergej Lawrow bei ihrem Türkei-Besuch (am Dienstag bzw. Mittwoch dieser Woche – Anmerkung der Redaktion) erörtern.

Wie am Montag im Verlauf eines erneuten TV-Marathons die stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses der Werchowna Rada für Fragen der Wirtschaftsentwicklung, Roxolana Pidlassa, erklärte, würden zwei Wege für eine Deblockierung der ukrainischen Seehäfen erörtert werden. Die erste Variante sei nach ihren Aussagen eine militärische und sehe die Bereitstellung einer hinreichenden Anzahl von Schiffsabwehrraketen der erforderlichen Reichweite für Kiew vor, „damit die Ukraine das Feuer erwidern und selbst die Handelsschiffe verteidigen kann“. Der zweite Weg könne die „Ocean Shield“-Operation im Golf von Aden wiederholen, als NATO-Konvois Karawanen von Handelsschiffen begleiteten, wobei sie diese vor somalischen Piraten sicherten, präzisierte die Parlamentarierin. Wie sie hinzufügte, könnten hierbei Bulgarien, Rumänien und die Türkei helfen.

Allerdings ist es offensichtlich, dass die beiden von ihr genannten Varianten für eine Deblockierung der Häfen vom Wesen her militärische sind. Und scheinbar war die erwähnte Erklärung der Politikerin dazu berufen, auch als eine Antwort auf die von Russlands Präsident Wladimir Putin dieser Tage abgegebenen Erklärung zu dienen, wonach es mehrere Varianten für einen Transport des ukrainischen Getreides gebe.

Wie das russische Staatsoberhaupt in einem Interview des staatlichen Fernsehkanals „Rossia 1“ unterstrich, würde Moskau den Export ukrainischen Getreides nicht behindern. So könne man es über die Häfen ausführen, die sich unter der Kontrolle der Ukraine befinden, beispielsweise über den Hafen von Odessa. Dafür müssten aber die ukrainischen Militärs die von ihnen selbst verminten Gewässer und Zufahrten entminen. Wobei die russische Seite auch nicht beabsichtige, die Durchführung solcher Arbeiten zu behindern. Obgleich der einfachste Weg sei, die Ausfuhr über das Territorium von Weißrussland zu organisieren. Und von dort sofort zu den Häfen des Baltikums, über die Ostsee und weiter an jeden beliebigen Punkt des Planeten. Dafür müsse man aber die Sanktionen gegen die weißrussische Seite aufheben, merkte Wladimir Putin an. Und er konkretisierte, dass die Ukraine real bereit sei, lediglich fünf Millionen Tonnen Weizen und sieben Millionen Tonnen Mais zu exportieren, obgleich man in Kiew von 20 Millionen Tonnen spreche. (Jede Seite propagiert ihre Wahrheit, die jedoch beim genaueren Hinsehen sich als keine vollständige herausstellt. Moskau ist dabei keine Ausnahme. Zum einen wird der Grund der Verminung der Zufahrten zu den ukrainischen Häfen bewusst ausgeklammert – der Schutz vor Angriffen durch die russische Flotte im Rahmen der bereits seit 104 Tagen andauernden sogenannten militärischen Sonderoperation. Und Russland will durch seine Militärs alle Schiffe für die Getreidetransporte vor dem Einlaufen in die Häfen der Ukraine kontrollieren. Ganz zu schweigen davon, dass man auch eine Aufhebung antirussischer Sanktionen erwartet. – Anmerkung der Redaktion)

Der Experte Alexander Dudtschak vom Moskauer Institut für die GUS-Länder bezweifelt gleichfalls das Vorhandensein der erklärten 20 Millionen Tonnen Getreide auf ukrainischer Seite. Er berichtete der „NG“, dass laut vorliegenden Angaben die ukrainische Seite noch vor dem Jahreswechsel rund 18 Millionen Tonnen des Gesamtvolumens des eingebrachten Getreides von 33 Millionen Tonnen verkauft hätte. Und im Frühjahr habe die Ukraine bereits von der Türkei Mehl erworben, obgleich dies eventuell – was nicht auszuschließen sei — durch Korruptionsmechanismen bedingt worden sei. Wie dem nun aber auch sein mag: Da die Ukraine sich rund vier Millionen Tonnen zurückbehalten habe, seien folglich noch um die elf Millionen Tonnen für einen Verkauf bestimmt, hat der Analytiker nachgerechnet. Wie er unterstrich, müsse man berücksichtigen, wenn man sich die neue Ernte vornehme, dass die andauernden Kampfhandlungen keine Gewinnung von Investitionen für den Agrarsektor der Ukraine fördern würden. Überdies seien dort die Preise für Düngemittel bereits im vergangenen Jahr in die Höhe geschnellt. Und viele einheimische Landwirte hätten sie nicht eingesetzt, während ein Ausbleiben von Düngemitteln zu einem Rückgang der Ernteerträge um 30 bis 40 Prozent führe. Folglich würden die in dieser Saison eingebrachten Getreidemenge schon keine so großen sein, vermutete Dudtschak. Außerdem behauptet man im russischen Staatsfernsehen, dass ohnehin viele Felder aufgrund von Minen und nichtexplodierten Geschossen nicht abgeerntet werden könnten.

Derweil haben, wie früher türkische Medien meldeten, Vertreter Moskaus, Ankaras, Kiews und der UNO eine spezielle Roadmap ausgearbeitet, die einen Abtransport von Agrarerzeugnissen aus den ukrainischen Häfen sichern soll. Gemäß diesem Plan soll der ukrainische Bereich des Schwarzen Meeres sicher gemacht werden. Und weiter sollen Lieferungen ukrainischen Getreides für ausländische Märkte organisiert werden.

Amur Gadschijew, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Türkei-Sektors am Institut für Orientalistik der Russischen Akademie der Wissenschaften und Direktor des Zentrums für die Erforschung der modernen Türkei, sagte der „NG“, dass es natürlich Risiken gebe. Über den geschaffenen Korridor könnten auch Waffen für Kiew geliefert werden. Und daher fordere Russland berechtigt, so Gadschijew, Garantien dafür, dass solche Lieferungen nicht erfolgen. Zur gleichen Zeit war, als sich das Problem mit der Minenräumung im Bereich der ukrainischen Häfen ergeben und die NATO vorgeschlagen hatte, dorthin Minenräumschiffe von Nichtanrainerstaaten des Schwarzen Meeres zu entsenden, die Türkei dagegen aufgetreten. Offensichtlich ist Ankara bestrebt, ein Gleichgewicht der Interessen in der Region zu bewahren, und versucht, sich ergebende Probleme ohne eine Hinzuziehung dritter Kräfte zu lösen. Augenscheinlich gibt es mit Moskau Berührungspunkte und Raum für Verhandlungen.

Wie am Montag Russlands Außenminister Sergej Lawrow bei einer Online-Pressekonferenz erklärte, würden russische Spezialisten in die Türkei reisen und am 7. Juni eine Delegation des Außenministeriums in Ankara arbeiten. Im Ergebnis dessen könnten die Seiten gemeinsam auf detaillierteste Weise jene Varianten durcharbeiten, die helfen werden, die Fragen im Zusammenhang mit der Entminung der Gewässer vor den Häfen zu klären. Und Lawrow bekundete die Hoffnung, dass man so auch die Hindernisse für die Transporte, Versicherung und Wartung der Schiffe, die das Getreide und andere Lebensmittel in die Häfen Europas und von dort in Häfen von Entwicklungsländern befördern, ausräumen könnte.