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Moskau und Minsk handeln um einen weißrussischen Machttransit


In Minsk hat man ein erneutes Treffen von Alexander Lukaschenko mit Wladimir Putin angekündigt. Bei der Kommentierung der möglichen Tagesordnung betonen Experten den hohen Grad an Unbestimmtheit und der Geheimniskrämerei um die bilateralen Beziehungen und äußern widersprüchliche Prognosen. Jedoch sind sie sich in einem einig: Die Verbündeten führen einen ernsthaften Handel.

Dass Lukaschenko und Putin planen würden, sich in der nächsten Zeit zu treffen, teilte der Pressedienst des weißrussischen Staatsoberhaupts in der vergangenen Woche mit. Dies hätten sie bei einem Telefonat am 23. August vereinbart. Lukaschenko und Putin hätten über die „wirtschaftliche Komponente der beiderseitigen Beziehungen“, über Unionsprogramme, „die sich heute im Zustand eines hohen Grades der Fertigstellung befinden“, und über die Manöver „Zapad-2021“ („Westen-2021“) gesprochen.

„Gesondert und ausführlich sind die Präsidenten auf die Situation an den Grenzen von Belarus mit der NATO eingegangen. Sie sprachen auch über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Ausbildung von Fachkräften der Militär- und Geheimdienste, aber auch das Zusammenwirken auf dem Gebiet der Massenmedien“, hieß es in der Mitteilung. Da hatten sich auch Putin und Lukaschenko „über einen Zeitplan der Kontakte auf höchster Ebene in der nächsten Zeit“ geeinigt.

Ein genaues Datum für die Begegnung ist bisher nicht genannt worden. In einigen weißrussischen Medien kursierte die Information, dass dies am Geburtstag von Alexander Lukaschenko geschehen könne, das heißt am 30. August, am Montag. Es sei daran erinnert, dass dies das fünfte Treffen der Oberhäupter von Weißrussland und Russland (in diesem Jahr) sein wird. In einem Gespräch mit der „NG“ betonte der Politologe Valerij Karbalewitsch, dass man über den gegenwärtigen Zustand der weißrussisch-russischen Beziehungen und den Inhalt der bilateralen Gespräche derzeit nur herumrätseln könne, da die offiziellen Persönlichkeiten nichts publik über ihre Positionen äußern würden. Diese Tatsache erklärt das Bestehen unterschiedlicher Hypothesen, die oft direkt entgegengesetzte sind.

Nach Meinung des politischen Kommentators Alexander Klaskowskij gehe es um die „Roadmaps“ für die Integration oder – wie man sie in diesem Jahr zu bezeichnen begann – um Programme dafür. „Für Moskau steht die Aufgabe, durch die Unterzeichnung der Papiere Belarus aus institutioneller Sicht stärker an Russland zu binden. Denn, wenn es faktisch ein gemeinsames Steuer- und Zollsystem geben wird, wird es de facto einen Übergang zu den russischen Regeln und Gesetzen geben. Nach einer gewissen Zeit nach der Unterzeichnung dieser „Roadmaps“ wird Moskau bereits mehr Möglichkeiten haben, Fragen auch über eine gemeinsame Währung und übernationale Machtorgane zu stellen“, vermutete der Experte in einem Interview des Hörfunksenders „Euroradio“. Er nimmt an, dass eine umstrittene Frage bei der Unterzeichnung der Dokumente der Preis des Gases für Weißrussland sei. „Ich denke, dass sich der Kreml bemühen wird, Lukaschenko umzustimmen, damit er das Paket der Programme unterschreibt“, vermutet Klaskowskij.

Die zweite Frage auf der Tagesordnung sei nach Meinung von Alexander Klaskowskij die Frage nach den Verfassungsänderungen. Russland drücke solch eine Variante der neuen Verfassung durch, bei der man über gewählte Abgeordnete die weißrussische Politik beeinflussen könnte. Dafür müsse die Herrschaft im Land nicht zu solch einer personalistischen werden, und das Parlament müsse irgendwelche Rechte erhalten. Zur gleichen Zeit versuche Lukaschenko aber, Putin davon zu überzeugen, dass Veränderung bereits unnötig seien, da er „die Situation zementiert hat“. „Hinter den Kulissen kann eine schwere Unterhaltung erfolgen“, konstatiert Klaskowskij.

Mit solch einem Standpunkt solidarisiert sich auch Valerij Karbalewitsch. An die erste Stelle der Tagesordnung setzt der Experte jedoch die Fragen nach der Verfassungsreform. „Ich habe solch einen Eindruck gewonnen, dass dieses Mal Lukaschenko nach Moskau reist und einen Verfassungsentwurf zur Billigung im Gepäck hat“, sagte der Experte der „NG“. Auf solch einen Gedanken brachte ihn das, dass die weißrussischen Offiziellen die generelle Erörterung des Entwurfs der sich in Vorbereitung befindenden Verfassung bereits zweimal verschoben haben. „Bereits irgendwann im Juli sagte der Vorsitzender Verfassungskommission Pjotr Miklaschewitsch, dass bereits alles fertig sei und wir zum 1. August bereit seien, Lukaschenko den Entwurf zur Behandlung vorzulegen, und es eine Tagung zu diesem Thema geben werde. Danach ging ein Monat ins Land, und es wurde gesagt, dass bereits am 1. September alles vorbereitet und vorgelegt werden solle. Ja, und nun ist auch der 1. September nicht mehr weit, und Lukaschenko schiebt diese Frage immer noch auf eine lange Bank. Und jetzt wird er auf einmal nach Moskau fahren“, sagte der Gesprächspartner der „NG“. „Ich vermute, dass er eine gewisse Billigung Putins braucht. Und dann wird er bereits diesen Entwurf mit aller Macht auf den Weg bringen und versuchen, ihn zu realisieren. Möglicherweise ist nicht so sehr der Verfassungsentwurf an sich als vielmehr das, was nach seiner Annahme sein wird, wichtiger“, denkt Valerij Karbalewitsch. Insbesondere die Hauptfolge der Verfassungsreform – ein Machttransit. „Gerade dies ist heute möglicherweise das Wichtigste in den russisch-weißrussischen Beziehungen“, vermutete der Politologe. „Dies wird bereits das fünfte Treffen seit Jahresbeginn sein. Wobei sie jeweils fünf Stunden lang diskutieren. Worüber? Nicht doch über die „Roadmaps“. Ich denke, dass die Unterhaltung über irgendetwas Ernsthafteres erfolgt. Was aber kann ernsthafter sein als die Machtfrage?“, sagte der Gesprächspartner der „NG“.

Valerij Karbalewitsch vermutet, dass Moskau auf ein vollständiges Verlassen der Politik durch Alexander Lukaschenko bestehe. „Wenn Lukaschenko bleibt, was ist dies dann für ein Transit? Dies ist simpel der Versuch, irgendwen zu überlisten“, urteilt der Experte. Dabei sei für Moskau wichtig, dass Weißrussland im Einflussbereich Russlands bleibe, damit der Transit ein kontrollierbarer sei und Moskau im Prozess des Transits nicht vollkommen Weißrussland verliere. Zur gleichen Zeit wolle aber Lukaschenko selbst nicht abtreten und versuche, Putin irgendwelche Argumente zugunsten seines Standpunktes vorzulegen. Unter anderem mache er damit Angst, dass im Falle seines Abtritts Weißrussland sich gen Westen wenden werde. Unter Berücksichtigung der bereits erlittenen geopolitischen Verluste (Georgien, Moldawien) werde Russland diese Argumente akzeptieren. Daher würden die Verbündeten eine wichtige und schwierige Frage klären, nimmt Valerij Karbalewitsch an.

Einen entgegengesetzten Standpunkt äußerte der Politologe Pawel Usow. Nach seiner Meinung habe das Thema der Verfassungsreform in Weißrussland und des Machttransits für Moskau an Aktualität verloren. Während des Treffens mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel habe Putin unterstrichen, dass Weißrussland eine Einflusssphäre Russlands sei. Und er habe zu verstehen gegeben, dass die Situation, die sich heute in der Republik herausgebildet habe, Moskau absolut passe, vermutet Pawel Usow. „Hier das Kräfteverhältnis zu verändern und umso mehr Demokratisierungsprozesse zu fördern, beabsichtigt Russland nicht“, sagte der Experte in einem Interview des Internetportals „Weißrussischer Partisan“. „Der Kreml wird weiterhin das weißrussische Regime unterstützen und die Abhängigkeit Lukaschenkos von Russland verstärken, indem er das Land in die Integrationsfalle zieht“, meint er. Im Zusammenhang damit sei die Hauptfrage der bilateralen Tagesordnung die nach der Nötigung Weißrusslands zu einer Vertiefung der Integration. „Wenn Lukaschenko in der nächsten Zeit die 28 Integrationsmaps unterzeichnet, … so wird Russland in dieser Etappe vollkommen mit der Situation zufrieden sein“, meint Pawel Usow. Mehr noch, nach seiner Meinung sei für Russland derzeit ein Abtreten Lukaschenkos von der Macht unvorteilhaft, da der „angenommene Machttransit von einer Diktatur zu einer neuen Diktatur unter einer äußeren Verwaltung riskant ist. Besonders unter den Bedingungen der tiefgreifenden politischen Krise“.