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Muss man die Kinder vor Darwins Theorie schützen?


  1. Der Patriarch von Moskau und Ganz Russland Kirill hat aufgerufen, nicht die Theorie Darwins und die Religion kollidieren zu lassen. Bei einem Besuch des Labor-Komplexes der wissenschaftlich-technologischen Universität „Sirius“ in der Verwaltungsregion Krasnodar am 29. September erklärte das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche: „Gott hat ein frappierendes Universum geschaffen, er hat in uns die Fähigkeit zu einer Entwicklung gelegt. Mitunter sagte man da, dass die Evolution gegen den Gedanken Gottes sei. Sie ist nicht gegen den Gedanken Gottes, sondern belegt den unglaublichen Gedanken Gottes, da sich der Mensch durch seine Kräfte, sich auf äußere Faktoren stützend, so entwickeln kann, wie dies im Ergebnis der Evolution erfolgte. Daher war für mich die Evolution, und Darwin war im Übrigen ein sehr gläubiger Mensch, nie ein Faktor antireligiöser Argumente. Ohne die Wissenschaft kann es keinen technischen Fortschritt geben. Und ohne die Religion keinen geistigen. Und man muss da niemanden nichts beweisen“. Es sei daran erinnert, dass Tschetscheniens Ex-Premier Muslim Chutschijew (er studierte u. a. Journalistik, Staats- und Verwaltungsrecht sowie Wirtschaftswissenschaften -–Anmerkung der Redaktion) am 19. September Russlands Bildungsminister Sergej Krawzow den Vorschlag unterbreitete, Darwins Evolutionstheorie aus den Schulbüchern auszuschließen, da sie angeblich „fehlerhaft“ sei und eine „geistige Zersetzung der Kinder“ fördere. Die Initiative unterstützte der Vorsitzende der Patriarchen-Kommission der Russischen orthodoxen Kirche für Fragen der Mutterschaft und Kindheit, der Geistliche Fjodor Lukjanow. Der Kirchenvertreter erklärte, dass die Lehre von der Herkunft der biologischen Arten „vom Ursprung her unmoralisch“ sei. „Die Evolutionstheorie bedeutet eine Verwaistheit des Menschengeschlechts, eine Abwesenheit des Schöpfers bei der so komplizierten und wunderbaren Schöpfung wie unser Universum. Sie beantwortet nicht die Frage nach dem Entstehen des Lebens als solches, die Frage nach der Kompliziertheit und dem Sinn des Aufbaus der Lebewesen, der genetischen Degradierung, die ursprünglich komplizierten Systemen eigen ist. In ihr gibt es keinen Mechanismus, der die unumkehrbaren evolutionären Veränderungen im Organismus verankert“, erläuterte Lukjanow gegenüber der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti am 20. September. Der Appell zu einem Verbot der Lehre Darwins erklingt nicht das erste Mal in Russland. Im Jahr 2006 war gegen das Bildungsministerium der Russischen Föderation und gegen das Komitee für Bildungswesen von Sankt Petersburg eine Gerichtsklage von Kirill Schraiber erhoben worden, der behauptete, dass „das alternativlose Aufzwingen der Theorie Darwins von einer Evolution der Arten in den allgemeinbildenden Schulen“ die religiösen Gefühle seiner minderjährigen Tochter kränken würden. Die Richter hatten dem Kläger nicht stattgegeben, ihn unterstützten aber Vertreter der Russischen orthodoxen Kirche. Der damalige Vorsitzende der Abteilung für Jugendfragen der Sankt-Petersburger Diözese, Oberpriester Artemij Skripkin, lobte die Tochter Schraibers für den von ihr demonstrierten „bürgerrechtlichen Mut“, da sie „das schreckliche Monster, dem Leviathan der falschen Theorie von Darwin herausgefordert hat“. Oberpriester Konstantin Bufejew hatte auch ganz und gar den Darwinismus als eine ketzerische Lehre bezeichnet, die durch den Teufel aufgepfropft wurde. Für die Schülerin trat sogar der damalige Patriarch von Moskau und Ganz Russland Alexij II. (verstarb am 5. Dezember 2008 – Anmerkung der Redaktion) ein. „Es wird für einen Schüler keinerlei Schaden geben, wenn er um die biblische Lehre von der Entstehung der Welt weiß. Und wenn wer die Auffassung vertreten möchte, dass er vom Affen abstammt, so mag er so denken, aber dies nicht anderen aufzwingen“, sagte der damalige Patriarch. Später, im Jahr 2019 bezeichnete Oberpriester Dimitrij Smirnow, zu jener Zeit Vorsitzender der Kommission für Fragen der Familie, des Schutzes der Mutterschaft und der Kinder, die Theorie als eine vollkommen unwissenschaftliche aufgrund dessen, dass sie die Auffassung vertrete, dass wir „Affenkinder sind“. Die nunmehrigen Angriffe gegen den Darwinismus haben selbst in der Russischen orthodoxen Kirche Widerstand ausgelöst. „Seit der Zeit ihres Entstehens wurde die Theorie Darwins wesentlich korrigiert und überarbeitet. Daher, wenn sie irgendwo in der ursprünglichen Form gelehrt wird, ist dies Unsinn, selbst aus der Sicht der Evolutionstheorie in ihrer heutigen Form“, betonte der stellvertretende Leiter der Verwaltung für die Angelegenheiten des Moskauer Patriarchats, Bischof Sawwa (Tutunow). „Der „Existenzkampf“ wird heute nicht als einziger oder gar hauptsächlicher möglicher Mechanismus für eine natürliche Auswahl im Prozess der Evolution angesehen. Denn schließlich muss gerade der Gedanke vom „Existenzkampf“ als Hauptmangel des Darwinismus angesehen werden. Als Faktor der natürlichen Auswahl könnte man eher die „Lebensfähigkeit“ bezeichnen. Was ist dabei bemerkenswert? Es existieren durchaus Mutationen, die neutral gegenüber der Lebensfähigkeit sind, das heißt, die sie weder nicht fördern noch verhindern (und somit nicht unter eine „Auswahl durch einen Kampf“ fallen)“. „Als Hauptübel aber, als „Erbsünde“ des Darwinismus würde ich nicht diese Theorie an sich bezeichnen, sondern die gottlose Anwendung des Gedankens von einem „Existenzkampf“ in den Geschichts-, sozialen und Wirtschaftstheorien“, fuhr Tutunow fort. „Der eigentliche Gedanke von einer schrittweisen Evolution der Organismen gerät in keiner Weise in einen Widerspruch weder mit der Tatsache der Erschaffung der Welt durch Gott (und allem, was es in der Welt gibt) noch mit der Bibel“. Der Bischof erklärte, dass „es eine undankbare und unnötige Sache ist, aufzurufen, die Evolutionstheorie aus den Lehrbüchern auszuschließen“. Noch vor dieser Diskussion hatte sich im Mai dieses Jahres der einstige Verantwortliche für die theologischen Programme der Russischen orthodoxen Kirche, Metropolit Hilarion (Alfejew), über die Darwin-Lehre geäußert. „Den eigentlichen Gedanken einer Konfrontation des biblischen Glaubens an den Schöpfer mit der wissenschaftlichen Weltanschauung hält die Kirche für einen fehlerhaften. In den „Grundlagen der orthodoxen Glaubenslehre“ (Lehrmaterial für die Schüler geistlicher Bildungseinrichtungen – Anmerkung der Redaktion „NG-Religionen“) heißt es: „Die Heilige Schrift ist eine Offenbarung Gottes über sich als Schöpfer und Vorseher der Welt. Die Bibel berichtet über die Geschichte der Erlösung des Menschen und ist daher keine Quelle wissenschaftlicher Erkenntnisse über die den Menschen umgebenden Welt. Der Versuch, das Hexaemeron (die sechs Schöpfungstage der Genesis) wissenschaftlichen Daten und Theorien über die Entstehung der Welt entgegenzustellen, ist ein fehlerhafter“, hatte der Kirchen-Hierarch auf dem Internetportal „Jesus“ geschrieben. Dabei „dogmatisiert die Kirche nicht die eine oder andere Herangehensweise, wobei sie jedem Gläubigen das Recht lässt, jene naturwissenschaftlichen Anschauungen zu vertreten, die ihm gefallen“. Im westlichen Christentum gibt es bereits ein offizielles Dokument, das die Haltung zur Theorie Darwins regelt. Freilich hat der Vatikan die Erklärung über die Theorie von der Herkunft der Arten mehrere Jahrzehnte lang ausgearbeitet. Lange Jahre war man sich in der römisch-katholischen Kirche sicher gewesen, dass eine Gegenüberstellung von Kreationismus und Evolutionismus ein Problem der Protestanten sei. In der Tat, viele, die an den Anfängen der Evolutionstheorie standen, waren aus Familien protestantischer Geistlicher und hatten sich selbst angeschickt, Prediger zu werden. Zum Beispiel hatte der Lutheraner Carl Linné (ein schwedischer Naturforscher, der von 1707 bis 1778 lebte – Anmerkung der Redaktion) eine Zeit lang als Gehilfe eines Pastors gedient. Selbst Charles Darwin, der zwar in der Anglikanischen Kirche getauft worden war, besuchte häufiger die Gottesdienste der Unitaristischen Kirche, deren Anhänger das Dogma von der Trinität (Dreifaltigkeit) und die Lehre vom Sündenfall ablehnten. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts hatte die katholische Kirche ihre Haltung zu dieser Frage umrissen. Papst Pius der XII. erlaubte in der Enzyklika „Humani Generis“ (1950) den Katholiken, die Evolutionsdoktrin in dem Maße zu studieren und zu diskutieren, in dem sie die Herkunft des menschlichen Körpers erklären kann, aber nicht die der Seele. Damit hatte der Papst zu verstehen gegeben, dass es in der Lehre der Kirche nichts gebe, das verlangen würde, die Theorie als eine falsche anzuerkennen. In seinem Schreiben an die Päpstliche Akademie der Wissenschaften konstatierte am 22. Oktober 1996 der Nachfolger von Pius, Johannes Paul II.: „Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen dieser Enzyklika veranlassen uns einige neue Erkenntnisse zur Anerkennung der Evolution als mehr als eine Hypothese. Tatsächlich ist dies sogar bemerkenswert, dass diese Theorie einen großen Einfluss auf den Geist der Forscher nach einer Serie von Entdeckungen in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen ausgeübt hat. Die Übereinstimmung der Ergebnisse dieser vollkommen unabhängigen Forschungsarbeiten – die nicht geplant gewesen war – ist an und für sich ein bedeutendes Argument zugunsten dieser Lehre“. Es macht Sinn, daran zu erinnern, dass Darwin aufgrund seiner Forschungsarbeiten nie von der Kirche verurteilt worden war. Aber auch im Westen sind nicht alle in dieser Frage einer Meinung. Im Jahr 2005 hatte der damalige Erzbischof von Wien Christoph Schönborn erklärt, dass die Evolution im Verständnis von Darwin mit dem Christentum unvereinbar sei. Papst Franziskus hatte im Oktober 2014 nicht nur gesagt, dass „die Evolution in der Natur nicht dem Begriff von der Schöpfung durch Gott widerspricht“, sondern auch die Meinung bekundet, dass die wissenschaftlichen Erklärungen für solche wie den Urknall und die Evolution tatsächlich einen „göttlichen Einfluss fordern“. „Der Herr hat die Wesen geschaffen und ihnen erlaubt, sich entsprechend den materiellen Gesetzen zu entwickeln, die Er jedem von ihnen gegeben hatte, damit sie sich entwickeln und eine Vollkommenheit ihres Seins erreichen können“. „Die Evolution der Natur widerspricht nicht der Schöpfungskonzeption, da die Evolution die Erschaffung von Wesen bedeutet, die sich entwickeln“, resümierte das Kirchenoberhaupt. Andere Weltreligionen akzeptieren in dem einen oder anderen Maße die Theorie Darwins. Islamische Theologen erklären, wobei sie anmerken, dass in verschiedenen Ayat des Korans (Ayat – ein Vers in einer Sure) eine unterschiedliche Herkunft des ersten Menschen ausgewiesen wird (mal aus Ton und mal aus Wasser), dass in der heiligen Schrift der Moslems nicht nur Gedanken einer Evolution auszumachen seien, sondern auch das, dass der Koran die Evolutionstheorie vorweggenommen hätte. Moslemische Gelehrte verweisen gleichfalls auf den mittelalterlichen Historiker Ibn Khaldun, der in der Arbeit „Die Muqaddimah“ über die schrittweise Erschaffung der Tierwelt aus der Pflanzenwelt schrieb. Zum Gipfel bzw. Höhepunkt dessen sei der Mensch geworden. „Und es dehnte sich die Welt der Tiere aus. Und es vermehrten sich ihre Arten so lange, bis allmählich der Mensch auftauchte, der mit der Fähigkeit zum Denken ausgestattet war und mit Verstand, der ihn über die Welt der Affen erhob, denen Findigkeit und die Fähigkeit zu einer Wahrnehmung eigen war, die aber zum Denken und zu durchdachten Handlungen unfähig waren“, meinte Ibn Khaldun.