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Muss man Russlands Bürger vor der „Versuchung“ bewahren


Die russischen Kinogänger hätten bald in die Kinos gehen, dort den neuen Film von Paul Verhoeven „Benedetta“ (im Verleih Russlands – „Die Versuchung“) sehen und ihre eigenen Eindrücke aus dem Kinosaal bringen können. Irgendwer hätte möglicherweise Genugtuung erhalten, denn den Reaktionen der Kritiker nach zu urteilen, die den Streifen im westlichen Verleih gesehen haben, ist dies ein starkes psychologisches Drama und in irgendeinem Sinne auch ein religiöses Mysterium. Andere hätten sich wahrscheinlich mit Empörung über den Film geäußert, nachdem sie in einigen Szenen eine Verhöhnung christlicher Symbole auszumachen glaubten.

Aber dies wird nicht geschehen. Das Kulturministerium der Russischen Föderation hat die Verleihgenehmigung für den Film zurückgezogen. Und man wird „Die Versuchung“ nicht auf den großen Kinoleinwänden zeigen. Russlands Bürger werden sich damit abfinden müssen, dass man für sie entscheidet, was sie sich anschauen können und was nicht. Die Entscheidung des Kulturministeriums beeinflusste eine Beschwerde von Spitzenvertretern der christlich-orthodoxen Bewegung „Sorok Sorokow“ („40 x 40“ ist eine militant auftretende konservative Organisation, die sich als Verteidiger traditioneller christlicher Werte in Russland versteht – Anmerkung der Redaktion), die man in keiner Weise als eine repräsentative bezeichnen kann. Dies kann man mit Gewiss- und Bestimmtheit sagen, denn ihr Versuch, an der gerade zu Ende gegangenen Kampagne zu den Parlamentswahlen im Bündnis mit anderen ultrakonservativen Bewegungen teilzunehmen, erlitt ein Fiasko. Jedoch genügte die in der Zivilgesellschaft kaum zu vernehmende Stimme dieser kleinen Gruppe, um den Menschen die freie Wahl auf dem Gebiet der Kunst zu nehmen. Das Zurückziehen der Lizenz unterstützte man in der Synodalabteilung der Russischen orthodoxen Kirche für die Beziehungen mit der Gesellschaft und den Massenmedien.

Die Tradition, Filme, Theateraufführungen, Konzerte und Ausstellungen auf Verlangen empörter Gläubiger zu verbieten, hat in Russland bereits eine solide Geschichte vorzuweisen. Zum Ausgangspunkt wurde die Ausstrahlung des Films (von Martin Scorsese) „Die letzte Versuchung Christi“ im Fernsehen 1997. Damals aber hatten die Proteste der Gläubigen und Kommunisten lediglich um ein halbes Jahr die TV-Premiere verzögert. Seitdem ist die Verbotsliste von Kunstwerken erheblich erweitert worden. Der zugespitzte Charakter der Gefühle hat auch andere Gruppen konservativ eingestellter Bürger erfasst. Beispielsweise hat vor nicht allzu langer Zeit die Inszenierung „Das letzte Brot“ einen schweren Weg auf die Bühne des Moskauer Theaters „Sowremennik“ („Der Zeitgenosse“) zurückgelegt. Ein gewisser Bund der Offiziere hatte sich über sie beschwert. Im Untersuchungskomitee hat man sich mit ihr befasst. Letztlich aber hat man die Aufführung wieder ins Repertoire für diesen Herbst aufgenommen.

Die Inszenierung erhielt unterschiedlichste Bewertungen. Diese Meinungen wurden aber zum Ergebnis eines Anschauens und nicht von Gerüchten, auf die sich üblicherweise die leidenschaftlichen Verteidiger der gesellschaftlichen und religiösen Moral stützen. So etwas ist auch mit dem nunmehrigen Verhoeven-Film „Die Versuchung“ geschehen. Einer der Aktivisten von „40 x 40“ gestand in einer Sendung des hauptstädtischen Hörfunksenders „Echo Moskaus“ ein, dass er den Film, der bereits im Sommer in Europa uraufgeführt wurde, selbst nicht gesehen, sich aber auf Beschreibungen aus dem Internet gestützt hätte. Jetzt müssen sich auch die übrigen Bürger Russlands notgedrungen mit dieser Form des Kennenlernens von Neuheiten auf dem Gebiet der Kultur abfinden: „Ich habe es nicht gelesen, nicht gesehen und nicht gehört, aber ich verurteile es!“.

Russland begeht die gleichen Fehler wie auch einst der Westen. Christliche Fundamentalisten in den USA hatten gegen „Die letzte Versuchung Christi“ Mitte der 1980er Jahre protestiert, als der Film noch gar nicht gedreht worden war. Aber der Verdacht, dass der Regisseur Martin Scorsese beabsichtige, über den evangelischen Kanon zu spotten, wurde durch verlogene Gerüchte genährt.

Sich auf Gerüchte stützend, kann man sich natürlich den Film „Die Versuchung“ als eine Zusammenstellung pornografischer Szene vorstellen, wo Frevel zum Ziel wird. Deren Beschreibung kann man in mehreren Rezensionen nachlesen. Andererseits entgeht dem Kinogänger eine größere, eine bedeutsamere Absicht des Regisseurs – das Wesen der religiösen Exaltiertheit zu untersuchen, die in Vielem mit sexuellen Leidenschaften und Machthunger vermischt ist. Ein Gespräch zu diesen Themen ist in Russland heute aktuell. Dies belegen – sagen wir einmal – die jüngsten Entlarvungen des Geistlichen Roman Stepanow aus Tschuwaschien, die in der Russischen orthodoxen Kirche Zorn ausgelöst hatten.

Bemerkenswert ist, dass der Vatikan kein Verbot des Films in Europa fordert, denn derartige Themen sind dort nicht mehr tabuierte. In Russland aber hat man vorerst den Weg der Restriktionen gewählt. Dies wird eine Welle von Interesse für Raubkopien des Streifens auslösen, der in eine verbotene süße Frucht verwandelt wurde.