Soziologen fixieren prinzipielle Veränderungen in den Stimmungen von Russlands Bürgern im Zusammenhang mit der Entwicklung der Ukraine-Krise. Der erste Schock nach dem 24. Februar 2022, als sich die meisten Bürger Russlands als Opfer äußerer Umstände empfunden hatte, ist durch einen Aufschwung individueller Initiativen und von Eigenständigkeit abgelöst worden. Heute empfinden sich die meisten Bürger Russlands als die „Schmiede des eigenen Glücks“. Der Stand derartiger Stimmungen übersteigt wesentlich selbst den Stand von vor dem Krieg. Solche Daten langjähriger Untersuchungen legten am vergangenen Donnerstag Wissenschaftler aus dem Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften vor.
Mit Beginn der russischen Sonderoperation in der Ukraine im Jahr 2022 hat erstmals seit langen Jahren in der russischen Gesellschaft eine drastische Veränderung der Stimmungen und Lebensorientierungspunkte begonnen. Zu Beginn des Jahres 2022 dominierte zeitweilig die Selbstwahrnehmung als Opfer von Umständen. Im folgenden Jahr hat sich aber das Bild auf radikale Weise verändert. Der Anteil der Bürger Russlands, die der Annahme waren, dass der Mensch selbst der Schmied seines Glücks sei, nahm drastisch zu (bis auf 62 Prozent). Dies folgt aus Angaben des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften. Und heute würde sich nur rund ein Drittel der Bürger Russlands als ein „Opfer äußerer Umstände“ empfinden. Und im zu Ende gehenden Jahr 2024 fällt die Balance zwischen den „Opfern“ und den „Schmieden“ zu Gunsten der letzteren wesentlich deutlicher aus als in den Jahren, die der „militärischen Sonderoperation“ (die erlebt im Übrigen in der kommenden Woche ihren 1000. Tag) vorausgingen.
Die Beurteilung des eigenen Lebensniveaus durch die Bevölkerung sei heute ebenfalls höher bzw. besser als beispielsweise zu Zeiten der Krise von 2014-2015, teilte Michail Gorschkow, Direktor des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften, mit. Dabei würde sich die subjektive Beurteilung der eigenen materiellen Lage durch die Bürger Russlands verbessern. Heute würden über 20 Prozent der Befragten von einer Verbesserung ihres Lebensniveaus sprechen. Freilich, von einer Verschlechterung der Lebensbedingungen würden etwa genauso viele sprechen. Jedoch sei eine Tendenz zu optimistischeren Selbstbewertungen offensichtlich. Im vergangenen Jahr hätten 15 Prozent der Befragten von einer Verbesserung ihrer materiellen Lage gesprochen. Und jeder dritte von deren Verschlechterung. Im Durchschnitt hätten ca. zehn Prozent der Bürger Russlands im Zeitraum 2015-2022 von einer Verbesserung der materiellen Lage gesprochen.
Dabei werden die Jahre 2015, 2016, 2020 und 2022 hervorgehoben, als etwa die Hälfte der Bürger des Landes eine Verschlechterung ihrer materiellen Lage konstatierten. „In jedem Fall hingen diese Bewertungen mit den neuen Herausforderungen zusammen: 2015-2016 – mit der Wirtschaftskrise, die durch die Sanktionen gegen Russland als Antwort auf die Wiedervereinigung mit der Krim provoziert wurde, im Jahr 2020 – mit der COVID-Pandemie und letztlich mit der drastischen Verschlechterung der Wirtschaftssituation nach Beginn der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine“, erklären die Experten. Die heutigen Werte für die Zufriedenheit der Bürger Russlands über ihre materielle Lage entsprechen faktisch dem Stand von 2014, teilten die Soziologen mit.
Bemerkenswert ist, dass die Bürger Russlands heute in geringerem Maße Möglichkeiten für zusätzliche Verdienste suchen. Für viele Befragte hat sich jedoch offenkundig die Dauer der Arbeitswoche am Hauptarbeitsplatz verlängert. Im Durchschnitt arbeiten die Bürger Russlands heute rund 45 Stunden in der Woche. Das heißt: Die meisten Arbeitnehmer arbeiten stabil mindestens fünf Stunden mehr in der Woche. Und der Anteil der Arbeitnehmer, deren Arbeitswoche die Norm von 40 Stunden übersteigt, hat im vergangenen Jahr bedeutend zugenommen (von 48 bis 55 Prozent). Zur gleichen Zeit hat sich damit der Anteil derjenigen verringert, die eine zusätzliche Vergütung für diese Mehrarbeit erhielten – von 31 bis 24 Prozent von der Zahl der Arbeitenden.
Unter den Beschäftigten des Bereichs Handel und Dienstleistungen arbeiten praktisch zwei Drittel mehr als 40 Stunden in der Woche. Ein mit ihnen vergleichbarer Anteil der Mehrarbeitenden ist auch unter den Führungskräften von Unternehmen und unter Unternehmern zu beobachten. Überstunden machen häufiger Mitarbeiter des kommerziellen Sektors – zwei Drittel der Beschäftigten arbeiten dort über die Norm hinaus.
Diese Daten der Soziologen können sich von der offiziellen Statistik unterscheiden. Die staatliche Statistikbehörde Rosstat stützt sich bei seiner Beurteilung der Dauer der Arbeitswoche auf Daten, die von den großen und mittleren Unternehmen kommen, während die übrigen nicht in die Statistik gelangen, erläutert Natalia Tichonowa, leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin vom Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften.
In absoluten Zahlen würden die Löhne und Gehälter der Bevölkerung steigen, doch der Wert einer Überstunde verringere sich, konstatieren die Soziologen. Im Ergebnis dessen ergibt sich, dass im Durchschnitt die Überstunden leistenden Beschäftigten um zehn Prozent weniger für eine Überstunde erhalten als jene, die eine standardgerechte Dauer des Arbeitstages haben. Für die Arbeiter beträgt die Differenz acht Prozent, für die Profis – sechs Prozent und für die Führungskräfte – drei Prozent, während für die einfachen Beschäftigten des Handels und des Dienstleistungsbereichs der Unterschied erheblich größer ausfällt – 27 Prozent. Für die arbeitenden Bürger Russlands bedeuten die zugenommenen Belastungen deren schwache Position in den Beziehungen mit dem Arbeitgeber, selbst ungeachtet dessen, dass ihr Verdienst nominell höher liegt. In Russland bestehen weiterhin die Probleme mit der Einhaltung der Grundrechte der Arbeitnehmer auf eine Bezahlung von Krankenscheinen und des Urlaubs. In Russland erhalten nach wie vor rund ein Drittel der Beschäftigten ihren Lohn bzw. ihr Gehalt im Briefumschlag.
Bemerkenswert ist, dass vor dem Hintergrund des generellen Wachstums der Löhne und Gehälter in der Russischen Föderation der Anteil der sogenannten Geldtransfers innerhalb von Familien zunimmt. Rund 20 Prozent der Bürger Russlands erklären heute, dass sie von Freunden und Verwandten Hilfe erhalten würden. Solch eine Zahl belegt, dass ein Großteil der Bürger Russlands gezwungen ist, bei Verwandten und Bekannten Geld zu borgen, erläutert Tichonowa. Solche Schuldensummen innerhalb der Familien sehen oft keine Rückzahlung vor. In der Russischen Föderation unterstützen Verwandte oft einander nicht nur mit Geld, sondern auch mit Hilfe bei der Suche nach Arbeit oder bei einem Vorankommen in der Karriere.
Die Soziologen gestehen ein, dass in den letzten zehn Jahren bestimmte Erfolge bei der Verringerung des Anteils der armen oder sozialschwachen Bevölkerungsschichten erreicht wurden. Unter Armen werden Bürger Russlands mit Einkommen unterhalb des regionalen Lebensminimums verstanden, unter sozialschwachen – Bürger Russlands mit Einnahmen im Umfang von einem bis anderthalb Lebensminimums. Laut Schätzungen des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften machte im laufenden Jahr die Zahl der Armen elf Prozent aus, die der sozialschwachen Bürger – 28 Prozent. „Seit den Zeiten der ersten Mai-Erlässe (von 2018), in deren Rahmen die Aufgabe zur Halbierung der Armut bis zum Jahr 2024 gestellt wurde (und danach auch bis zum Jahr 2030) hat die russische Regierung große Ergebnisse erzielt. Die Armut hat sich um etwa das 1,6fache verringert“, folgt aus dem Report.
Eine markante Besonderheit der russischen Armut ist ihr „ländliches Antlitz“. Dennoch aber haben sich in den letzten elf Jahren die Risiken für eine Armut für die Landbewohner verringert, während sie für die Stadtbewohner zugenommen haben. Die „Versicherung vor einer Armut“ in Gestalt einer Hochschulausbildung hat begonnen, Schwäche zu demonstrieren.
Zur gleichen Zeit wurde mit dem Report des Instituts für Soziologie eine neue Umfrage des staatlichen Allrussischen Meinungsforschungszentrums (VTsIOM) über das Nachlassen des Vertrauens in die Daten von Soziologen vorgelegt. Die meisten Bürger Russlands (90 Prozent) sind der Auffassung, dass die Durchführung von Massenbefragungen nötig sei. Dabei sind sich aber weniger als 70 Prozent sicher, dass die Umfrageergebnisse insgesamt die Meinung der Gesellschaft reflektieren. „Heutzutage betonen insgesamt acht von zehn unserer Mitbürger in dem einen oder anderen Maße die Wichtigkeit öffentlicher Meinungsumfragen“, berichten die Soziologen. Jedoch würde die Bewertung dieser Wichtigkeit durch die Bevölkerung zurückgehen. Wie sich aus den Ergebnissen ergibt, wurde ein Höhepunkt der Bewertungen in den Jahren 2018 und 2022 registriert, als neun von zehn Bürgern Russlands erklärten, dass Umfragen gebraucht werden. Der Höhepunkt des Interesses unmittelbar für soziologische Umfragen sei im Jahr 2021 erreicht worden, behauptet man im staatlichen VTsIOM.
Unter den Hauptgründen für das geringe Vertrauen gegenüber den Umfrageergebnisse ist der fehlende Mut der Mitbürger, ihre Meinung zu bekunden (13 Prozent). Außerdem räumen ca. elf Prozent der Bürger Russlands die Möglichkeit einer Fälschung der Umfrageergebnisse ein. „Nach einem moderaten zweijährigen Ansteigen des Vertrauensindexes gegenüber soziologischen Erhebungen in den Jahren 2022-2023 hat ein Rückgang eingesetzt“, meinen Spezialisten aus dem VTsIOM.
Nach Beginn der „militärischen Sonderoperation“ hat sich die russische Gesellschaft radikal verändert
16:58 17.11.2024