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Nach der Landung — hinter Gittern


Die Außenminister der 27 Länder der Europäischen Union haben ein viertes Paket individueller Sanktionen gegen Weißrussland verabschiedet und die Möglichkeiten für eine schnellstmögliche Verhängung sektoraler Wirtschaftssanktionen abgestimmt. Nicht ausgeschlossen wird die Annahme auch eines fünften Sanktionspaketes. Der Chef der EU-Diplomatie Josep Borrell erinnerte bei der Pressekonferenz zu den Ergebnissen der Tagung des EU-Rates auf Außenministerebene noch einmal daran, dass zur Verhärtung der Position des „geeinten Europas“ der Zwischenfall mit dem Ryanair-Flugzeug führte, das aus Athen nach Vilnius unterwegs gewesen war, aber kurzfristig in Minsk landete. Während sich der Jet in Weißrussland war, wurden zwei Passagiere von Bord genommen – der weißrussische Oppositionelle Roman Protasewitsch und die russische Staatsbürgerin Sophia Sapega, die Administratorin des Telegram-Kanals „Schwarzes Buch von Belarus“.

Der Westen forderte, sie freizulassen, und beeilte sich, den Zwischenfalls mit der erzwungenen Landung und anschließenden Festnahme „unerwünschter Passagiere“ als einen inakzeptablen und beispiellosen zu bezeichnen. Eine erneute Schalkheit! Präzedenzfälle gibt es, ja und noch was für welche!

Bei weitem nicht im Luftraum von Weißrussland wurde erstmals die Chicagoer Konvention von 1944 (Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt) verletzt, die den Beginn der internationalen Politik des reinen Himmels ausmachte, das heißt: die Grundlage eines internationalen Luftfahrtrechts auf völkerrechtlicher Basis schuf. In diesem Kontext erinnert man sich gewöhnlich an die erzwungene Landung des Flugzeugs Dassault Falcon 900 FAB-001 von Boliviens Präsidenten Evo Morales im Jahr 2013 in Wien. Das Wesen dieses Zwischenfalls erklärt man mit den angeblich von den USA verbreiteten Gerüchten, wonach Edward Snowden, ein amerikanischer Sonderagent, der in Russland um Asyl gebeten hatte, sich an Bord des bolivianischen Flugzeugs befunden hätte.

Tatsächlich aber wurde das, was man heute im Westen als offizielle Luftpiraterie bezeichnet, erstmals durch ein scheinbar „klassisch zivilisiertes“ Land wie Frankreich verübt.

Diese Geschichte könnte durchaus zur Grundlage für eine Abenteuer-TV-Serie werden. Am 22. Oktober 1956, in der Hochzeit des Krieges von Algerien gegen die Metropole um die Unabhängigkeit, schickten sich fünf Anführer der Front de Libération Nationale (FLN – Nationale Befreiungsfront) an, mit einem Linienflug aus dem marokkanischen Rabat nach Tunesien zu fliegen. Sein damaliger Präsident Habib Bourguiba hatte eine Konferenz über die Zukunft der Maghreb-Länder organisiert. Am gleichen Tag klingelte um 8.30 Uhr morgens im Arbeitszimmer von Pierre Choussade, dem Generalsekretär der französischen Regierung Algeriens, das Telefon: „Wir können mit einem Schlag den Aufständischen einen schweren Schlag versetzen. Wir müssen nur das Flugzeug abfangen, an dessen Bord sich Ahmed Ben Bella, Mohamed Khider und andere Anführer der FLN befinden“. Der Vorschlag von Oberst Ducourneau, des Direktors des Militärkabinetts des Ministers für Algerien-Angelegenheiten    Robert Lacoste, erschien dem Beamten als ein verlockender. Doch wie sollte dies angestellt werden? Zumal das Flugzeug der marokkanischen Fluggesellschaft gehört.

„Es ist alles abgesprochen“, beruhigte der Militär den Administrator. „Ja, das Flugzeug gehört der Royal Air Maroc, doch die Besatzung in ihm ist ja eine französische. Wir organisieren auf dem Weg nach Tunis eine notgedrungene Landung und tauschen die Piloten und Stewardessen gegen unsere Leute aus“. Aus Furcht, die Verantwortung für die Flugzeugentführung zu übernehmen, setzte sich Choussade mit General Frandon in Verbindung, der für die Kontrolle des regionalen Luftraums des französischen Algeriens zuständig war. Der bestätigte, dass die Operation unter Leitung von Oberst Germain, Chef des Service de Documentation Extérieure et de Contre-Espionnage (SDECE – der damalige französische Auslandsgeheimdienst) in Algerien, ausgearbeitet worden sei. Mehr noch, General Lacoste informierte selbst Regierungschef Guy Mollet über die Kaperung des Zivilflugzeuges, der es vorgezogen hatte, eine abwartende Haltung einzunehmen und keinerlei Erwägungen aus diesem Anlass zu äußern. Und das Schweigen von Politikern ist bekanntlich ein Zeichen der Zustimmung. Und die Militärs schickten sich an, zu handeln.

Nach dem Abflug aus Marokko wurde den Passagieren mitgeteilt, dass das Flugzeug zusätzlich betankt werden müsse, da der algerische Luftraum umflogen werden müsse. Es würden dort Kampfhandlungen erfolgen. Daher werde es im Interesse der Sicherheit besser sein, einen kurzen Umweg zu fliegen und in Spanien zu landen. Auf den Balearen tauschte man die gesamte Crew der Douglas DC-3 gegen aus der Metropole geschickte Geheimdienstoffiziere aus. Und als die Propellermaschine erneut in den Himmel aufgestiegen war, gesellten sich ihr für alle Fälle unbemerkt zwei „Mirage“-Flugzeuge hinzu. In einer diskreten Entfernung begleiteten die Jagdflugzeuge die Maschine mit den Vertretern der Auslandsführung des algerischen Widerstands bis zum Landeflughafen.

Die Douglas DC-3 drehte zahllose Kreise über Algier, um das Kerosin in den Tanks aufzubrauchen, während die charmanten Stewardessen, die während des gesamten Fluges reichlich teure Getränke ausschenkten, die Passagiere baten, die Fensterblenden zu schließen – angeblich auch aus Sicherheitsgründen. Ben Bella und seine Gefährten, die nach dem reichlichen Alkoholgenuss leicht schlummerten, taten dies auch so. „Wir sind im Flughafen von Tunis gelandet“, verkündete endlich der Kapitän des Flugzeugs erfreut und bat die Passagiere zum Ausgang. Als Ben Bella (der übrigens später mit dem Titel „Held der Sowjetunion“ ausgezeichnet wurde) als erster die Gangway betrat, sah er, dass ihn keine feierliche Eskorte empfängt, sondern bis zu den Zähnen bewaffnete französische Militärpolizisten und Journalisten. Vom Militärflughafen Algiers „Maison Blanche“ gerieten die FLN-Führer geradewegs in ein französisches Gefängnis auf der Île-d’Aix im Atlantik.

Ahmed Ben Bella kehrt erst im Sommer 1962, nach Erlangung der Unabhängigkeit durch Algerien, in die Heimat zurück. Er wird zum ersten Staatspräsidenten seines Landes. 1965 wird er bei einem Militärputsch durch seinen Mitstreiter, Oberst Houari Boumedienne, gestürzt. Dies ist allerdings eine ganz andere Geschichte.