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„Neue Erfolge“ von Russlands Geheimdiensten zum Schaden der Bürgerrechte und -freiheiten?


Russlands Präsident Wladimir Putin, der den Mitarbeitern der Sicherheitsorgane zu ihrem Feiertag gratulierte, hat erklärt, dass Extremismus eine direkte Bedrohung für die Einheit des Landes sei und die Bürger „neue Erfolge“ im Kampf gegen ihn von den Geheimdiensten erwarten würden. „Man muss hart jegliche Erscheinungen von Fremdenfeindlichkeit sowie sozialer und religiöser Feindschaft unterbinden und eine Involvierung der Menschen, besonders junger, in eine widerrechtliche antistaatliche Tätigkeit verhindern“, sagte das Staatsoberhaupt in einer Videobotschaft.

Es muss gesagt werden, dass es in Russland drei Ebenen in Bezug auf die Vorstellungen über den Extremismus gibt. Die erste ist eine kleinbürgerliche, eine spießige. Als Extremismus wird alles angesehen, was mit Terror, Gewalt und einer aggressiven Diskriminierung zusammenhängt. Die zweite ist die gesetzgeberische. Es gibt das föderale Gesetz „Über die Bekämpfung der extremistischen Tätigkeit“. Und das letzte Mal ist sein Wortlaut im Herbst des vergangenen Jahres korrigiert worden. Schließlich ist da die dritte Ebene. Dies ist das, wie das System der Rechtsanwendung, die Gerichte und die Bestrafungen den Begriff „Extremismus“ interpretieren. Das Feld für die Interpretation ist ein sehr weites. Das bereits erwähnte Gesetz rechnet beispielsweise in erster Linie eine gewaltsame Veränderung der Grundlagen der verfassungsgemäßen Staatsordnung zum Extremismus. Als extremistische werden auch die Aufrufe zu solch einer Tätigkeit angesehen.

Neben dem föderalen Gesetz existiert gleichfalls die „Strategie zur Extremismus-Bekämpfung“, die bereits im Jahr 2014 durch den Präsidenten bestätigt wurde. In ihr heißt es unter anderem, dass „zu einer Hauptform für eine Destabilisierung der sozial-politischen Lage in der Russischen Föderation die Gewinnung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen für eine Teilnahme an Protestaktionen, darunter von nicht genehmigten, wird, die im Weiteren vorsätzlich zu Massenunruhen transformiert werden“.

Diese „Strategie“ gibt auch in Vielem die Interpretationsmatrix für eine Verurteilung und Bestrafung entsprechend den „Extremismus-Paragrafen“ vor. Das Feld für ein Manövrieren ist auch noch weiter geworden, nachdem man zahlreiche Änderungen und eine Detaillierung an der Verfassung der Russischen Föderation vornahm. Anders gesagt: Heutzutage können sehe viele oppositionelle Äußerungen und Auftritte für einen Wechsel der herrschenden Elite als Aufrufe zu einer Veränderung der Verfassungsänderung aufgefasst werden. Die Grenzen zwischen dem Staat als solchen und den aktuellen Herrschenden sind zu recht vagen geworden. Und wo da eben das eigentliche „Extremum“ ist, ist nicht immer klar.

Es versteht sich, dass jetzt fast immer als extremistisch die Einladung zu nicht mit den Offiziellen abgestimmten Meetings, Umzügen und Mahnwachen angesehen wird. Dies ist auch eine „Involvierung von Menschen in eine widerrechtliche antistaatliche Tätigkeit“, von der Putin spricht. Ein solcher Punkt in einem Verfahren ist genug, um eine Organisation, der man früher auch das ohnehin unangenehme Etikett eines „ausländischen Agenten“ verpasste, zu extremistischen zu rechnen und zu verbieten sowie die Menschen, die ihr mit Geld geholfen haben, entsprechend von Strafparagrafen zur Verantwortung zu ziehen.

Zu einer direkten Aufgabe der Sicherheitsorgane wird in solch einem Koordinatensystem nicht nur die Liquidierung krimineller Gruppen, sondern auch die Verfolgung von Menschen aufgrund politischer Motive sowie eine Filtrierung Oppositioneller. Nicht bloß eine Extremismus-Bekämpfung, sondern eine Prophylaxe einer Revolution, einer Konterrevolution. Den Menschen in sozialen Netzwerken herauszufischen, der eine Einladung zu einem Meeting als Repost weiterverbreitet, wird zu einer nicht weniger wichtigen Aufgabe als das Nachverfolgen eines Transports von Waffen und Sprengstoffen, das Aufspüren einer Terroristen-Zelle oder die Verhinderung eines Terroraktes.

Wenn Extremismus so weit interpretiert wird, werden die Sicherheitsorgane immer erfolgreich sein. Und es wird stets etwas geben, um deren Mitarbeiter zu würdigen und auszuzeichnen. Für sie bewahrt man das in der Staatsduma (dem Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) und der Regierung selten angefochtene Recht, die geltende Gesetzgebung so zu ändern, um eine maximale Manöverfreiheit bei den Untersuchungen zu erhalten, wenn auch zum Schaden der Rechte und Freiheiten der Bürger. Das Ausbleiben von Meetings auf städtischen Plätzen könnte vom Prinzip her als ein Gradmesser für die politischen und Bürgeraktivitäten angesehen werden. Aber in unserer Realität eher als ein Kriterium für die Sicherheit.