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Nicht die Armut, sondern die politische Ungerechtigkeit bewegt die Russen


Die Prognosen für eine Zunahme der Massenproteste aufgrund des Rückgangs der Einkünfte und der Zunahme der Arbeitslosigkeit werden bisher in keiner Weise durch die russischen Realitäten bestätigt. Mehr noch, alle großen Konflikte und Aktionen der letzten Jahre waren nicht durch die Zunahme der Armut und des Rückgangs der Einkünfte provoziert worden. Und selbst bei den beispiellosen Protesten der Einwohner des Fernen Ostens sind praktisch keine Forderungen nach einer Anhebung der Löhne und Gehälter oder Renten zu hören. Die „Nesawisimaya Gazeta“ hat bereits geschrieben, dass die Nichtakzeptanz der Armut in Russland vor der Nichtakzeptanz von Gesetzlosigkeit oder Ungerechtigkeit zurücktritt. Es ist paradox, doch selbst sieben Jahre Stagnation und Rückgang der Realeinkommen der Bevölkerung sind bisher nicht zur Ursache für ein Auf-die-Straße-kommen der Bürger Russlands geworden.

Die lange Stagnation in Russland wurde durch einen drastischen Einbruch der Wirtschaft und den drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit abgelöst. Im Juli erreichte die Zahl der gemeldeten Arbeitslosen drei Millionen Menschen, teilte man im Arbeitsministerium mit. Dies ist viermal (!) mehr als vor einem Jahr. Dabei steht der Gipfel der Arbeitslosigkeit noch bevor. Und im Ministerium von Anton Kotjakow hofft man bisher nur auf eine Stabilisierung der Zunahme der Arbeitslosigkeit zum Jahresende hin. 

Die real zur Verfügung stehenden Einkünfte der Bürger Russlands sind im zweiten Quartal um acht Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres zurückgegangen. Im ersten Quartal machte der Rückgang der Realeinkünfte 3,7 Prozent laut Rosstat-Angaben aus. 

Es sei daran erinnert, dass die Stagnation oder die Verringerung der Bevölkerungseinkünfte im Land seit 2014 andauert. D. h., dies geht schon sieben Jahre in Folge so. Und der Übergang der Stagnation zu einem tiefen Einbruch müsste, wie es schien, Unmut und Proteste auslösen. Doch im Land sind bisher keinerlei Massenproteste mit sozial-ökonomischen Forderungen zu beobachten. Bei den Massenaktionen in Inguschetien, im Verwaltungsgebiet Archangelsk, in Moskau, in Wolokolamsk vor den Toren der russischen Hauptstadt und in Chabarowsk wurden keine ökonomischen Forderungen registriert. Obwohl es schien, dass man bei den mehrtägigen und zunehmenden Protesten im Fernen Osten das Auftauchen auch von ökonomischen Forderungen erwarten konnte.

Eine Erklärung für diese paradoxe Situation geben möglicherweise die soziologischen Untersuchungen, über die die „NG“ bereits geschrieben hat (siehe „NG“ vom 25.09.2019 – https://www.ng.ru/economics/2019-09-25/4_7685_bednost.html). Damals hatten Umfragen des Levada-Zentrums eine neue Tendenz fixiert: Im Land hat sich der Anteil derjenigen drastisch vergrößert, die aufgrund der Willkür der Gerichte, Polizei und Beamtenschaft beunruhigt sind.

Bedeutet aber das Ausbleiben von ökonomischen Forderungen seitens der Protestierenden heute, dass es bis zu derartigen Protesten noch sehr weit ist? „Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir bis zum Jahresende auch rein ökonomische Forderungen der Bürger sehen werden, da wir eine Zunahme der Arbeitslosigkeit und einen zu drastischen Rückgang der Bevölkerungseinkünfte beobachten“, meint Alexej Makarkin, 1. Vizepräsident des Zentrums für Polittechnologien. 

Das Fehlen von ökonomischen Forderungen in den russischen Protesten erklärt Makarkin mit der besonderen desorganisierenden Rolle der einheimischen Gewerkschaften. Im Westen wären die Massenaktionen gegen eine Verarmung sicher durch die einheimischen Gewerkschaften organisiert worden, die sich an die Prinzipien der Klassensolidarität halten. In Russland haben sich auch Streiks und Demonstrationen mit ökonomischen Forderungen ereignet, doch die erfolgten gewöhnlich in Unternehmen mit ausländischer Kapitalbeteiligung und unter Führung der Gewerkschaften, die auf eine Unterstützung westlicher Gewerkschaften hoffen konnten, erläutert Makarkin. 

Das Ausbleiben ökonomischer Losungen bei den Meetings in Chabarowsk und anderen Städten des Fernen Ostens erklärt der  Experte unter anderem auch mit der besonderen Eigenständigkeit der Menschen des Fernen Ostens, die wohl kaum vom Staat irgendwelche Vergünstigungen oder Zuschläge fordern werden. Sie werden eher mit der Forderung an den Staat, sich nicht einzumischen und nicht ihr Business zu behindern, auf die Straße gehen. „Derartige Proteste haben wir bereits beobachtet, als die Offiziellen versuchten, die Einfuhr rechtsgelenkter Autos zu verbieten, deren Weiterverkauf ein wichtiger regionaler Wirtschaftszweig war“, erinnert Makarkin. 

„Bis zu Wirtschaftsprotesten aufgrund leerer Kühlschränke ist es bei uns noch sehr weit“, meint Natalia Subarewitsch, Direktorin des Regionalprogramms des unabhängigen Instituts für Sozialpolitik. Die anhaltende Krise der Einkünfte halten die Bürger Russlands für einen alltäglichen Routinefaktor, der eine Anpassung und keine Schreie und Jammern verlangt, ist sich N. Subarewitsch sicher. Eine andere Sache ist der plötzlich aufgekommene Faktor der Ungerechtigkeit. Die Verteidigung der Selbstachtung und die Abwehr von Ungerechtigkeit sind in der Lage, die Menschen zu einem Massenprotest auf die Beine zu bringen, wie dies in Schijes (Proteste gegen das Anlegen einer Großdeponie für Müll aus der russischen Hauptstadt – Anmerkung der Redaktion), Moskau oder in Chabarowsk war. 

Die Politik des Staates während der Corona-Krise hat dazu geführt, dass bei vielen Bürgern eine verborgene Unzufriedenheit aufgrund der unzureichenden Hilfe aufgekommen ist. Aber dieser Faktor kann auch keinen Massenprotest provozieren, meint N. Subarewitsch.