Über die Rolle des russischen Erdgases im heutigen Energiemodell der Europäischen Union berichtet der Leiter der Stiftung für nationale Energiesicherheit Konstantin Simonow in einem Gespräch mit dem verantwortlichen Redakteur der Beilage „NG-Energie“ Oleg Nikiforov.
Am 15. Juli wurde ein Paket von Dokumenten der EU-Kommission bezüglich der Energiewende veröffentlicht. Laut einer Erklärung der Präsidentin der Europäischen Kommission soll Europa bis zum Jahr 2050 klimaneutral werden. Es kann angenommen werden, dass bis dahin die Europäer (und besonders Deutschland, das sowohl auf die Kernenergie als auch auf die Stromerzeugung auf der Grundlage von Kohle verzichten will) eine Energiequelle brauchen werden, die erlaubt, diese Wende zu vollziehen. Heute ist solch eine Quelle in Europa das Erdgas. Wieviel Gas brauchen Europa und Deutschland für die Übergangsperiode? Was für eine Rolle kann Russland dabei spielen?
Die Frage ist wirklich eine aktuelle und wichtige. Derzeit ist es sehr schwierig, Prognosen anzustellen, da sich die Situation buchstäblich vor unseren Augen ändert. Daher stehe ich Prognosen bezüglich des Gasverbrauchs recht skeptisch gegenüber. Gegenwärtig wird sich nicht eine ernsthafte Struktur dazu entschließen, die Verantwortung zu übernehmen, mit Zahlen jenes Niveau des Konsums zu belegen, den es – sagen wir einmal – im Jahr 2035 geben wird, und umso mehr im Jahr 2050. Daher müssen wir vorerst eher über Trends sowohl in Europa als auch in Deutschland sprechen.
Einerseits sind die Argumente ziemlich offensichtlich, die belegen, dass Deutschland und insgesamt die Europäische Union zusätzliche Mengen importierten Gases benötigen.
Das erste Argument hängt mit dem aggressiven Umsetzen der Klima-Agenda zusammen. Ursprünglich war die Reihenfolge in dieser Kohlenstoff-Triade solch eine: Zuerst soll die Kohle „sterben“, danach sollen das Öl und das Erdgas „sterben“. Mehr noch, das Gas trat in den Plänen oft gerade auch als Übergangsbrennstoff und -energieträger von der Kohlenstoffrealität zur Welt der grünen Energie auf. Ja, und in Deutschland beobachten wir einen gleichzeitigen Ausstieg aus der Kohle und der Kernenergie. In solch einer Situation ist eine Energiebalance ohne eine Zunahme des Gasverbrauchs einfach unmöglich. Die grüne Energie ist schon kein Zugpferd, wobei ihr Anteil in Deutschland und Dänemark heute der größte in der EU ist. Übrigens, die Elektroenergie ist doch auch die teuerste. Dies belegt, dass es immer schwieriger und komplizierter wird, weiter zur grünen Energiewirtschaft überzugehen. Daher sind ohne eine Zunahme der Nutzung von Gas die in Europa gesetzten Klima-Ziele einfach nicht zu erreichen.
Interessant ist hervorzuheben, dass sich das Jahr 2021 aus der Sicht des Klima-Zynismus als ein ungewöhnliches erwiesen hat. Die Statistik zeigt, dass im Verlauf des Jahres der Anteil der Kohle an der Energiebilanz im ersten Halbjahr in Deutschland und auch in Europa auf einen Stand von 15 Prozent zurückgekehrt ist. Laut Berechnungen des deutschen Konzerns RWE in Bezug auf Lignite (Braunkohle) sehen wir im ersten Quartal ein Wachstum um 20 Prozent. Und dies ungeachtet dessen, dass die Kosten der CO2-Emissionen 50 Euro pro Tonne überschritten haben. Freilich, auch das Erdgas hat sich stark verteuert. Es ist aber offensichtlich, dass, wenn die EU real vorhat, eine Klimaneutralität zu erreichen, die Nachfrage nach Gas zu forcieren ist. Und die Klima-Eigenschaften des Gases müssen im Übrigen auch bezahlt werden.
Das zweite Argument zugunsten eines Gasimports durch Europa hängt mit dem Rückgang der eigenen Förderung aufgrund der Stilllegung von Groningen und insgesamt mit der Situation in den Niederlanden zusammen. (Im Jahr 2017 wurden die Niederlande erstmals in der Geschichte zu einem Netto-Importeur von Gas. Der Jahresverbrauch an Gas überstieg in diesem Land den Umfang der eigenen Förderung. Bis zum Jahr 2022 plant die Regierung, die Förderung auf dem Groningen-Feld – der größten Erdgaslagerstätte in Europa – bis auf 12 Milliarden Kubikmeter zu reduzieren. Und bis zum Jahr 2030 – vollkommen einzustellen. – „NG“)
Wenn Sie schon aber auf eine konkrete Prognosezahl bestehen, so ist es besser, wenn ich eine sogenannte Konsens-Prognose verwende. Zu ihr gehören Prognosen internationaler Organisationen, von Energieunternehmen und Consulting-Agenturen. Sie nimmt an, dass der Gasverbrauch in Europa doch zurückgehen wird, aber der Import wird da zunehmen. Der zusätzliche Umfang des Imports durch Europa wird im Jahr 2030 rund 50 Milliarden Kubikmeter ausmachen. Aber ich werde übrigens nicht überrascht sein, wenn auch die physische Nachfrage nach Gas in zehn Jahren tatsächlich über dem heutigen Stand des Verbrauchs liegen wird.
Natürlich gibt es in der Gas-Gleichung viele Unbekannte. Werden zum Beispiel die Wasserstoff-Pläne realisiert und erkennt Europa letzten Endes den „blauen“ Wasserstoff an, der mit einer Abscheidung und Speicherung von Treibhausgasen (CCS = Carbon Capture and Storage) erzeugt wird? Wichtig ist gleichfalls das Preisniveau. Schauen Sie sich einmal das Jahr 2021 an. Die Situation auf dem Gasmarkt hat sich im Vergleich zum Jahr 2020 radikal geändert. Während man sich im vergangenen Jahr in Europa an den Preisen, am Wettbewerb ergötzte und die Auffassung vertrat, dass sich der Markt der Käufer für Jahrzehnte im Voraus eingependelt habe, hat sich im Jahr 2021 alles verändert. Es genügten der kalte Winter, ein heißer Sommer, die leeren Gasspeicher und die Zunahme der Gaspreise in Asien, die im Januar in die Höhe gegangen waren. Es stellte sich heraus, dass es nicht reicht, LNG-Terminals zu errichten. Und die erneuerbaren Energiequellen decken auch nicht die Spitzennachfrage ab, solange wir es nicht gelernt haben, Elektroenergie in Industrie-Dimensionen zu speichern (entweder in großen Akkumulatoren oder in Wasserstoff). Von daher übrigens auch die Unterstützung für „Nord Stream 2“ durch Deutschland. Sie hängt mit dem Begreifen dessen zusammen, dass ein Übergang zu einem klimaneutralen Europa ohne zusätzliche Gasmengen unmöglich ist.
Derzeit aber erfolgt eine sehr interessante Diskussion in Europa zum Thema: Machen wir es richtig, dass wir uns für das Erdgas engagieren? Dies ist eine relativ neue These, die die radikalen Verfechter der grünen Energie propagieren und zu denen auch die Internationale Energieagentur gehört. Sie beginnen zu behaupten, dass sich ein Hang zum Gas sogar als ein gefährlicher aus der Sicht der Klimastabilität erweisen könne. Diese These ist eine relativ neue und erfordert eine ernsthafte Verarbeitung und Begreifen. Es ergibt sich ein merkwürdiges Bild. Einerseits begreift die Europäische Union, dass man ohne Gas keine Kohlenstoff-Neutralität erzielen kann. Andererseits aber bestehen die Ängste, darunter die Befürchtung, in eine Abhängigkeit von Russland zu geraten, die jetzt in Klima-Sujets verpackt werden. Man hat angefangen, über Methan als ein gefährliches Treibhausgas zu sprechen. Man beginnt, Schätzungen hinsichtlich der Methan-Emissionen bei der Erdgasförderung vorzunehmen, beurteilt werden die Methan-Austritte an Verdichterstationen und Pipelines.
Es ist klar, dass Methan vom Prinzip her zu den Treibhausgasen gehört. Um zu begreifen, worin das Wesen der Treibhausgase besteht, muss daran erinnert werden, dass dies Gase mit einer hohen Transparenz im sichtbaren Bereich und mit einer hohen Absorptionswirkung im Infrarot-Bereich sind. Anders gesagt: Sie lassen das Sonnenlicht durch. Dabei halten sie aber die von der Erdoberfläche ausgehende Wärme- (Infrarot-) Ausstrahlung auf. Es macht Sinn, daran zu erinnern, dass das hauptsächlichste Treibhausgas Wasserdampf ist (er ist zu beinahe 70 Prozent für den Treibhausgaseffekt verantwortlich). Auf Methan entfallen etwa 16 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen. Methan wird vor allem durch die Tätigkeit von Mikroben im Zuge der Mineralisierung organischen Kohlenstoffs freigesetzt, die unter harten anaeroben Bedingungen erfolgt, beispielsweise in morastigen Böden und im Magen-Darm-Trakt von grasfressenden Tieren. Außerdem passieren Methan-Emissionen auf im Ergebnis der Tätigkeit des Menschen, beispielsweise bei der Erkundung von Erdgaslagerstätten, beim Verbrennen von Biomasse und bei der Förderung von Kohle. Vorerst aber ist ohne Erdgas – und ergo auch ohne Methan – ein Übergang zu einer vollkommen klimaneutralen Zukunft nach Einschätzungen vieler Experten unmöglich.
Es sei daran erinnert, dass die Diskussion über die „Methan-Spur“ des russischen Erdgases nach einer Erklärung der US-Energieministerin Jennifer Granholm, wonach das russische Gas das „schmutzigste“ sei, begonnen hat. Bei Anhörungen im Ausschuss des Repräsentantenhauses des US-Kongresses für Wissenschaft, Raumfahrt und Technologien hatte man sie gebeten, den Bau der Gaspipeline „Nord Stream 2“ zu kommentieren. Sie betonte, dass über diese die „schmutzigste Form von Erdgas auf der Erde“ transportiert werde. Natürlich ist die Methan-Spur des russischen Gases nicht mit jenen Emissionen zu vergleichen, die die USA bei der Gasförderung mittel Hilfe des Frackings verursachen.
Übrigens, aus der Sicht von GAZPROM-Chef Alexej Miller „wird die Kohlenstoffspur der Gaslieferungen über „Nord Stream 2“ um einiges geringer als über die Route durch die Ukraine sein“. Dies hängt gerade mit dem Verschleiß und der Abnutzung des ukrainischen Gastransportsystems zusammen.
Die EU und Deutschland haben nicht nur Kurs auf das Erreichen einer Klimaneutralität genommen. Sie haben sich aber auch eine neue Zukunft ausgedacht – den grünen Wasserstoff. Mir scheint, dass die Geschichte mit dem Wasserstoff direkt die Diskussion über die Klima-Eigenschaften des Gases stimuliert. Deutschland räumt aktiv dem grünen Wasserstoff das Recht ein, die einzige richtige und klimaneutrale Art künftiger Brennstoffe bzw. Energieträger zu sein. Wir verstehen, worin die Logik Deutschlands besteht, da die Diskussion, was man als klimaneutralen Wasserstoff anerkennen kann, sehr wichtig ist. Wenn du außer grünen Wasserstoff nichts anerkennst, bedeutet dies, dass du von vornherein den Raum für die Kernenergie und auch für die mit Gas arbeitende Energiewirtschaft einschränkst. Wenn du aber auch blauen Wasserstoff anerkennst, der aus Methan mit einem Abscheiden von Kohlendioxid gewonnen wird, und türkisen Wasserstoff, der durch Methanpyrolyse und auch ohne Emissionen erzeugt wird, und gelben Wasserstoff, der mit Kernenergie gewonnen wird, so ist dies dann auch eine ganz andere Linie der technologischen Entwicklung. Gerade der Kampf zwischen den sturen Anhängern des grünen Wasserstoffs und den realistischeren Anhängern einer „bunten“ Wasserstoff-Gleichheit bei gleichartigen Klima-Eigenschaften wird auch die Zukunft der europäischen Energiewirtschaft und die Situation hinsichtlich der Nachfrage nach Gas auf dem europäischen Markt bestimmen.
Es ist klar, dass die deutsche Industrie plant, Anlagen und Ausrüstungen für die Erzeugung von grünem Wasserstoff herzustellen, beispielsweise Elektrolyse-Anlagen. Daher rechnet Berlin damit, dass die Verleihung des Status an den grünen Wasserstoff, der einzige Erlöser der Menschheit von der Klimagefahr zu sein, einen zusätzlichen Absatzmarkt schafft. Aber wir verstehen doch ausgezeichnet, dass dies sowohl mit den Umfängen der Erzeugung als auch mit dem Preis für grünen Wasserstoff zusammenhängt. Ich verstehe nicht, wie die Europäische Union beabsichtigt, ihre Energiebalance zu wahren, indem sie ernsthaft auf den blauen und türkischen Wasserstoff verzichtet. (Bei ihrer letzten Sommer-Pressekonferenz hatte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel am 22. Juli der Notwendigkeit zugestimmt, die Frage nach der Erzeugung blauen Wasserstoffs zu untersuchen. – „NG“). Somit ist die Frage hinsichtlich der Zukunft der Wasserstoff-Energiewirtschaft eng mit der Frage verbunden: Wieviel Gas braucht die europäische Energiewirtschaft? Meine Prognose ist: Ohne eine Zunahme der Nachfrage nach Erdgas kann die EU weder eine Klimaneutralität noch eine Umsetzung der Pläne zur Wasserstoff-Erzeugung erreichen.
Wenn wir über den heutigen Zeitpunkt sprechen, so versuchen viele Länder, solange das Gas eine wichtige Rolle in der Energiebilanz Europas spielt, daran zu verdienen und ihre eigenen Ausgangs- bzw. Stützpunkte, sogenannte Hubs für den Gashandel zu schaffen. Es kann dabei bereits um Polen gehen, um die Türkei. Wenn man vom nigerianischen Gas spricht, das in ein paar Jahren über eine Pipeline in Marokko nach Spanien und weiter nach Europa fließen kann: Wie sehen Sie das Problem des Konkurrenzkampfes der verschiedenen Gasproduzenten? Und wo ist in ihm der Platz für das russische Gas?
Alle sind von den Ideen der Hubs begeistert, alle wollen damit Geld verdienen. Hier ergibt sich eine Frage: Entsprechend welchen Regeln soll das Erdgas auf den europäischen Märkten in der nächsten Perspektive gehandelt werden? Wie wird technisch der Gasmarkt in Europa aussehen? Es gibt die Idee vom „Käufer-Markt“, die derzeit in Europa die dominierende ist.
Die Idee vom „Hub-Handel“ ist vom Wesen der Sache her eine Idee hinsichtlich kurzfristiger Verträge. Hubs werden dort gebraucht, wo Spot-Börsen-Geschäfte abgeschlossen werden. Ein Hub ist nicht nur ein logistisch komfortabler Ort, an dem die Erzeuger zusammenkommen. Die Hub-Idee ist eine Idee des Wettbewerbs, eines Konkurrenzkampfes verschiedener Lieferanten um den Käufer, der am Hub Gas abnimmt und es weiter dorthin transportiert, wo er es braucht – über unabhängige Gaspipelines, die vom Gasproduzenten losgelöst sind. Was im Grunde genommen aus das Dritte Energiepaket vorgesehen hat.
Dabei gehen die Ideologen der Hubs davon aus, dass das Angebot an ihnen stets ein überschüssiges sein wird. Ich halte dies für einen Schwachpunkt dieser Konzeption. Er wurde gerade im Juni-Juli dieses Jahres recht deutlich. Und das Problem besteht darin, dass der Markt der kurzfristigen Verträge, wo es keine langfristigen Beziehungen gibt, keine Garantien für den Erhalt der notwendigen Gasmengen in Spitzenzeiten gibt. In dem jeweiligen Moment kann es sich herausstellen, dass an irgendeinem Punkt der Welt der Preis für das Gas zu einem vorteilhafteren wird. Und die Tanker mit dem LNG können leicht in Richtung des vorteilhafteren Käufers umgelenkt werden. Es ist sogar solch ein Begriff aufgekommen – „obdachloses Gas“. Bisher macht es keinen Sinn zu erwarten, dass das LNG und die Hubs zur Bildung eines geschlossenen internationalen Gasmarktes führen werden. Die Preise, wenn wir die hauptsächlichen Spot-Indexe nehmen, unterscheiden sich doch auf wesentliche Weise. Natürlich wird die EU strategisch darauf bestehen, dass die langfristigen Verträge der Vergangenheit anheimfallen müssen. Das Wichtigste besteht aber darin, dass die langfristigen Verträge dem Käufer Garantien für den Erhalt der Ware in den nötigen Mengen gaben. Und was interessant ist: Wenn man sich den LNG-Handel anschaut, so kann man auch dort nach wie vor einen recht großen Anteil der langfristigen Verträge ausmachen. Und in dieser Hinsicht ist der LNG-Markt kein ausschließlicher Spot-Markt. Was die Liquidität an den Hubs angeht, so funktioniert dieses Modell bei Bestehen einer Konkurrenz und eines Profizits (eines positiven Saldos) auf dem Markt. Bei den gegenwärtigen Preisen von 450 bis 500 Dollar für 1000 Kubikmeter wird der Gasmarkt Investitionen anlocken. Doch wie lange wird dies der Fall sein? Der Gasmarkt ist ein recht volatiler. Es ist recht schwierig, über die Perspektiven des Gasverbrauchs in Europa in der Zukunft zu sprechen.
Das Erdgas besitzt auch eine ernsthafte politische Komponente. Hier dreht sich die Frage um die Nutzung des ukrainischen Gastransportsystems. Wie harmoniert dies miteinander? Einerseits der Kampf um die Fortsetzung der Nutzung des ukrainischen Gastransportsystems für den Transport des russischen Gases in den anstehenden Jahrzehnten nach Europa. Andererseits – der Verzicht auf Erdgas als Energieträger.
Wenn Europa an den grünen Wasserstoff glauben würde, würde es nicht die Verlängerung des Transitvertrages fordern, sondern würde der Ukraine vorschlagen, die Röhren für die Lieferung eben dieses grünen Wasserstoffs umzurüsten. Schließlich beabsichtigt die Ukraine, es zu erzeugen. Nun, bitte schön! Wir verstehen ausgezeichnet, dass dies alles neue Phantasien sind, die an den wirtschaftlichen Realitäten Schiffbruch erleiden werden. Doch in Brüssel und Kiew spricht man aber mit einem Pathos davon, dass man sich eine geniale Idee ausgedacht habe. Da ergibt sich die Frage: Warum bedrängt man uns da mit der Forderung, mit der Ukraine einen 10-Jahres-Vertrag für den Transport unseres Gases (durch die Ukraine) abzuschließen? Tatsächlich ist alles richtig. Die Idee von der Produktion grünen Wasserstoffs in der Ukraine mit dessen anschließenden Transport (nach Europa) hält keinerlei Kritik stand. Die Sache ist die, dass selbst der Transport eines Gemischs aus Methan und Wasserstoff mit einer Korrosion des Metalls verbunden ist. Die für den Methan-Transport gebauten Pipelines können keinen Wasserstoff transportieren. Noch verderblicher ist Methan für die Verdichterstationen. Dabei wissen wir nicht, in welchem Zustand sich derzeit das ukrainische Gastransportsystem befindet. Es hat schon lange kein Audit diesbezüglich gegeben. Freilich hatte es auch keine großen Havarien gegeben.
Leider ist das Thema des Transits durch die Ukraine übermäßig politisiert worden. Unsere Argumente bezüglich des wirtschaftlichen Sinns von „Nord Stream 2“ will keiner hören. Aber die sind schließlich offenkundig. Die Förderung hat sich von Urengoi auf die Halbinsel Jamal, nach Bowanenkowo verlagert. Dies ist weitaus nördlicher. Und die Entfernung von der Jamal-Halbinsel bis zum Verbraucher ist um 1900 Kilometer kürzer als der alte bzw. bisherige Weg durch die Ukraine. Dies ist ein gewaltiger Unterschied! Der Produzent wird bei den Kosten wesentlich sparen, indem er das Gas über die weitaus kürzere Route transportiert. Das bedeutet, dass GAZPROM im Konkurrenzkampf um den Abnehmer ein zusätzliches Argument haben wird. Es gewinnt dabei aber letzten Endes auch der Verbraucher. Dies auch ist der Markt.
Die Europäer wollen ihren Gasmarkt sowohl durch das US-amerikanische LNG als auch durch den Südlichen Gaskorridor und durch das neue Gas, dass in wenigen Jahren aus Schwarzafrika kommen wird, als einen für den Wettbewerb offeneren sehen. Nun, dann lassen Sie auch Russland die Selbstkosten reduzieren! Anstelle einer ehrlichen marktwirtschaftlichen Entscheidung versucht man aber, Russland nachzuweisen, dass es beabsichtige, die Ukraine politisch zu erwürgen, indem man ihr die Einnahmen aus dem Transport des russischen Gases über eine Route, die veraltete und für Russland zu einer unvorteilhaften geworden ist, zu nehmen. Der europäische Verbraucher müsste doch aber daran interessiert sein, preiswertes Gas ohne Aufschläge im Zusammenhang mit dessen Transport über eine längere Route zu bekommen. Dies ist keine Frage hinsichtlich einer politischen Bestrafung der Ukraine, sondern lediglich eine der Erhöhung der Rentabilität und Verringerung der Selbstkosten. Irgendwie hat man vergessen, dass wir „Nord Stream 1“ ganz und gar unter Präsident Janukowitsch gebaut hatten, den man im Westen für einen prorussischen hielt.
Natürlich, wenn sich in Europa eine zusätzliche Nachfrage ergibt, kann das ukrainische Gastransportsystem als eine Reservekapazität betrachtet werden. Und wir sind nicht gegen dessen Nutzung. Es ergibt sich nur die Frage: Warum sollen wir noch irgendwelche Pflichten zusätzlich zu dem Vertrag übernehmen, der im Jahr 2019 für fünf Jahre abgeschlossen wurde. Nach dem Jahr 2024 hat Russland keinerlei verbindliche Abkommen mit der Ukraine. Die Ukrainer aber fordern einfach vom Westen, Russland zu zwingen, den Gastransit über das Territorium der Ukraine beizubehalten, anstatt für Russland kommerziell attraktive Angebote zu unterbreiten, beispielsweise durch eine Reduzierung der Tarife für den Gastransit oder die Nutzung der ukrainischen Gasspeicher. Da stellt sich die Frage, wer befasst sich denn da mit einer Politisierung der Energiewirtschaft? Außerdem erwarten uns harte Kämpfe um die Bedingungen für die Nutzung von „Nord Stream 2“. Wir schlagen vor, an diese Frage ökonomisch heranzugehen. Es gibt beispielsweise im europäischen Recht die Möglichkeit, einen unabhängigen Betreiber zu schaffen – einen independent transmission operator. Entsprechend dieser Variante sind die Entscheidungen bezüglich des Problems der Tarife mit der deutschen Aufsichtsbehörde abzustimmen. Mitarbeiter von GAZPROM können nicht in den Leitungsorganen des Betreibers arbeiten und ihnen angehören. Alle Hauptsysteme (IT, Buchhaltung u. a.) müssen getrennt sein. GAZPROM darf dem Betreiber keinerlei Leistungen erbringen (oder nur mit Billigung der Aufsichtsbehörden). GAZPROM ist bereit, dies zu tun. Dem Konzern erlaubt man aber nicht, dies zu tun. Brüssel sagt in vollem Ernst, dass es nicht von seinem Recht ausgehen werde, sondern von einem rätselhaften Prinzip der europäischen Energiesolidarität. Gerade so wurde der Gerichtsstreit hinsichtlich des Betriebs der Pipeline OPAL entschieden. Leider erinnert dies alles an bolschewistische Vorgehensweisen, als die politische Zweckmäßigkeit Rechtsnormen ersetzte.
Das Interview ist bei der Unterstützung von SNGPR Consulting vorbereitet