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Nukus hat Taschkent herausgefordert


Die Offiziellen Usbekistans haben in Karakalpakstan den Ausnahmezustand vor dem Hintergrund von Protesten, die durch die vorgeschlagenen Änderungen an der Landesverfassung ausgelöst wurden, verhängt. Präsident Schawkat Mirsijojew, der eiligst nach Nukus – in die Hauptstadt der Autonomie – gekommen ist, hat vorgeschlagen, auf die Vornahme der Änderungen zu verzichten, die den Status der Republik Karakalpakstan verändern. Das Innen- und das Außenministerium Usbekistans haben das Geschehen als den Versuch einer Machtergreifung mit Unterstützung äußerer Kräfte bezeichnet.

Usbekistans Parlament hat den Erlass des Präsidenten über die Verhängung des Ausnahmezustands in Karakalpakstan bestätigt, der bis zum 2. August 2022 gelten wird. Gleichzeitig wird in der Autonomie ein nächtliches Ausgehverbot von 21.00 bis 07.00 Uhr verhängt. Für die Dauer des Wirkens des Ausnahmezustands wird eine Kommandantur geschaffen, die der Befehlshaber der Nationalgarde Usbekistans leiten wird.

Eingeschränkt werden die Ein- und die Ausreise aus Karakalpakstan und die Bewegungsfreiheit, verboten wird die Organisierung friedlicher Versammlungen, von Unterhaltungs-, Sport- und anderen Massenveranstaltungen, aber auch von Streikaktionen.

Dies bedeutet, dass das früher von dem einheimischen Aktivisten Dauletmurat Taschimuratow angekündigte Meeting, das für den 5. Juli geplant war, abgesagt wird. Zum Anlass für die Proteste war der Entwurf der neuen Verfassung Usbekistans geworden, in die neben der Veränderung der Präsidentenamtszeit noch weitere rund 200 Änderungen vorgenommen werden sollen, unter denen mehrere Bestimmungen über die Souveränität der Republik Karakalpakstan und deren Recht auf ein Ausscheiden aus dem Bestand Usbekistans ausgeschlossen werden sollen.

Das Schicksal dieser Republik ist kein einfaches. Sie hatte mehrfach die „Meldeadresse“ geändert. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts war sie im Bestand der Kasachischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik gewesen und hieß Kara-Kalpakisches Autonomes Verwaltungsgebiet. 1936 wurde sie in den Bestand der Usbekischen SSR integriert. Und 1964 erhielt sie den Status einer Autonomie im Bestand Usbekistans. Am 14. Dezember 1990 unterzeichnete der Oberste Sowjet der Karakalpakischen ASSR eine Deklaration über die staatliche Souveränität. Am 9. Januar 1992 wurde sie in die Republik Karakalpakstan umgewandelt. Und 1993 wurde ein Vertrag mit einer Laufzeit von 20 Jahren über den Beitritt der Republik zu Usbekistan unterzeichnet. Dieser Vertrag hatte das Recht der Bevölkerung auf die Abhaltung eines Referendums über ein Ausscheiden aus Usbekistan vorgesehen.

In Karakalpakstan, das sich Nordwesten Usbekistans, im Deltagebiet des Amudarjas am Südufer des Aralsees befindet, leben rund zwei Millionen Menschen. Dies sind etwa fünf Prozent der Bevölkerung Usbekistans. Aber unter Berücksichtigung der hohen Geburtenrate kann die Zunahme der Bevölkerungszahl bereits in zehn, zwanzig Jahren rund acht Millionen Menschen ausmachen. Hinsichtlich der ethnischen Zusammensetzung leben in der Republik Usbeken, Karakalpaken, die bezüglich der Traditionen und der Sprache den Kasachen nahe sind, und Kasachen. Ungeachtet dessen, dass die Fläche der Republik eine recht große ist, rund 40 Prozent Usbekistans, und die Region reich an Bodenschätzen ist – dort gibt es Erdöl, Gas und Gold -, ist sie noch seit den Sowjetzeiten eine Region, die in starkem Maße von Haushaltszuschüssen aus dem Zentrum abhängt. Und nach der Versandung des Aralsees gilt die Region als eine ökologisch ungünstige. Die Böden sind dort vor allem salzhaltige, auf denen es schwierig ist, sich mit landwirtschaftlichen Arbeiten zu befassen.

„Karakalpakstan ist einer der Hauptempfänger von Subventionen und Zuschüssen aus dem Haushalt der Republik Usbekistan. In der Region herrscht große Arbeitslosigkeit, besonders unter der Jugend, selbst ungeachtet dessen, dass die Zentralregierung Usbekistans in den letzten fünf Jahren praktische Arbeiten zur Verbesserung der sozial-ökonomischen Situation in Karakalpakstan begonnen hat. Gebaut werden Straßen, eine Gasleitung, eine Wasserleitung, neue Industriebetriebe und sogar ein Flughafen. Realisiert wird ein Projekt zur Begrünung des Bodens des ausgetrockneten Aralsees, der sogenannten Aralkums. Dort werden neue Aufzuchtstationen gebaut, in denen Setzlinge für dieses Projekt großgezogen werden. Insgesamt ist die Zone des Aralsees – der Hauptteil von Karakalpakstan – zu einer Region ökologischer Innovationen geworden. Aber es bleiben noch Probleme. Und die muss man lösen“, sagte der „NG“ Bachtijer Ergaschew, Direktor des Zentrums für Forschungsinitiativen Man’o. Nach seinen Worten hätten bestimmte Kräfte, die an der Realisierung ihrer Ambitionen interessiert seien, begonnen, die Frage nach einer Änderung der neuen Verfassung aufgeworfen, in die der Status von Karakalpakstan angepasst werden sollte. Da es de facto keine Souveränität von Karakalpakstan gegeben hat und diese nicht existiert – mit Ausnahme der staatlichen Symbole – der Flagge und des Wappens.

„Die einheimische Elite hat unter Ausnutzung nationalistischer und separatistischer Stimmungen eine Welle des Unmuts losgetreten. Dabei hatte es das Problem des karakalpakischen Separatismus stets gegeben. Zu Beginn der 90er Jahre war es ein sehr offenkundiges. Später setzte eine Pause ein. Und heute gibt es eine neue Etappe. Dies wird eine ernsthafte Herausforderung für jene Reformpolitik sein, die gegenwärtig in Usbekistan realisiert wird“, meint Ergaschew.

Es sei daran erinnert, dass am 1. Juli Einwohner von Nukus, mehrere hundert Menschen, nach dem Freitagsgebet auf den Platz vor dem Kolchosmarkt gekommen waren, wo der Aktivist Taschimuratow die vorgeschlagenen Änderungen für den Verfassungsentwurf erläuterte, die für eine landesweite Diskussion am 25. Juni veröffentlicht worden waren. Er unterbreitete gleichfalls den Vorschlag, ihn zum Anführer zu ernennen, der die Souveränität von Karakalpakstan verteidigen werde. Die Ereignisse hatten sich rasant entwickelt. Und bis zum Abend waren bereits bis zu 5.000 Protestierende zusammengekommen. Auf Bildern, die in den sozialen Netzwerken verbreitet wurden, ist zu sehen, wie man das Volk auf dem Platz „aufgeheizt hatte“, wonach Menschenmengen mit Flaggen von Karakalpakstan durch die Straßen der Stadt zogen. Die Vertreter der Rechtsschutzorgane versuchten, den widerrechtlichen Umzug zu stoppen, stießen jedoch auf Widerstand. Von der einen Seiten wurden Steine geworfen, von der anderen Tränengas eingesetzt. Nachts waren Schüsse zu hören. Wer geschossen hatte und von wo – ist unbekannt. Im Ergebnis dessen gibt es aber viele Verletzte und auch Tote (laut Angaben vom Montag – 14 Zivilisten und vier Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane). Präsident Mirsijojew hat dies am Sonntag bestätigt.

Bis in die Morgenstunden des Samstags hatten die Rechtsschützer die Situation unter Kontrolle gebracht. Präsident Schawkat Mirsijojew war nach Nukus gekommen. Bei einer Beratung im hiesigen Parlament schlug er vor, die Verfassung unverändert zu lassen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Entscheidung eine erzwungene war, um eine langfristige Konfrontation und großangelegte Protestaktionen zu vermeiden. Andererseits hätten nach Meinung von Ergaschew die einheimischen Eliten das Signal erhalten, dass, wenn man Menschen auf die Straßen bringt, man Taschkent nötigen könne, sich selbst in prinzipiellen Fragen auf Zugeständnisse einzulassen. Die Veränderungen in der Verfassung sind aber eine prinzipielle Frage, da es nicht nur um die Präsidentenamtszeit oder die Souveränität von Karakalpakstan geht, sondern auch Änderungen an den Gesetzen vorgenommen werden, die die örtliche Selbstverwaltung, die politischen Parteien, die Bürgerrechte und -freiheiten u. a. betreffen.