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Nur das Weiße Haus kann die Minsker Verhandlungen wieder auf den Weg bringen


Die Minsker dreiseitige Kontaktgruppe hat am vergangenen Donnerstag nach der Sommerpause die Verhandlungen im Videokonferenz-Regime wiederaufgenommen. An den Gesprächen nahm erstmals der neue OSZE-Vertreter, der finnische Diplomat Mikko Kinnunen, teil. Die Delegation der Russischen Föderation hatte noch im Juli vorgeschlagen, endlich wieder am Verhandlungstisch zusammenzukommen. Kiew ist aber nicht gewillt, eine Delegation nach Minsk zu entsenden. Zumindest solange es keine Bewegungen auf der Ebene des Normandie-Formats gibt.

Der ukrainische Außenminister Dmitrij Kuleba erklärte dieser Tage: „Wir sind zur Durchführung eines Treffens der Außenminister im Normandie-Format bereit. In erster Linie hängt alles von der Haltung Russlands ab“. Diese Position gab Kuleba im Ergebnis der in Kiew stattgefundenen Gespräche mit dem Außenminister Frankreichs, Jean-Yves Le Drian, bekannt.

Die Seiten waren sich in der Meinung einig, dass man das Normandie-Format beleben müsse. „Wir erwarten von ihm mehr Dynamik“. Von einer Dynamik in den Fragen bezüglich der Konfliktregelung sprach am 22. August in Kiew auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Zwei Tage zuvor hatte sie die Frage bei ihrem Moskau-Besuch diskutiert. Der russische Präsident Wladimir Putin versicherte dem Gast: „Wir sind zu jeder Zeit zu einem Treffen bereit, wenn es einen Verhandlungsgegenstand und ein Begreifen der Ziele dieser Gespräche geben würde“. Die deutsche Kanzlerin versprach, in Kiew eine mögliche Tagesordnung zu erörtern.

Bemerkenswert ist, dass im Verlauf der abschließenden Pressekonferenz Merkel die „Steinmeier-Formel“ nicht erwähnte, obgleich sie noch Mitte Juli Präsident Wladimir Selenskij an sie erinnert hatte. Die Formel, die ein Anknüpfen der Abhaltung von Kommunalwahlen in den von Kiew nichtkontrollierten Gebieten des Donbass an die Gewährung eines Sonderstatus für diese Gebiete vorsieht, löst in der Ukraine viele Fragen aus. Bereits im Dezember des Jahres 2019, als in Paris ein persönliches Treffen der Spitzenvertreter der Ukraine, Russlands, Frankreichs und Deutschlands stattfand, einigten sich die Staatsoberhäupter, alle Fragen in der nächsten Etappe zu erörtern. Zur Bedingung für ein neues Treffen sollte jedoch die Umsetzung einer Reihe von Beschlüssen des Pariser Gipfels werden. Es ging um eine vollkommene Feuereinstellung, die Zulassung internationaler Hilfsorganisationen auf das gesamte Territorium des Donbass und um einen Austausch der festgehaltenen Personen. Im Verlauf von anderthalb Jahren tauschten die Seiten Anschuldigungen hinsichtlich einer Nichterfüllung der erzielten Vereinbarungen aus. In dieser Zeit erfolgten Treffen im Normandie-Format hauptsächlich auf der Ebene von Beratern der Staatsoberhäupter.

Die Gespräche von Merkel und Putin hätten theoretisch den Prozess der Vorbereitung zu einem neuen Summit der „Normandie-Vier“ vom Totpunkt wegbringen können. Bei den Seiten haben sich jedoch in der verstrichenen Zeit viele neue Beanstandungen zusätzlich zu den Fragen, die mit der Umsetzung der Entscheidungen des Pariser Gipfeltreffens zusammenhängen, angehäuft. Gegenwärtig ist zu einem der konfliktgeladensten Themen der Gesetzentwurf über die Übergangsperiode geworden, der in der Werchowna Rada (das Parlament der Ukraine – Anmerkung der Redaktion) im August registriert worden ist. Wladimir Putin ist der Auffassung, dass im Falle einer Annahme des Gesetzes die Ukraine aus dem Minsker Verhandlungsprozess aussteige. „Denn da ist nicht nur etwas, was den Minsker Abkommen widerspricht, da widerspricht alles den Minsker Vereinbarungen. Dies wird faktisch ein Aussteigen der Ukraine aus diesen Abkommen bedeuten“, zitierte die russische staatliche Nachrichtenagentur TASS Putin.

Wie die „NG“ geschrieben hat, ist die Gesetzesvorlage insgesamt den Fragen eines Zurückholens der Territorien, die Kiew als „zeitweilig okkupierte“ anerkennt, unter die Kontrolle der Ukraine gewidmet. Die „Übergangsperiode“ ist in eine „Konfliktperiode“ (die gegenwärtige Situation) und eine „Post-Konfliktperiode“ (nach der Rückkehr unter die Jurisdiktion der Ukraine) unterteilt worden. Wann die erste zu Ende geht und die zweite beginnt, müssen die ukrainischen Offiziellen entscheiden. Angenommen wird, dass der Präsident Beschlüsse hinsichtlich jeder einzelnen Verwaltungseinheit auf der Grundlage von Berichten des Verteidigungs- und des Innenministeriums sowie des Sicherheitsdienstes der Ukraine unterzeichnen wird. Russland kommt in dem Gesetzentwurf als „Aggressor-Staat“ und „Okkupationsstaat“ vor, und die nichtanerkennten Gebilde „Donezker Volksrepublik“ und „Lugansker Volksrepublik“ werden nicht erwähnt. Sie sind mit dem Begriff „Okkupationskräfte der Russischen Föderation“ definiert worden. Gesagt wurde, dass „die von den Okkupationsverwaltungen herausgegebenen Akte ungültige sind, mit Ausnahme einzelner, die gemäß Gesetz beachtet werden können (beispielsweise Geburts-, Sterbe- und Heiratsurkunden – „NG“)“. Die russischen Pässe, die auf dem von Kiew nichtkontrollierten Territorium ausgestellt wurden, werden nicht anerkannt, doch auch eine Bestrafung für die „Ausstattung mit Pässen“ ist nicht für die gewöhnlichen Bürger, sondern für die Personen, die die Ausstellung der Pässe der Russischen Föderation organisierten, vorgesehen. Vorgesehen ist eine selektive Amnestie für jene, die gegen die ukrainischen Streitkräfte kämpften – in dem Falle, wenn die Angeklagten keine schweren Verbrechen verübten. Das heißt, eine automatische Amnestie für alle ist nicht vorgesehen. In der Gesetzesvorlage ist gleichfalls von einer Lustration in Form eines Verbots für die Personen, die im Bestand der „Okkupationskräfte und -verwaltungen“ arbeiteten, bestimmte Funktionen und Ämter zu bekleiden.

Kommunalwahlen im Donbass schickt sich die ukrainische Seite nur in dem Fall an abzuhalten, wenn eine Nichteinmischung Russlands, die Einhaltung der Normen der ukrainischen Verfassung und Gesetzgebung, eine Teilnahme der ukrainischen Parteien sowie die Möglichkeit einer Abstimmung der notgedrungenen Umsiedler und die Präsenz und Kontrolle seitens der OSZE und anderer internationaler Organisationen vollkommen garantiert sind. Bis zu den Wahlen beabsichtigt Kiew, auf den Territorien, die unter die Kontrolle der Ukraine zurückkehren werden, zeitweilige internationale Verwaltungen zu etablieren, zu denen keine Vertreter der Russischen Föderation und der Länder der Organisation des kollektiven Sicherheitsvertrages gehören können. In dem Gesetzentwurf gibt es eine Vielzahl anderer Nuancen. Insgesamt aber passt die ukrainische Haltung weder der Führung der „Donezker Volksrepublik“ und der „Lugansker Volksrepublik“ noch Russland. In Moskau empfiehlt man Kiew, keine einseitigen Entscheidungen zu fällen, sondern sich direkt mit Donezk und Lugansk über eine Konfliktregelung zu einigen.

Gegenwärtig erfolgen die Gespräche nur im Minsker Format. Und selbst im Videokonferenz-Regime kommt es regelmäßig zu Skandalen aufgrund der Zusammensetzung der Teilnehmer. Zum Sommeranfang trat die ukrainische Delegation kategorisch gegen eine Teilnahme von Maja Pirogowa an den Gesprächen auf, die die Position der Einwohner der „Donezker Volksrepublik“ vertreten sollte. In der Ukraine ist Pirogowa in Abwesenheit wegen Terrorismus verurteilt worden. Daher lehnten die Mitglieder der ukrainischen Delegation einen Dialog mit ihrer Teilnahme ab. Und in dieser Woche haben die Gespräche erneut zu nichts geführt. In Kiew hatte man mitgeteilt, dass „weniger als 24 Stunden vor Beginn der Tagung Russland die Mitteilung über eine Hinzuziehung der Bürgerin der Ukraine Maja Pirogowa, die in der Ukraine wegen Terrorismus verurteilt wurde, zur Arbeit der humanitären Untergruppe gesandt hatte. Die ukrainische Delegation betrachtet dies als den bewussten Versuch, die Konsultationen zum Scheitern zu bringen, besonders unter Berücksichtigung der vorangegangenen Erfahrungen aus der Blockierung der Arbeit der politischen Untergruppe durch die russische Delegation gerade auf solch eine Art und Weise. Die ukrainische Delegation führt keine Konsultationen mit Personen, die wegen Terrorismus verurteilt worden sind“.

Insgesamt hatte sich die Tagesordnung der Gespräche nicht von den Juni- und Juli-Treffen unterschieden. Die Seiten hatten sich erneut angeschickt zu diskutieren, wie die Beschlüsse des Pariser Gipfels der „Normandie-Vier“ realisiert werden. Man wollte über das Regime einer vollständigen Feuereinstellung, über einen Gefangenenaustausch sowie über die Öffnung von Kontroll- und Übergangsstellen an der Trennungslinie sprechen. Im Juli, als der neue OSZE-Vertreter in der trilateralen Kontaktgruppe benannt worden war, schlug der russische Delegationsleiter Boris Gryslow vor, ab Ende August die Treffen in Minsk wiederaufzunehmen. Nach seiner Meinung hätten die persönlichen Kontakte der Delegationsmitglieder erlaubt, die gestellten Aufgaben effektiver zu lösen. In Kiew hatte man den Vorschlag zurückgewiesen. Offiziell war von Gefahren im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie die Rede. Inoffiziell hatten Mitglieder der ukrainischen Delegation die Vermutung geäußert, dass „Russland durch ein Treffen in Minsk im Präsenz-Format das Image von Lukaschenko aufbessern möchte“. Allerdings hätte ein persönliches Treffen nichts in den Herangehensweisen der Seiten verändert. Die Situation könnten theoretisch die Spitzenvertreter der Staaten der „Normandie-Vier“ beeinflussen. Quellen in Kiew berichten, dass für September vorab Gespräche der Außenminister geplant seien. Bis zu diesem Zeitpunkt wird Wladimir Selenskij mit Joseph Biden im Verlauf seines Washington-Besuches sprechen. Und bis Ende des Jahres sei ein Gipfeltreffen im Normandie-Format unter Teilnahme bereits des neuen deutschen Bundeskanzlers möglich.