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Offener Ärzte-Brief fügte sich in die Kampagne für QR-Codes ein


Die Chefärzte von elf Krankenhäusern Russlands haben Vakzinierungsgegnern – Parteiführern, Politikern und einfach Medien-Figuren – einen Brief (der Wortlaut ist am Ende des vorliegenden Beitrags – Anmerkung der Redaktion) geschrieben. Ihnen allen haben sie angeboten, „rote Zonen“ zu besuchen, um die Leiden der Menschen zu sehen und danach das Lager der Anti-Vaxxer (Impfgegner) zu verlassen. Praktisch alle Adressaten haben sofort geantwortet, wobei sie erklärten, dass sie nicht gegen die Impfungen seien, sondern gegen jegliche Nötigung zu diesen. Dabei haben solch ein Appell an Emotionen, auf die auch der „Brief der Chefärzte“ basiert, und sein kategorischer Ton den Verdacht ausgelöst, dass dies nicht mehr als eine Etappe der Kampagne zur Unterstützung der Einführung von QR-Codes ist. Aus der Staatsduma (dem Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) kamen am 24. November noch widersprüchliche Angaben über den Zeitplan für die Behandlung solcher Gesetzesvorlagen. Unbestimmtheit fügt auch der Präsident hinzu, der wieder von einer ausschließlich freiwilligen Vakzinierung sprach, wobei er sich selbst als ein Beispiel präsentierte.

Der „Brief der Chefärzte“ richtet sich sowohl an den breiten Kreis der Anti-Vaxxer insgesamt als auch an konkrete Personen aus diesem Bereich, beispielsweise an den KPRF-Chef Gennadij Sjuganow und den Co-Vorsitzenden der Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ Sergej Mironow. Dort sind unter ihnen aber auch noch der stellvertretende Staatsduma-Vorsitzende Pjotr Tolstoi aus der Kremlpartei „Einiges Russland“, der Politologe Sergej Kurginian, der ehemalige Duma-Abgeordnete Wjatscheslaw Lysakow, die Schauspielerin Maria Schukschina und der Schauspieler Jegor Berojew, die Schlagersängerinnen Natalia Wetlizkaja und Katja Lel, der Fernsehmoderator Oskar Kutschera sowie die Musiker Konstantin Kintschew und Jurij Losa. Die Autoren des Schreibens, unter denen Chefärzte und Abteilungsleiter führender Krankenhäuser des Landes sind, die sich auf die Behandlung von Coronavirus-Erkrankungen spezialisiert haben, erklärten von vornherein, dass ihnen die Position der Adressaten hinsichtlich der Vakzinierung bekannt sei, hatten aber beschlossen, sie nicht zu wiederholen.

Sie haben die Adressaten zu sich eingeladen, um sie „durch die „roten Zonen“, die Intensivstationen und Pathologie-Abteilungen der Krankenhäuser zu führen“. Danach bekundeten die Autoren des Schreibens die Gewissheit, dass seine Adressaten ihre Haltung ändern würden und folglich „weniger Menschen sterben werden“. Als erste unter dem Dokument steht die Unterschrift des „Kommunarka“-Leiters Denis Prozenko (neues Krankenhaus am Rande der russischen Hauptstadt, das zu einem der markantesten Hotspots im Kampf gegen COVID-19 wurde und auch durch Präsident Wladimir Putin besucht wurde – Anmerkung der Redaktion), der bei den Wahlen zur Staatsduma im vergangenen September zur Top-5 der Parteiliste von „Einiges Russland“ gehört hatte. Und dies löste bei den potenziellen Angesprochenen mit einem Mal den Verdacht eines politischen Hintergrunds dieses Appells aus. Zumal man die Initiative der Mediziner auch aus dem Kreml sofort billigte. Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des Präsidenten, erläuterte, dass die Offiziellen die Idee, Impfgegner in eine „rote Zone“ einzuladen, positiv bewerten würden. Nach seiner Meinung könne man hoffen, dass die Autorität jener Personen, die das Schreiben unterzeichnet hätten, zumindest irgendwem helfen werde, seinen Standpunkt zu ändern.

Aber genauso schnell stellte sich heraus, dass dem nicht so ist. Sjuganow erklärte beispielsweise, dass er nie gegen eine Vakzinierung aufgetreten sei. Ja und er selbst habe sich bereits dreimal impfen lassen. Er sei aber nicht mit einer Nötigung einverstanden. Der Kommunist unterstrich, dass „er nie gesagt hat: Man muss sich nicht impfen lassen“. Und seine Opponenten konnten in der Tat bisher nicht eine einzige derartige Äußerung ausfindig machen.

Sergej Mironow kommentierte den Brief derweil so: „Schon der erste Satz löst Unverständnis aus. Derjenige, der diesen Text verfasste und den Ärzten untergeschoben hat, behauptet in ihm kategorisch, dass ihnen meine Position hinsichtlich der Vakzinierung bekannt sei. Derweil ist in Bezug auf mich und unserer Partei das Schreiben offensichtlich nicht an die richtige Adresse gegangen. Eine andere Sache ist, dass ich und meine Kollegen stets dagegen aufgetreten sind, wie die Vakzinierungskampagne geführt wird, mit welchen Methoden, wie Abneigung geschürt wird, ein Konflikt, wie man die Menschen aufeinanderprallen lässt und widerrechtlich das Nötigste und die legitimen Rechte wegnimmt“.

In dem gleichen Sinne antwortete auch Tolstoi, obgleich er mit einem Dank an die Mediziner „für die geretteten Leben“ begann. Dann aber merkte der Abgeordnete an: „Ich gehe in meiner Position bezüglich der Notwendigkeit der Vakzinierung von der Haltung unseres Präsidenten ausgehe, der mehrfach vom freiwilligen Charakter solch einer Entscheidung für jeden Bürger gesprochen hat“. „Separat halte ich es für richtig, die von der Regierung vorgeschlagenen Maßnahmen zur Einführung von QR-Codes zu erörtern. Hier sind eine ausführliche Analyse und eine tiefsinnige Diskussion über die Effektivität derartiger Maßnahmen und keine Suche nach Feinden und gegenseitige Vorwürfe nötig“, fügte Pjotr Tolstoi hinzu. Und erzielte einen Volltreffen hinsichtlich des Hauptthemas des gesamten Tages. Die Sache ist die, dass im Verlauf des 24. November widersprüchliche Informationen über die bevorstehende Behandlung dieser Gesetzentwürfe aus der Staatsduma kamen. Theoretisch sollte sie ab 15. Dezember beginnen. Im Zeitplan des Unterhauses für diesen Monat gab es aber keinen entsprechenden Punkt. Daher begannen die einen Quellen unter den Abgeordneten davon zu sprechen, dass die Pause mit der Einführung der QR-Codes verlängert werde. Andere betonte aber zu Recht, dass die Staatsduma auch im Verlauf des Dezembers eine Entscheidung treffen könne.

Und Tolstoi lag natürlich auch mit seinem Verweis auf die Position des Präsidenten richtig. Denn gerade an diesem Tag hatte Wladimir Putin ein weiteres Mal vom ausschließlich freiwilligen Charakter der Vakzinierung der Bürger gesprochen. Mehr noch, er demonstrierte sein Vorgehen am persönlichen Beispiel. Es stellte sich heraus, dass er bereits an der Erprobung einer nasalen Form des Impfstoffs gegen das Coronavirus teilgenommen hat. Aus den Anmerkungen des Präsidenten bei einer Beratung mit der Regierung wurde deutlich, dass er bisher nicht vorhat, klare Anweisungen zu eben jenen QR-Codes als einen zusätzlichen Stimulus zu den Impfungen zu erteilen. Die Vorsichtigkeit Putins wird dabei zu einem kontrastierenden Hintergrund, vor dem der Kampf der verschiedenen Gruppen unter den Herrschenden um die Kontrolle der COVID-Agenda immer deutlicher wird. Das Staatsoberhaupt unterstützt augenscheinlich vorerst jene Situation, die man als politische und propagandistische Schaukel beschreiben kann. Allem nach zu urteilen ist der „Brief der Chefärzte“ auch zu einem Teil jener Kampagne geworden, die die Verfechter eines schnellen und administrativ angeordneten Vakzinierens führen. Die Putin-„Schaukel“ fördert aber nur eine Zunahme der emotionalen Temperatur in der öffentlichen Diskussion. (Dies belegt auch der Telegram-Kanal des Duma-Vorsitzenden Wjatscheslaw Wolodin. Am Mittwoch begann er auf diesem, Reaktionen zur geplanten Einführung der QR-Codes zu sammeln. Für den Vertreter der Kremlpartei ist es dabei sicherlich bitter, dass die überwältigende Mehrheit der Einträge bei Redaktionsschluss dieses Textes sich dagegen ausgesprochen hat. – Anmerkung der Redaktion)

Der Leiter des analytischen Zentrums der KPRF Sergej Obuchow erläuterte der „NG“: „Der Stil des Schreibens setzt darauf, die Aufmerksamkeit von der Annahme des Gesetzes über die QR-Codes abzulenken, denn die Diskussion erfolgt dazu gerade in den Regionen. Man muss von den Effektivitätsproblemen der Politik der QR-Codierung sprechen, von der Zwangsvakzinierung, von der Aufgabe einer planmäßigen medizinischen Hilfe und von den geringen Gehältern der Ärzte. Uns aber erzählt man wieder von den „roten Zonen“, von Toten und einer Kinderträne. Das heißt, es werden keinerlei einleuchtenden Argumente zur Begründung der verfolgten Politik angeführt. Es erfolgt ein Appellieren an Emotionen. Dies aber wird wahrscheinlich die Gesellschaft noch mehr spalten. Auch der Ton des Briefes verweist auf den sich verstärkenden Trend zu einer gewaltsamen Form der Lösung des Problems seitens des Staates“.

Der Leiter der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow merkte an, dass „der Brief ein gewisser Anspruch auf ein politisches Manifest der Vakzinierungsanhänger ist“. „Das Auftauchen des Briefes an sich und seine allseitige informationsseitige Ausleuchtung, die generelle Billigung von oben und die augenblickliche Reaktion seitens all jener, die kommentieren sollten, belegen gerade dies. Doch der Stil des Briefes ist wirklich ein seltsam ausgewählter. Er sieht wie ein aggressiver und gar provokanter aus. Den Experten erstaunte das Ausbleiben von Argumenten, wobei „nur das alte Prinzip deklariert wird – „wer nicht mit uns ist, ist gegen uns““. Andererseits belegt solch ein Schreiben vielleicht den Versuch eines Neustarts der Informationskampagne zu einer obligatorischen Vakzinierung. Aber ihr Beginn sieht nicht nach irgendeinem erfolgreichen aus. „Es ist klar, dass man beschlossen hat, die Oppositionellen zu den Hauptfeinden zu erklären, zu verantwortungslosen Anti-Vaxxern, zu den Schuldigen der Sterblichkeit aufgrund der Epidemie. Aber wieso sind da hier Leute aus dem Show-Business? Ja, die Botschaft beruht auf Emotionen, die sogar zu Beleidigung übergehen. Offensichtlich hat man unter den Offiziellen beschlossen, dass solch eine Rhetorik helfen wird, um die Hirne und Herzen zu kämpfen. Doch sie wird augenscheinlich die Zweifelnden und die Schwankenden nicht überzeugen. Und bei den Gegnern wird sie nur eine Gegenaggression auslösen“. Folglich sehe nach Meinung von Kalatschjow der Versuch, die Informationskampagne neu zu gestalten, um die Menschen zu veranlassen, die Vakzinierung zu unterstützen und Verständnis für die restriktiven Maßnahmen aufzubringen, vorerst mehr wie eine Abrechnung mit politischen Opponenten aus.

Ein Problem besteht noch darin, dass es sowohl an Argumenten als auch an Spitzenkräften der öffentlichen Meinung mangelt, die die Situation zugunsten der offiziellen Position zum Umschwenken bringen könnten. „Aus der Kampagne zum Appellieren, sich impfen zu lassen, hat man bereits alles herausgepresst, was möglich war. Und auch der Präsident hat sich schon vakzinieren lassen. Doch in der gegenwärtigen Situation gibt es außer ihn keine angesehenen Personen, die eine bedeutsame Rolle bei der Veränderung der Meinung der Gesellschaft spielen würden. Außerdem besteht die Anfälligkeit der Position der Offiziellen auch noch darin, dass sie nicht einfach die Gegner des Vakzins von denjenigen teilt, die gegen die Restriktionen, die Nötigung und Segregation sind. Daher nimmt die Gesellschaft solch eine Aggression nicht. Sie kann aber im Gegenteil wahrscheinlich eine entgegengesetzte Reaktion auslösen. Nach dem Brief werden die Anti-Vaxxer wohl kaum in eine „rote Zone“ kommen oder zuhauf sich vakzinieren lassen. Eher werden sie sich nur von ihrer Richtigkeit überzeugen, denn man antwortet auf unsere Fragen und Argumente mit Beleidigungen im Geiste von „Ihr alle seid Idioten“. Daher werden derartige Methoden nur noch mehr die Gesellschaft in zwei Lager teilen. Und der Brief wird eher nicht beschämen, sondern die Schwankenden und umso mehr die Gegner abstoßen“, unterstrich Kalatschjow.

P.S.

Der im vorliegenden Beitrag erwähnte offene Brief.

An G. A. Sjuganow, S. M. Mironow, P. O. Tolstoi, S. Je. Kurginian, M. W. Schukschina, N. I. Wetlizkaja, W. I. Lysakow, Je. W. Berojew, K. Je. Kintschew, O. A. Kutschera, Je. N. Lel, Ju. E. Losa und andere Vakzinierungsgegner

 

Sehr geehrter Gennadij Andrejewitsch, Sergej Michailowitsch, Pjotr Olegowitsch, Sergej Jerwandowitsch, Maria Wassiljewna, Natalia Igorjewna, Wjatscheslaw Iwanowitsch, Jegor Wadimowitsch, Konstantin Jewgenjewitsch, Oskar Alexandrowitsch, Jekaterina Nikolajewna, Jurij Eduardowitsch,

 

uns ist Ihre Position hinsichtlich der Vakzinierung der Bürger Russlands gegen COVID-19 bekannt.

Wir alle sind derzeit etwas beschäftigt. Und Sie erahnen sicher womit. Jedoch unter Berücksichtigung dessen, wie viele Menschen Sie lesen, hören und Ihnen Gehör schenken, werden wir Zeit dafür finden, um Sie durch die „rote Zonen“, Intensivstationen und Pathologieabteilungen unserer Krankenhäuser zu führen. Möglicherweise werden Sie danach Ihre Position ändern, und es werden weniger Menschen sterben.

Kontakttelefonnummer für Besucheranträge: 8-800-200-01-12.

Wir warten auf Sie.

Hochachtungsvoll,

  1. Prozenko – Chefarzt des Städtischen Klinischen Krankenhauses Nr. 40 (Moskau), Dr. med., Dozent, Held der Arbeit der Russischen Föderation
  2. Lysenko – Chefarzt des Städtischen Klinischen Krankenhauses Nr. 52 (Moskau), Dr. sc. med., Held der Arbeit der Russischen Föderation, Verdienter Arzt der Stadt Moskau
  3. Vetschorko – Chefarzt des Städtischen Klinischen O.-M.-Filatow Krankenhauses Nr. 15 (Moskau), Dr. med., Dozent
  4. Schkoda – Chefarzt des Städtischen Klinischen L.-A.-Worochobow-Krankenhauses Nr. 67, Dr. sc. med., Professor
  5. Gusjew – Chefarzt des Klinischen S.-P.-Botkin-Infektionskrankenhauses (Sankt Petersburg)
  6. Chobotnikow – Leiter der Intensivstation für Patienten mit COVID-19 des Stadtkrankenhauses Nr. 40 (Sankt Petersburg)
  7. Nikolajewa – Leiterin der Infektionsabteilung des Klinischen W.-D. Seredawin-Gebietskrankenhauses Samara
  8. Scholin – stellv. Chefarzt des Infektionskrankenhauses Nr. 2 (Sotschi)
  9. Tatarinzewa – Leiterin der Infektionsabteilung Nr. 2 des Forschungsinstituts Klinisches Prof.-S.-W.-Otschapowskij-Gebietskrankenhaus Nr. 1 (Krasnodar)
  10. Nikitin – stellv. Chefarzt des Klinischen Kreiskrankenhauses des Autonomen Bezirkes der Chanten und Mansen – Jugra (Chanty-Mansijsk)
  11. Skworzow – Leiter der Intensivstation des Klinischen Krankenhauses der Komi-Republik