In Deutschland ist eine erhebliche Anhebung der Tarife für Strom und Heizung angekündigt worden. Für die Nutzung von Gas müssen 54 Prozent mehr bezahlt für. Und für Strom, wie n-tv meldet, wird es noch teurer – um 61 Prozent. Die Tarifänderungen werden ab 1. Januar wirksam werden. Die Lieferanten von Energieressourcen begründen ihre Entscheidung mit der Einstellung der Gaslieferungen aus Russland über die Gaspipeline „Nord Stream 1“, die aufgrund eines Diversionsaktes gänzlich ausgefallen ist. Und die deutschen Aufsichtsbehörden lehnen es bisher ab, zumindest den unversehrt gebliebenen Strang von „Nord Stream 2“ (einer von beiden ist ebenfalls durch einen Diversionsakt beschädigt worden – Anmerkung der Redaktion) in Dienst zu stellen.
Im Ergebnis dessen, aber auch aufgrund der Sanktionen, die durch Polen gegen die Gaspipeline Jamal-Europa verhängt wurden, hat sich Russlands Anteil am europäischen Gasmarkt von 40 bis auf neun Prozent verringert. Nach Europa fließt bisher russisches Gas über das ukrainische Gastransportsystem und die Leitung „Turk Stream“.
Europa versucht, das russische Pipelinegas durch verflüssigtes Erdgas (LNG) aus den USA und dem Nahen Osten zu ersetzen. Der Experte der Berliner Consulting-Firma „Enervis“ Sebastian Gulbis ist der Auffassung, dass die zugenommene europäische Nachfrage nach LNG zu einem Mangel an Regasifizierungskapazitäten und Terminals für die Abfertigung von LNG in Europa führe. Unzureichend seien auch die Gasmengen, da die LNG-Erzeugerländer nicht in der Lage seien, schnell die Produktion zu erweitern.
Außerdem mangelt es Europa an Gaspipelines, um das Gas von den Regasifizierungsanlagen, die sich derzeit vorrangig an der Mittelmeerküste befinden, in die Länder des Kontinents zu pumpen. Die Nachfrage übersteigt das Angebot, was auch zu einem Anstieg der LNG-Preise führt.
Zu einem anderen Problem wird das Bestreben Europas, in zwei Jahrzehnten überhaupt zu alternativen Energiequellen – solche wie in erster Linie Wasserstoff – überzugehen. Dies behindern aus der Sicht von Gulbis eine Reihe von Ländern, beispielsweise Qatar. Dieser Staat ist bereits weltweit zum drittgrößten Lieferanten von Gas auf die internationalen Märkte geworden. Qatar ist bereit, das russische Pipelinegas in Europa zu ersetzen, besteht aber auf langfristigen Abkommen. Doch die EU orientiert sich an der Notwendigkeit eines Erreichens der gestellten Klima-Ziele. Und angesichts der bevorstehenden totalen Energiewende sind die europäischen Länder nicht bereit, sich auf langfristige Abkommen über Gaslieferungen aus Qatar einzulassen.
Aber auch die Wasserstoff-Zukunft Europas bleibt fraglich. Laut Schätzungen der Internationalen Energie-Agentur könne bis zum Jahr 2030 der Verbrauch von Wasserstoff in der Welt rund 90 Millionen metrische Tonnen im Jahr ausmachen. Und bis 2050 werde er fast bis auf 300 Millionen Tonnen ansteigen.
Derweil hat Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz Robert Habeck vor drei Monaten mit Kanada einen Vertrag über die Lieferung einer erheblichen Menge an grünen Wasserstoff ab dem Jahr 2025 nach Deutschland unterzeichnet. Nach Meinung von Experten gebe es jedoch in Kanada bisher überhaupt keinerlei Infrastruktur für die Gewinnung von Wasserstoff – wie etwa Windanlagen für die Erzeugung grünen Stroms, Anlagen für die Elektrolyse von Wasser und dessen vorherigen Entsalzung (da es um Meereswasser gehen soll). Und schließlich habe Kanada keine Systeme für die Lieferungen des gewonnenen Wasserstoffs zu speziellen Höfen, die in Kanada ebenfalls bisher nicht gebaut worden sind. Es fehlt an Häfen für den Erhalt von Wasserstoff auch in Europa, schon ganz zu schweigen von der Notwendigkeit der Entwicklung einheitlicher Normen und Standards für die Gewinnung und Weitergabe von Wasserstoff.
Somit befindet sich Europa vorerst in einer schwierigen Lage aufgrund des Verzichts auf russisches Pipelinegas. In der kurzfristigen Perspektive kann es faktisch durch nichts ersetzt werden. Und dies nötigt die europäische Industrie, die Produktion zu drosseln, was unweigerlich zu solchen sozialen Erscheinungen wie Massenarbeitslosigkeit führt.
Auf langer Sicht aber erfordert das Setzen auf Wasserstoff erhebliche Investitionen in die Schaffung von Terminals für die Annahme von Wasserstoff und spezieller Leitungen für dessen Transport, da man die vorhandenen Gaspipelines (die auch so nicht ausreichen) dafür aufgrund des aggressiven Charakters dieses Gases nicht nutzen kann.
Mehr noch, in der hypothetischen Variante wird selbst Russland Europa nicht mit Wasserstoff helfen können. So gebe es nach Meinung des russischen Energie-Experten, Prof. Dr. sc. oec. Andrej Konopljanik, keine anderen Möglichkeiten für einen Wasserstoff-Export aus den weiten Regionen Russlands außer der, dass es in das existierende Gastransportsysteme von GAZPROM nach einem vorherigen Vermischen mit Erdgas eingespeist wird. Dies werde jedoch dessen Integrität zerstören, verlangt eine kostspielige und gar ruinierende Modernisierung und werde insgesamt negative Systemfolgen für den Gasexport nach Europa schaffen.