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Ohne Impfungen und Restriktionen ist der Kampf gegen die COVID-Pandemie für die Katz


Die Rekordzahlen hinsichtlich der Coronavirus-Erkrankungen und der dadurch bedingten Todesfälle in Russland sind eine der hauptsächlichen Nachrichten. Löst dies aber Erstaunen aus? Die Restriktionen im Zusammenhang mit der Infektion waren zu rein theoretischen geworden, da die Anzahl der Geimpften gerade einmal ein Drittel der Landesbevölkerung ausmacht. Man konnte nur auf ein Wunder hoffen: Vielleicht hört die COVID-19-Pandemie auf. Ein Wunder ist aber nicht geschehen.

Die Behörden mussten härtere Maßnahmen ergreifen. Präsident Wladimir Putin unterschrieb einen Erlass über arbeitsfreie Tage, die am 7. November offiziell zu Ende gehen. In vielen Regionen wurde alles geschlossen, außer Apotheken, Lebensmittelläden, Geschäfte für Zooartikel u. a. In Museen und Theater ließ man nur vakzinierte und jüngst die Krankheit überstandene Kultur- und Kunstfreunde. Aber was hatte man mit dem öffentlichen Nahverkehr getan? Was geschah in den ersten Tagen des Putin-Erlasses in der Metro, wo die Passagiere dicht aneinander gedrückt bis zu den notwendigen Stationen standen? Oft ohne Schutzmasken. Auch die Flughäfen waren voll, da die Bevölkerung die arbeitsfreien Tage nutzen wollte, ans Meer zu kommen – ans Schwarze oder Rote, wie es die Geldbörse und andere Faktoren erlaubt hatten.

Die anfänglichen Zahlen in Sachen Vakzinierung lösten zu Beginn der arbeitsfreien Tage Sorgen aus. Bis zum 20. Oktober hatten sich rund 32 Prozent der Einwohner Russlands komplett gegen das Coronavirus impfen lassen. Bis zum 7. November verzeichneten die Offiziellen eine spürbare Zunahme der Impfwilligen. Freilich erfassen die Angaben in Sachen Impfungen auch diejenigen, die sich vor mehr als einem halben Jahr zu dieser Schutzmaßnahme entschlossen hatten. Sprich, von den inzwischen über 60 Millionen gegen COVID-19 geimpften Bürgern Russlands haben mit Sicherheit nicht wenige bereits ihre erworbene Immunität wieder eingebüßt und bedürfen einer Revakzinierung. Generell muss aber auch konstatiert werden, dass Russland vor dem Hintergrund der entwickelten Länder mit die geringsten Impfwerte vorweist. Und dies, obgleich die Vakzinierung im Land vor etwa einem Jahr offiziell gestartet wurde.

Bis Anfang Sommer lag der Anteil der Vakzinierungsgegner unter den Russen bei rund 60 Prozent, während beispielsweise 30 Prozent insgesamt bereit waren, sich impfen zu lassen. Solche Daten vermeldete Denis Wolkow, Direktor des Levada-Zentrums das in Russland als ein „ausländischer Agent“ eingestuft worden ist). Im Sommer verringerte sich die Anzahl der Skeptiker und erreichte Ende August 52 Prozent der Einwohner Russlands. Und Ende Oktober waren es gar 45 Prozent. Nur auf die Vakzinierungszahlen hatte dies bis zum Putin-Erlass wenig gewirkt.

Die soziologischen Untersuchungen haben gezeigt, dass das bis Ende Oktober mehr als enttäuschende Tempo mit der Angst vor den Impfungen vor dem Hintergrund des Misstrauens gegenüber den Offiziellen und Behörden zusammenhing. Der Grad der kritischen Wahrnehmung der verschiedenen Machtstrukturen ist ein recht hoher. Beispielsweise wird die Arbeit der Regierung von Premier Michail Mischustin von fast 50 Prozent der Befragten nicht gebilligt. „Unter jenen, die den Herrschenden negativ gegenüberstehen, ist der Prozent der Impfwilligen weitaus geringer“, betonte der Soziologe. „Diejenigen, die den Offiziellen nicht vertrauen, reagieren auf all ihre Initiativen ablehnend. Sei dies die Vakzinierung, die elektronische Abstimmung (bei den Wahlen zur Staatsduma im September – Anmerkung der Redaktion) oder die Installierung von Kameras“. Impfungen fürchten selbst jene, die Angst haben, sich am Coronavirus anzustecken.

Derzeit unterstütze fast die Hälfte der Bevölkerung Russlands die Anstrengungen der Offiziellen im Kampf gegen das Coronavirus auf die eine oder andere Weise, konstatiert man in der Forschungsholding „Romir“. „Wir beobachten eine Polarisierung der Gesellschaft“, sagt Holdingspräsident Andrej Milechin. „Wobei der Pol derjenigen, die die Handlungen der Offiziell aktiv nicht akzeptieren, noch mehr seine Position verschärft. Daher gibt es im Internet so viele Gegenargumente, Hype und Fake-News“. Die Offiziellen würden nach Aussagen Milechins darauf inadäquat reagieren – mit Verboten und Restriktionen. Beinahe gleich nach Beginn der Pandemie in Russland verabschiedete die Staatsduma, das Unterhaus des russischen Parlaments, im März des vergangenen Jahres ein Gesetz über die strafrechtliche Verantwortung für einen Verstoß gegen die sanitär-epidemiologischen Regeln und für die Verbreitung von Fakes unter den Bedingungen einer Notstandssituation.

„Zu versuchen, all dies dicht zu machen oder zu verbieten, ist praktisch unmöglich“, meint Andrej Milechin. „Dem muss man eine eingängige, argumentierte Expertenposition entgegenstellen“. Nach seinen Worten müssten die Personen, die Entscheidungen treffen, begreifen, dass die Gesellschaft kompliziert strukturiert ist und man für jede Bevölkerungsgruppe Argumente vorbringen müsse, die die Vertreter gerade dieser Gruppe überzeugen.

Offensichtlich hat man Ende Oktober auch die Meinung des „Romir“-Chefs in Russlands Führungskreisen zur Kenntnis genommen und auf einmal das eingestanden, was für alle offensichtlich war: Die bisherige aggressive Kampagne für die Vakzinierung, die auch mit Elementen von Gehässigkeit in Bezug auf westliche Länder aufwartete, ist zu einem Flopp geworden. Anstatt Vertrauen weckte sie Misstrauen.

In den letzten Tagen erreichen die Vakzinierungszahlen neue Spitzenwerte. Während Mitte Oktober täglich noch etwa 500.000 Impfwillige gezählt wurden, berichtete Gesundheitsminister Michail Muraschko dieser Tage von täglich rund 650.000. Der Lockdown, die steigenden COVID-Todeszahlen und die Restriktionen für die Ungeimpften haben wohl auch in den Regionen den Sinneswandel der Bürger Russlands beeinflusst.

„Wir haben in unseren Untersuchungen gesehen, dass ein erheblicher Teil jener, die nicht bereit waren, sich vakzinieren zu lassen, auf den Fall gewartet hatten, dass man sie in eine notgedrungene Lage versetzt“, erläutert Wolkow. „Solche Maßnahmen wirken aber, wenn sie konsequent und langanhaltend sind. Bei uns ist dem nicht so“. In Europa hatte gerade ein andauernder und strenger Lockdown in Vielem dazu geführt, dass sich die Europäer jetzt vehement impfen lassen“.

Der bekannte Epidemiologe Michail Faworow sieht zwei Hauptgründe für die sich in Russland herausgebildete Situation. Der erste besteht in der großen Mobilität der Bevölkerung (der öffentliche Nahverkehr, Versammlungen, Feierlichkeiten). Und der zweite – im sehr geringen prozentualen Anteil der Geimpften. 32 Prozent würden keinerlei Einfluss ausüben. Laut Angaben von Faworow aus 15 Infektionskrankenhäusern Russlands seien mehr als 90 Prozent der dort liegenden Patienten gar nicht geimpft gewesen.

Wie in Russland die Vakzinierung erfolgt, verfolgen auch Autoren russischer gesellschaftspolitischer Telegram-Kanäle. „Die Maus im Gemüse“ (https://t.me/kbrvdvkr) lenkt das Augenmerk darauf, dass die USA am 8. November neue Regeln für die Einreise ins Land einführen würden. Die Ausländer, die nicht auf der Grundlage von Einwanderungsvisa eintreffen, müssen beim Einchecken einen Bescheid über eine Vakzinierung mit einem der Präparate, die im Land oder durch die Weltgesundheitsorganisation gebilligt worden sind, vorlegen. „Nach Bekanntgabe der Entscheidung der US-amerikanischen Behörden werden wir bestimmt viel von der Trägheit der russischen Beamten zu hören bekommen, die die ausländischen Vakzine nicht ins Land „lassen““, schreiben die Autoren des Kanals. „Aber wohl kaum ein Wort über die Beamten aus der WHO, die Wunder an Langsamkeit in Bezug auf „Sputnik-V“ demonstrieren“.