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Pandemie verschlechterte finanzielle Lage von 73 % der Russen


Die Corona-Epidemie im Land lässt laut offiziellen Angaben nach, doch der Verbraucherpessimismus ist immer noch auf dem Höhepunkt. Wie Umfragen der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst (RAVWuSD) zeigen, erwartet die Bevölkerung in der allernächsten Zukunft eine Verschlechterung der Situation im Land. Die Bürger bewerten auch die Perspektiven ihrer materiellen Situation skeptisch. Dieser Verbraucherpessimismus kann eine noch größere Verbraucherkrise auslösen. Und im Ergebnis kann die Situation zu einer „sich selbst verschlimmernden“ werden, meinen die Experten. 

Ihre Schlussfolgerungen ziehen die Experten aus der RAVWuSD auf der Grundlage von Daten der fünften Welle einer Monitoring-Untersuchung von über 2.000 Befragten bezüglich der sozialen Lage und dem Verhalten der Bevölkerung unter den Bedingungen der Verbreitung des Coronavirus.  

Laut ihren Schlussfolgerungen werden die wirtschaftlichen Risiken der Pandemie für den Staat von den meisten Befragten als bedeutsame bewertet, obgleich sie auch weniger Besorgnis nach der Aufhebung des Regimes der Selbstisolierung auslösen, teilt man in der RAVWuSD mit. Die Forscher verweisen unter anderem darauf, dass fast 70 Prozent der Befragten annehmen, dass die Pandemie einen wesentlichen Einfluss auf die Wirtschaft des Landes ausüben wird, Von einem moderaten Einfluss sprechen 18 Prozent der Befragten. 

Stärker beunruhigen die Befragten die Perspektiven der eigenen materiellen Lage. So sehen über die Hälfte aller Befragten eine Verschlechterung ihrer finanziellen Lage in der nahen Zukunft voraus. Im Rahmen der fünften Untersuchungswelle sprachen von einer bedeutenden oder moderaten Gefahr einer Verschlechterung der eigenen materiellen Lage 73 Prozent der Befragten. Unerheblich halten sie dagegen ganze 14 Prozent. Und lediglich elf Prozent der Befragten sind der Annahme, dass es keinerlei Gefahr gebe. Die Experten betonen, dass, ungeachtet der großen Besorgnis der Bevölkerung um ihre materielle Situation die vorangegangenen Befragungswellen weitaus negativere Erwartungen gezeigt hätten. So überstieg im Rahmen der vorangegangenen Befragungswellen der Anteil jener, die sich um ihre finanzielle Lage Sorgen machten, 90 Prozent. 

Dabei empfinden starke Besorgnis sowohl die arbeitslosen als auch arbeitenden Bürger Russlands. So befürchten unter den Arbeitslosen 75 Prozent eine Verschlechterung ihres finanziellen Wohlergehens im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Coronavirus. Und unter den Arbeitenden bewegt das Problem einer möglichen Verschlechterung des materiellen Wohlstands 72 Prozent der Befragten. 

Dafür ist ein geringer Unterschied zwischen den beschäftigten und nichtbeschäftigten Befragten in den Antworten auf die Frage nach einer Beurteilung der materiellen Lage der Familie bis zum März dieses Jahres und zwar bis zur Verkündung der Corona-Pandemie und der Verhängung einschränkender Maßnahmen auszumachen, konstatieren die Wirtschaftsexperten. So bestätigen 82 Prozent der arbeitenden und 69 Prozent der nichtarbeitenden Teilnehmer der Online-Umfrage einen guten oder eher guten Grad der finanziellen Sicherheit vor Anbruch des ausgewiesenen Zeitraums. 

Was bemerkenswert ist: Die Maßnahmen zur staatlichen Unterstützung haben dem Verbraucheroptimismus keinen Aufschwung verliehen. „So beschreiben 78 Prozent der Befragten, die keine Empfänger irgendwelcher sozialer Zahlungen sind, ihre materielle Situation bis zum Beginn der Pandemie als eine gute oder eher gute, genauso wie 71 Prozent derjenigen, die die eine oder andere Hilfe erhalten“, konstatiert man in der RAVWuSD. Außerdem würde praktisch jeder vierte Befragte unter den Empfängern von Beihilfen und Vergünstigungen den Grad des persönlichen Wohlstands als einen schlechten bewerten. 

Die geringe Relevanz der Maßnahmen zur materiellen Unterstützung für deren Empfänger finden ihren Niederschlag in erster Linie in der Verteilung der Antworten auf die Frage nach einer Beurteilung der Effizienz der staatlichen Hilfe. „Die Meinungen der Befragten, wonach die Behörden unzureichende Maßnahmen ergreifen oder si ganz und gar nicht ergreifen, dominieren immer noch über den billigenden Reaktionen (52 Prozent bzw. 25 Prozent)“, folgt aus den Ergebnissen der Umfragen der Wissenschaftler. In der RAVWuSD merkt man an: Sowohl unter denjenigen, die Beihilfen erhalten, als auch unter denjenigen, die sie nicht bekommen, weisen die absoluten Mehrheiten der Befragten in jeder der Gruppen (74 Prozent bzw. 79 Prozent) auf den unzureichenden Charakter der Mechanismen zur materiellen Absicherung der Bevölkerung hin. 

„Die Krisenprozesse, die Coronavirus-Pandemie und die verhängten Quarantänen-Einschränkungen haben sich negativ auf die Stimmungen der Bevölkerung und deren Beurteilung der aktuellen Situation in Russland und in der Welt, aber auch der eigenen Lage ausgewirkt“, pflichten die Wirtschaftsexperten aus dem Zentrum für makroökonomische Analyse und kurzfristige Prognostizierung (ZMAKP) bei. 

Eine angestiegene Beunruhigung der Bevölkerung fixieren auch andere Untersuchungen. Beispielsweise machte laut Angaben der Stiftung „Öffentliche Meinung“ der Anteil der Bevölkerung, der die Auffassung vertritt, dass in ihrem Umfeld sorgenvolle Stimmungen überwiegen, Mitte Juni 52 Prozent aus. Beinahe die Hälfte der Bürger Russlands ist der Meinung, dass das Land aufgrund der Krise stark leide, teilten die Soziologen mit. Zu den Hauptursachen werden nach Meinung der Befragten die Zunahme der Arbeitslosigkeit, der Wirtschaftsrückgang, die Unterbrechung der Produktion aufgrund der Pandemie, die schwache Wirtschaft und Abhängigkeit vom Verkauf von Rohstoffen, der Preisverfall für Erdöl und Gas, die Verringerung der Haushaltseinnahmen als Folge dessen sowie der Rückgang des Lebensniveaus und der Einkünfte der Bevölkerung. 

Außerdem sind 66 Prozent der durch das Allrussische Meinungsforschungszentrum Befragten der Annahme, dass die schweren Zeit noch anbrechen würden, während sich lediglich jeder zehnte Bürger Russlands sicher ist, die die schwierigen Tage vorbei seien. Ihrerseits sind 16 Prozent der Befragten der Annahme, dass sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwierige Zeiten durchmachen würden. Somit macht der durch das Zentrum berechnete Index für die sozialen Erwartungen kolossale -72 Punkte bei einem möglichen Wert von 100 bis -100 Punkten aus. Dabei gilt: Je höher der Wert des Indexes ist, umso optimistischer sehen nach Meinung der Bürger Russlands die Perspektiven für die Russische Föderation aus. Der Wert „0“ fixiert ein Gleichgewicht optimistischer und pessimistischer Prognosen.  

Und das Problem bestehe darin, dass die Situation zu einer „sich selbst verschlechternden“ werden könne, betont man im ZMAKP. „Der drastische Rückgang des Indexes für die sozialen Erwartungen belegt, dass die Bevölkerung auch weiter ihr Konsumverhalten ausgehend von dieser pessimistischen Sicht auf die Situation in der Zukunft anpassen kann“, sagen die Wirtschaftsfachleute voraus.

Die Verringerung der Verbraucherausgaben führt unweigerlich zu einem multiplikativen Schrumpfen der Wirtschaft, in dessen Ergebnis die Gesamtausgaben in der Zukunft noch stärker zurückgehen werden, stimmen Experten gegenüber der „NG“ zu. Und die aktuelle Statistik ist dafür eine Bestätigung. „Der Rückgang der Einzelhandelsverkäufe erreichte im Mai 19 Prozent im Vergleich zum gleichen Monat des Vorjahres, während er im Monat zuvor 23 Prozent (im Vergleich zum entsprechenden Zeitraum des Vorjahres) ausmachte. Der Umsatz in den Bereichen Gastronomie und kostenpflichtige Leistungen für die Bevölkerung verringerte sich im Mai um 52 Prozent und im Monat zuvor um 39,5 Prozent“, erinnert Irina Komarowa, Leiterin des Lehrstuhls für Wirtschaftstheorie der Russischen Plechanow-Wirtschaftsuniversität. Ihrer Auffassung nach werde die Aufhebung der Quarantäne-Beschränkungen erlauben, die Situation zum Besseren zu korrigieren. Doch drastische positive Veränderungen könne man nicht erwarten. 

„Und die Ursache liegt in erster Linie in der Verschlechterung der finanziellen Lage der Bürger. Die offiziellen Informationen hinsichtlich der realen, zur Verfügung stehenden Einkünfte beschränken sich nur auf das erste Quartal des Jahres 2020. Ihr Rückgang machte in diesem Zeitraum lediglich 0,2 Prozent im Vergleich zum analogen Zeitraum des Vorjahres aus. Ihr Rückgang kann sich im zweiten Quartal jedoch als wesentlicher erweisen. Laut offiziellen Prognosen können im zweiten Quartal die Realeinkommen der Bevölkerung um sechs Prozent zurückgehen“, vermutet die Expertin. Laut Expertenschätzungen werde der Einbruch erheblicher sein.  

„Im laufenden Jahr haben die Bürger Russlands zwei Schocks erlebt – die Entwertung des Rubels und die Quarantäne, die zu einem Ansteigen der Arbeitslosigkeit führte. Die Schocks sind nicht überwunden worden. Das beeinflusst ernsthaft das Konsumverhalten der Bürger. Die Menschen geben wirklich weniger aus, wobei sie annehmen, dass sie nicht die besten Zeiten erwarten werden. Dies ist ein mächtiger Faktor für eine Rezession. Jeglicher Schock in der Wirtschaft schlägt sich in einem Rückgang des Konsums nieder“, pflichtet Alexander Rasuwajew, Leiter des analytischen Zentrums „Alpari“, bei.  

https://www.ng.ru/economics/2020-07-05/1_7902_crisis.html