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Papst Franziskus: Nicht nur die Ungeheuerlichkeit, sondern das ganze Drama sehen, das sich hinter dem Ukraine-Krieg abspielt


Papst Franziskus hat davor gewarnt, den Ukrainekrieg auf eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu reduzieren. Das berge die Gefahr, nur die Ungeheuerlichkeit zu sehen und nicht das ganze Drama, das sich hinter diesem Krieg abspiele, so das Oberhaupt der Katholischen Kirche in einem am Dienstag in der Zeitschrift „La Civiltà Cattolica“ veröffentlichten Interview mit Redakteuren der europäischen Zeitschriften der Jesuiten. Dieser Krieg sei grausam und brutal, aber «vielleicht in gewisser Weise entweder provoziert oder nicht verhindert worden», erklärt Franziskus weiter.

Das Interview entstand bei einer Begegnung des Papstes mit mehreren Vertretern europäischer Jesuitenzeitschriften im Vatikan am vergangenen 19. Mai. Themen des Austausches waren das Leben der Kirche und die Synode, aber auch der Krieg in der Ukraine, der im offiziellen russischen Sprachgebrauch als „militärische Sonderoperation“ bezeichnet wird und inzwischen den 111. Tag andauert. Die Redaktion von „NG Deutschland“ publiziert nachfolgend den Teil des großen Interviews, der den Konflikt in und um die Ukraine betrifft.

Frage: Die Gesellschaft Jesu ist in der Ukraine vertreten, die zu meiner Provinz gehört. Wir befinden uns in einem Angriffskrieg. Wir schreiben darüber in unseren Zeitschriften. Was raten Sie, um die Situation, die wir erleben, zu vermitteln? Wie können wir zu einer friedlichen Zukunft beitragen?

Papst Franziskus: Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns von dem üblichen Schema des „Rotkäppchens“ lösen: Rotkäppchen war gut, und der Wolf war der Bösewicht. Hier gibt es keine metaphysisch Guten und Bösen auf abstrakte Art und Weise. Es entsteht etwas Globales, mit Elementen, die stark miteinander verwoben sind. Ein paar Monate vor Kriegsbeginn traf ich einen Staatschef, einen weisen Mann, der sehr wenig spricht, aber sehr weise ist. Und nachdem er über die Dinge gesprochen hatte, über die er sprechen wollte, sagte er mir, dass er sehr besorgt über die Entwicklung der NATO sei. Ich fragte ihn, warum, und er sagte: „Sie bellen vor den Toren Russlands und sie verstehen nicht, dass die Russen imperial sind und keiner fremden Macht erlauben, sich ihnen zu nähern“. Er schloss mit den Worten: „Die Situation könnte zu einem Krieg führen“. Dies war seine Meinung. Am 24. Februar begann der Krieg. Dieses Staatsoberhaupt war in der Lage, die Vorzeichen dessen zu erkennen, was sich dann ereignen sollte.

Was wir sehen, ist die Brutalität und Grausamkeit, mit der dieser Krieg von den Truppen, in der Regel Söldnern, die von den Russen eingesetzt werden, geführt wird. Und die Russen ziehen es vor, Tschetschenen, Syrer und Söldner zu schicken. Aber die Gefahr ist, dass wir nur das sehen, was ungeheuerlich ist, und nicht das ganze Drama sehen, das sich hinter diesem Krieg abspielt, der vielleicht in gewisser Weise entweder provoziert oder nicht verhindert wurde. Und ich registriere das Interesse am Testen und Verkaufen von Waffen. Das ist sehr traurig, aber darum geht es ja offensichtlich.

Manch einer mag mir an dieser Stelle sagen: Aber Sie sind doch pro Putin! Nein, das bin ich nicht. So etwas zu sagen, wäre vereinfachend und falsch. Ich bin einfach dagegen, die Komplexität auf die Unterscheidung zwischen Guten und Bösen zu reduzieren, ohne über die Wurzeln und Interessen nachzudenken, die sehr komplex sind. Während wir die Grausamkeit der russischen Truppen sehen, dürfen wir die Probleme nicht vergessen, um zu versuchen, sie zu lösen.

Es stimmt auch, dass die Russen dachten, es würde in einer Woche vorbei sein. Aber sie haben sich verkalkuliert. Sie fanden ein mutiges Volk vor, ein Volk, das ums Überleben kämpft und dessen Geschichte von Kämpfen geprägt ist.

Ich muss auch hinzufügen, dass wir das, was jetzt in der Ukraine passiert, so sehen, weil es uns näher ist und unsere Sensibilität mehr berührt. Aber es gibt auch andere, weit entfernte Länder, denkt nur an einige Teile Afrikas, Nordnigeria, Nordkongo, wo der Krieg immer noch andauert und niemanden kümmert. Denkt an Ruanda vor 25 Jahren. Denkt an Myanmar und die Rohingya. Die Welt befindet sich im Krieg. Vor einigen Jahren kam ich auf die Idee zu sagen, dass wir den Dritten Weltkrieg in Stücken und Brocken erleben. So ist für mich heute der Dritte Weltkrieg ausgebrochen. Und das ist etwas, das uns zu denken geben sollte. Was ist mit der Menschheit geschehen, die in einem Jahrhundert drei Weltkriege erlebt hat? Ich erlebe den ersten Krieg in der Erinnerung an meinen Großvater am Fluss Piave. Dann den zweiten und jetzt den dritten. Und das ist schlecht für die Menschheit, ein Unglück. Man muss bedenken, dass es in einem Jahrhundert drei Weltkriege gegeben hat, mit all dem Waffenhandel dahinter!

Erst vor wenigen Jahren wurde der Jahrestag der Landung in der Normandie begangen. Und viele Staats- und Regierungschefs feierten den Sieg. Niemand erinnerte sich an die Tausenden jungen Menschen, die bei dieser Gelegenheit am Strand starben. Als ich 2014 anlässlich des hundertsten Jahrestages des Weltkrieges nach Redipuglia fuhr — ich sage das ganz persönlich — habe ich geweint, als ich das Alter der gefallenen Soldaten sah. Als ich einige Jahre später, am 2. November — jeden 2. November besuche ich einen Friedhof — nach Anzio fuhr, weinte ich auch dort, als ich das Alter dieser gefallenen Soldaten sah. Letztes Jahr war ich auf dem französischen Friedhof, und die Gräber der Männer — christliche oder islamische, denn die Franzosen schickten auch solche aus Nordafrika in den Kampf — waren dort ebenfalls solche von jungen Männern von 20, 22, 24 Jahren.

Warum erzähle ich euch diese Dinge? Weil ich möchte, dass sich eure Zeitschriften mit der menschlichen Seite des Krieges befassen. Ich möchte, dass sich eure Zeitschriften mit dem menschlichen Drama des Krieges befassen. Es ist schön und gut, ein geopolitisches Kalkül anzustellen und die Dinge eingehend zu untersuchen. Ihr müsst es tun, weil es eure Aufgabe ist. Doch versucht auch, das menschliche Drama des Krieges zu vermitteln. Das menschliche Drama dieser Friedhöfe, das menschliche Drama der Strände der Normandie oder von Anzio, das menschliche Drama einer Frau, an deren Tür der Postbote klopft und die einen Brief erhält, in dem ihr gedankt wird, weil sie dem Vaterland einen Sohn geschenkt hat, der ein Held des Vaterlandes ist… und die so allein gelassen wird. Darüber nachzudenken, würde der Menschheit und der Kirche sehr helfen. Stellt eure gesellschaftspolitischen Überlegungen an, aber vernachlässigt nicht die menschliche Überlegung zum Krieg.

Zurück zur Ukraine. Jeder öffnet sein Herz für die Flüchtlinge, die ukrainischen Exilanten, bei denen es sich meist um Frauen und Kinder handelt. Die Männer werden dem Kampf überlassen. Bei der Audienz letzte Woche kamen zwei Ehefrauen von ukrainischen Soldaten, die sich im Stahlwerk Asow befanden, und baten mich um Fürsprache für ihre Rettung. Wir sind alle sehr sensibel für diese dramatischen Situationen. Es sind Frauen mit Kindern, deren Ehemänner dort kämpfen. Junge Frauen. Aber ich frage mich: Was wird passieren, wenn die Begeisterung für die Hilfe nachlässt? Wer wird sich um diese Frauen kümmern, wenn sich die Lage abkühlt? Wir müssen über die konkrete Aktion des Augenblicks hinausschauen und sehen, wie wir sie unterstützen können, damit sie nicht in den Menschenhandel geraten, nicht ausgenutzt werden, weil die Geier schon kreisen.

Die Ukraine ist Experte in Sachen Sklaverei und Krieg. Es ist ein reiches Land, das immer wieder zerschnitten wurde, zerrissen durch den Willen derer, die es in Besitz nehmen wollten, um es auszubeuten. Es ist, als ob die Geschichte die Ukraine dazu prädisponiert hätte, ein heroisches Land zu sein. Dieses Heldentum zu sehen, berührt unsere Herzen. Ein Heldentum, das mit Zärtlichkeit Hand in Hand geht! Als die ersten jungen russischen Soldaten eintrafen — später schickten sie Söldner -, die zu einer „militärischen Operation“ geschickt wurden, wie sie sagten, ohne zu wissen, dass sie in den Krieg ziehen würden, waren es die ukrainischen Frauen selbst, die sich um sie kümmerten, als sie sich ergaben. Große Menschlichkeit, große Zärtlichkeit. Mutige Frauen. Tapfere Menschen. Ein Volk, das keine Angst vor dem Kampf hat. Ein Volk, das fleißig ist und gleichzeitig stolz auf sein Land. Wir sollten uns die ukrainische Identität in dieser Zeit vor Augen halten. Das ist es, was uns bewegt: solches Heldentum zu sehen. Ich möchte diesen Punkt wirklich hervorheben: das Heldentum des ukrainischen Volkes. Was wir vor Augen haben, ist eine Situation des Weltkriegs, der globalen Interessen, der Waffenverkäufe und der geopolitischen Vereinnahmung, die ein heldenhaftes Volk zum Märtyrer macht.

Ich möchte ein weiteres Element hinzufügen. Ich hatte ein vierzigminütiges Gespräch mit Patriarch Kirill. Im ersten Teil las er mir eine Erklärung vor, in der er Gründe zur Rechtfertigung des Krieges anführte. Als er geendet hatte, mischte ich mich ein und sagte ihm: „Bruder, wir sind keine Staatskleriker, wir sind Hirten des Volkes“. Ich sollte ihn am 14. Juni in Jerusalem treffen, um über unsere Angelegenheiten zu sprechen. Aber wegen des Krieges haben wir im gegenseitigen Einvernehmen beschlossen, das Treffen auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, damit unser Dialog nicht missverstanden wird. Ich hoffe, ihn auf einer Generalversammlung im September in Kasachstan zu treffen. Ich hoffe, dass ich ihn begrüßen und ein wenig mit ihm als Seelsorger sprechen kann.

Quelle: https://www.herder.de/stz/online/papst-franziskus-im-gespraech-mit-den-europaeischen-kulturzeitschriften-der-jesuiten/%20/