Der amtierende Premier Nikol Paschinjan hat den beiden früheren Präsidenten – dem ersten, Levon Ter-Petrosjan, und dem zweiten, Robert Kotscherjan – vorgeschlagen, sich in einer TV-Livesendung zu treffen und Debatten durchzuführen, und dabei gerade zur Bergkarabach-Problematik. Es steht außer Zweifel: Diese Begegnung wird einen Wahlkampfcharakter tragen. Aber nach Aussagen von Paschinjan habe das Volk ein Recht zu wissen, wie viele nicht offensichtliche Momente mit dem Verlauf der Lösung des Bergkarabach-Problems im Verlauf der letzten Jahre verbunden seien.
Während Levon Ter-Petrosjan sagt, dass an der Niederlage bei den Kampfhandlungen gegen Aserbaidschan nicht nur Nikol Paschinjan die Schuld trage, sondern auch dessen Vorgänger, die die Politik „nicht eine Handbreit des Landes wird preisgegeben“ proklamiert hatten, machte Robert Kotscharjan dagegen ausschließlich den amtierenden Regierungschef für die Niederlage verantwortlich und kritisiert ihn recht hart. Nikol Paschinjan selbst ist aber bereit, sich mit Baku zu einigen, und hat sogar ein Paket von Vorschlägen zur Regelung des Grenzstreits vorgelegt. Nicht zufällig hatte Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew jüngst erklärt, dass die armenische Seite die Fragen auf erforderliche Art und Weise analysieren solle, die mit der Unumgänglichkeit des „Sangesur-Korridors“ (der manchmal auch als Nachitschewan-Korridor bezeichnet wird – Anmerkung der Redaktion) zusammenhängen. Er betonte, dass der „Sangesur-Korridor“ eine neue Verbindung zwischen der Türkei und Aserbaidschan gewährleisten werde.
Augenscheinlich entsteht hier jedoch noch ein Problem des schwelenden Konflikts. „Im Rahmen der Arbeiten zur Deblockierung der regionalen Transportverbindungen gibt es keine Fragen hinsichtlich der Logik von Korridoren. Armenien hat derartige Fragen nicht erörtert und wird sie nicht erörtern“, unterstrich der amtierende Vizepremier Armeniens Mger Grigorjan gegenüber der armenischen Zeitung „Haykakan Zhamanak“ am vergangenen Montag. Paschinjan beeilte sich gleichfalls zu erklären: „Es gibt die Erklärungen vom 9. November 2020 und 11. Januar 2021, in denen es um die Öffnung von Verbindungswegen geht. Es geht aber nicht um einen Korridor“.
Es sei daran erinnert, dass sich die Situation am 13. Mai zuspitzte, nachdem Jerewan über das Vordringen von Militärs der aserbaidschanischen Armee auf das Territorium der Regionen Sjunik und Gegharkunik informiert hatte. Baku weist die Vorwürfe zurück und behauptet, dass aserbaidschanische Grenzer ingenieurtechnische Arbeiten und die Dislokation geändert hatten, wobei sie in den Grenzen der Gebiete Latschin und Kelbadschar geblieben seien. Paschinjan wandte sich zwecks Hilfe an Moskau.
Drittländer bleiben nicht abseits dieser Entwicklung. So unterstrich bei einer Pressekonferenz der offizielle Sprecher des iranischen Außenministeriums Said Hatibsade: „Für die Islamische Republik Iran haben die Ereignisse im Kaukasus an ihren Grenzen große Bedeutung“. Er bekräftigte noch einmal, dass für Teheran die Grenze mit Armenien eine rote Linie sei, während Baku die Versuche fortsetze, südliche Grenzbereiche Armeniens auf gewaltsame Weise zu erobern, womit es dies vom Iran abschneide.
Der russische Präsident Wladimir Putin telefonierte mit Aserbaidschans Staatsoberhaupt Ilham Alijew. Wie der Pressedienst des Kremls mitteilte, sei die „generelle Einstellung“ darauf ausgerichtet, dass die (Konflikt-) Regelung ausschließlich mit politisch-diplomatischen Methoden vorgenommen wird“.
Einen Ausweg aus der Situation schlug Außenminister Sergej Lawrow vor, eine trilaterale Kommission zur Bestimmung der Grenze zu bilden, und versicherte, dass Moskau bereit sei, in der Rolle eines Vermittlers aufzutreten. Die Situation an der Grenze änderte sich jedoch nicht, obgleich Aserbaidschans Militärs teilweise das Territorium Armeniens verlassen hatten.
Armeniens Verteidigungsminister Wagharschak Harutjunjan bezeichnete bei einem Treffen mit dem russischen Amtskollegen Sergej Schoigu die Handlungen der aserbaidschanischen Militärs als eine Provokation und forderte, dass „die aserbaidschanischen Einheiten unverzüglich das souveräne Territorium der Republik Armenien verlassen“.
Baku verwies derweil auf die Verstöße seitens der armenischen Seite und meldete die Gefangennahme von sechs Militärangehörigen Armeniens „bei dem Versuch, die Grenze für die Verübung eines Diversionsaktes zu überschreiten“, teilte die russische staatliche Nachrichtenagentur TASS mit. Die armenische Seite bestätigte die Tatsache der Gefangennahme der Militärangehörigen, unterstrich aber, dass die sich zu diesem Zeitpunkt mit ingenieurtechnischen Arbeiten (Pionierarbeiten) in der Grenzzone des Gegharkunik-Gebietes Armeniens befasst hätten. In Jerewan bezeichnete man diesen Zwischenfall als eine Entführung und wandte sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Nikol Paschinjan erklärte, dass die Situation sich in Richtung eines Krieges entwickele. Er ist der Auffassung, dass die Offiziellen Aserbaidschans und einige oppositionelle Kräfte in Armenien provozieren würden. „Armeniens Regierung hat den politischen Willen, die Situation an der Grenze ausschließlich auf friedlichem Wege zu lösen. Wir werden keinen neuen Krieg zulassen. Man muss das Problem mit politischen und diplomatischen Mitteln lösen. Daher habe ich Aserbaidschan und der internationalen Staatengemeinschaft einen Plan für eine friedliche Lösung der Situation unterbreitet“, erklärte Paschinjan. Der Plan Paschinjans sieht einen synchronen Truppenabzug von der Grenze und die Stationierung internationaler Beobachter aus Russland oder anderen Ländern – den Co-Vorsitzenden der Minsker OSZE-Gruppe (USA und Frankreich) – vor. Es geht nur um eine Delimitation und Demarkation der Grenze am Abschnitt Sotk-Hoznavar. „Wir geben die Zusage, unsere Truppen dann vom Abschnitt Sotk-Hoznavar abzuziehen, wenn die Co-Vorsitzenden der Minsker Gruppe die Information über die Bereitschaft zu analogen Schritten von Baku erhalten. Danach können an dem Abschnitt russische Grenzer stationiert werden, wenn unsere russischen Partner mit dieser Idee einverstanden sind. Möglich ist, dass dort entweder russische Blauhelmsoldaten oder Beobachter aus den anderen Ländern der Minsker Gruppe stationiert werden, wonach wir den Prozess der Demarkation und Delimitation der Grenzen beginnen“, erläuterte Paschinjan.
„Da beide dem zugestimmt haben, dass der Prozess einer Delimitation und Demarkation der Grenze unter der Ägide der russischen Seite begonnen werden soll, ist es offensichtlich, dass, wenn von internationalen Beobachtern gesprochen wird, die auf Vorschlag Paschinjans an den umstrittenen Abschnitten auftauchen sollen, es nur um russische Blauhelmsoldaten und Beobachter gehen kann“, sagte der „NG“ der Politologe und Doktor der Geschichtswissenschaften Armen Chanbabjan. Nach seiner Meinung spreche Paschinjan von Russland, wenn er von internationalen Beobachtern redet. Da der Prozess der Demarkation und Delimitation bei einer unmittelbaren, man kann sagen – schiedsrichterlichen Teilnahme Moskaus erfolge, stelle sich die Frage: Was für Beobachter außer den russischen können da noch sein? Die anderen Länder – dies ist eine Geste in Richtung der noch existierenden Minsker OSZE-Gruppe, die den Prozess der Friedensstiftung fortsetzen und die Fragen behandeln müsse, die bisher nicht gelöst worden seien. Und gelöst sei nicht eine einzige Frage. Und die wichtigsten – die Frage nach dem Status von Bergkarabach sowie über die Rückkehr der gefangengenommenen und verschleppten Menschen.
„In der letzten Zeit, im Zusammenhang mit den scharfen Äußerungen Washingtons und von Paris an die Adresse Bakus aufgrund des Vordringens auf das souveräne armenische Territorium und aufgrund dessen, dass bisher die Frage über die Gefangenen nicht gelöst wird, und Aserbaidschan verknüpft die Lösung dieser Fragen mit Entscheidungen, die keinerlei Beziehung zu den humanitären Aspekten haben, unter anderem mit der Schaffung von Transitkorridoren, was nach Aussagen der armenischen Seite nicht erfolgen könne, werden die wichtigsten Fragen vorerst nicht geklärt. Im Zusammenhang damit steigt in Armenien das Rating Frankreichs und der USA recht schnell, während das Rating Russlands fällt. Nicht wenige Menschen in Armenien sind geneigt, die Auffassung zu vertreten, dass Moskau nicht die Anstrengungen unternehme, die es entsprechend seinem politischen Gewicht und seiner Autorität für eine schnellstmögliche Klärung dieser Fragen unternehmen könnte“, betonte Chanbabjan.
Nach seinen Worten könnte Russland, auf jeden Fall meint man dies in Armenien, auf Baku zwecks Rückführung der armenischen Gefangenen einwirken. Baku behaupte weiter, dass die meisten dieser Personen Diversanten seien, denn sie seien nach Abschluss des Waffenstillstands in Gefangenschaft geraten. Dies sei ein rein formales Vorgehen, denn diese Menschen, die auf ihren Positionen geblieben waren, gerieten in einen Kessel, da sie einfach nicht gewusst hätten, was sich ereigne. Ihre Rückführung sei für Armenien sehr wichtig.
Wie dem auch sei, Baku ist zu einer konstruktiven Arbeit mit Jerewan bereit. Dies hatte Aserbaidschans Premierminister Ali Asadow bei der Tagung der Regierungschefs der GUS-Länder in Minsk mitgeteilt. „Aserbaidschan hat den Prozess zur Bestimmung seiner grenznahen Infrastruktur begonnen und ist bereit, die Frage der grenznahen Linien mit Armenien in einem konstruktiven Rahmen zu klären. Im Zusammenhang damit hat Aserbaidschan den Vorschlag der russischen Seite zur Bildung einer trilateralen Kommission zur Delimitation und Demarkation der aserbaidschanisch-armenischen Grenze unterstützt. Die Bestimmung der Grenzlinien ist ein technischer Prozess. Und dieser Prozess muss auf einer ernsthaften völkerrechtlichen Grundlage basieren“, teilte der Pressedienst der Regierung Aserbaidschans mit.
Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew teilte bei einem Treffen mit dem türkischen Transport- und Infrastrukturminister Adil Karaismailoğlu mit, dass „die Bildung eines trilateralen Formats im Rahmen einer Arbeitsgruppe auf der Ebene von Vizepremiers Aserbaidschans, Russlands und Armeniens erörtert wird und es gute Ergebnisse gibt“. Baku sei an einer schnellstmöglichen Lösung der Grenzfrage interessiert, da es sich beeile, den Bau eines neuen „Sangesur-Korridors“ zu beginnen, der Aserbaidschan mit der Türkei verbinden werde. „Während Armenien in der ersten Etappe nach dem Krieg seinen Protest zu dieser Frage bekundete, so teilt man mir in der letzten Zeit mit, dass auch die armenische Seite bereits richtig die Fragen analysiert, die mit der Unumgänglichkeit dieses Korridors zusammenhängen“, unterstrich Alijew.