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Paschinjan hat die Geschichte Armeniens umgeschrieben


Die armenischen Offiziellen bemühen sich, Bergkarabach in der Vergangenheit zurückzulassen. Das äußert sich unter anderem im gleichgültigen Verhalten gegenüber den Politikern, die sich in einem aserbaidschanischen Gefängnis befinden, und gegenüber den Versuchen, die Geschichte der Beziehungen von Jerewan und Stepanakert einer Revision zu unterziehen.

Nach Aussagen des stellvertretenden Vorsitzenden des Armenischen Nationalkongresses, Levon Zurabjan, hätten die Offiziellen Armeniens die ehemaligen Spitzenvertreter der selbstproklamierten Republik Bergkarabach, die sich in einem aserbaidschanischen Gefängnis befinden, der Willkür des Schicksals ausgeliefert. „Sie unternehmen nichts, sie stellen Aserbaidschan keinerlei Forderungen“, sagte der Oppositionspolitiker. Zurabjan ist der Auffassung, dass das Team von Premierminister Nikol Paschinjan die Inhaftierung eines der Ex-Führungskräfte von Bergkarabach, von Ruben Wardanjan, ausgenutzt hätten, um auf die mit ihm assoziierte Partei „Land für das Leben“ Druck auszuüben.

Insgesamt befinden sich acht Bergkarabach-Spitzenvertreter in aserbaidschanischer Haft – der ehemalige Staatsminister Ruben Wardanjan, der Ex-Befehlshaber der Bergkarabach-Armee Levon Mnazakanjan, der frühere stellvertretende Befehlshaber David Manukjan, Ex-Außenminister David Babajan, der einstige Vorsitzende der Nationalversammlung David Ischchanjan sowie die Ex-Präsidenten Arkadij Gukasjan, Bako Saakjan und Araik Arutjunjan. In armenischen Medien bezeichnet man sie als (Kriegs-) Gefangene, Baku hält diese Männer aber für Terroristen. Die Führung der Republik Bergkarabach bezichtigt man unter anderem einer Finanzierung von Terrorismus, der Bildung widerrechtlicher bewaffneter Formationen und der Führung eines aggressiven Krieges. Entsprechend den aserbaidschanischen Gesetzen droht ihnen eine lebenslängliche Haftstrafe.

Im öffentlichen Raum gibt es praktisch keine Informationen über ihren Zustand. Bekannt ist, dass man Wardanjan einen Anwalt zur Verfügung gestellt hat, den die Familienmitglieder für ihn ausgesucht hatten. Sabina Alijewa, die Menschenrechtsbeauftragte in Aserbaidschan, erklärt, dass er keinerlei Probleme mit der Gesundheit habe, er können mit Verwandten telefonieren und habe insgesamt keine Beanstandungen hinsichtlich der Haftbedingungen. Der frühere Abgeordnete des Bergkarabach-Parlaments, David Galstjan, erzählte Journalisten, dass sich die anderen Inhaftierten auch nicht beklagen würden und mit den Verwandten kommunizieren könnten.

„Periodisch erinnert man sich an die Führer der Republik Bergkarabach. Dies ist aber keine vorrangige Aufgabe für die Offiziellen Armeniens. In einigen von ihnen sieht das Paschinjan-Team eine Gefahr für sich. Daher ist es für sie möglicherweise gar bequem, dass diese Menschen jetzt in einem aserbaidschanischen Gefängnis und nicht in Jerewan sind“, sagte der „NG“ Aik Chalatjan, Leiter des Analytischen Zentrums für strategische Studien und Initiativen. „Was die einfachen Einwohner des Landes angeht, so fordert der politisch aktive Teil deren Freilassung“, betonte er.

Derweil behauptet Paschinjan, dass auswärtige Akteure ab 1996 die Karabach-Frage als einen Hebel für die Verhinderung einer Entwicklung der armenischen Staatlichkeit ausgenutzt hätten. Die Republik Bergkarabach sei ihnen angeblich nötig gewesen, damit Armenien nicht als ein unabhängiger Staat existieren könne. Es sei daran erinnern, dass in jenem Jahr der OSZE-Gipfel in Lissabon stattfand, in dessen Verlauf ohne eine Zustimmung Jerewans erklärt wurde, dass Bergkarabach ein Teil Aserbaidschans sei, der eine umfangreiche Autonomie erhalten müsse.

In der gegenwärtigen Etappe sind die Offiziellen Armeniens bestrebt, sich auf maximale Weise selbst vor Erinnerungen an Bergkarabach abzuschotten. So ist sich der Vorsitzende des Parlaments der Republik, Alen Simonjan, sicher, dass der Versuch, die Staatlichkeit in Bergkarabach wiederherzustellen, zu einer direkten Bedrohung und zu einem Schlag gegen die Sicherheit Jerewans werde. Außerdem erklärte Armeniens Präsident Waagn Chatschaturjan, dass im Land die Institute der Staatsmacht der Republik Bergkarabach nicht agieren werden. „Für was werden die „staatliche Institutionen von Karabach“ handeln? Es gibt die Republik Armenien, und ihre Institute wirken“, sagte Chatschaturjan.

Die armenischen Behörden wollten nicht einmal eine Verwaltung für Sonderprogramme für die unfreiwilligen Übersiedler aus der Republik Bergkarabach, darunter zu Fragen ihrer möglichen Rückkehr schaffen. Mit solch einem Vorschlag hatte sich der frühere Sekretär des Sicherheitsrates der selbstproklamierten Republik, Samwel Babajan, an Paschinjan gewandt. Ihn hatte man ohne Erklärung der Gründe abgelehnt. Parallel dazu hat Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew einen Erlass über die Gründung der Karabach-Universität unterschrieben. Sie wird auf der Basis der früheren staatlichen Universität von Arzach in Stepanakert (Chankendi im Sprachgebrauch Aserbaidschans) arbeiten. Dabei ist die armenische Hochschule nicht nach Armenien umgezogen, sondern hat sich aufgelöst. Und auch ihre wissenschaftliche Zeitschrift „Vestnik ArGU“ („Bote der Arzach-Staatsuniversität“) erscheint nicht mehr.

Allerdings rufen die Gegner von Paschinjan auf, den Kampf um Bergkarabach fortzusetzen, wobei die Erinnerungen an jene Zeiten bewahrt werden sollen, in denen man es nicht als eine Bürde, sondern als ein Schutzschild Armeniens bezeichnete. Der Anführer der Demokratischen Partei Armeniens, Aram Sarkisjan, besteht auf die Bildung einer Exilregierung und eines Bergkarabach-Parlaments.

„In der ganzen Welt legen die Politiker die Geschichte so aus, damit sie ihre Entscheidungen rechtfertigt. In diesem Sinne sind die armenischen Offiziellen keine Ausnahme“, erklärte der „NG“ der armenische politische Analytiker Arschaluis Mgdesjan. „Bis zum Jahr 2020 hatten sie erklärt, dass „Arzach Armenien ist. Und basta“. Aber nach der Niederlage im Krieg haben sie ein anderes Narrativ gefunden, das ihnen hilft, gegen die Opposition zu kämpfen, die Rhetorik in den Beziehungen mit den ausländischen Partnern inklusive Russland zu verschärfen und sich dem Westen anzunähern“, sagte er.

Dabei betonte Mgdesjan, dass die Vertreter der armenischen Gesellschaft unterschiedlich auf die sich veränderte Rhetorik der Herrschenden reagieren würden. Jedoch sind jene, die man als ihre Anhänger und Gegner bezeichnen könne, dennoch eine Minderheit. „Am besten haben dies die Wahlen zum Ältestenrat (der gesetzgebenden Versammlung) von Jerewan gezeigt. Zu den Wahlen kamen 28,46 Prozent der Wähler, ein Rekord aufgrund der geringen Wahlbeteiligung. Man kann sagen, dass sich die übrige Bevölkerung in einer Apathie befindet. Ihr ist weder das nahe, wovon Paschinjan spricht, noch das, was seine Gegner vorschlagen. Aber dies ist auch eine Stütze für das heute herrschende Regime“, resümierte der Experte.