Bei den am 20. Juni stattgefundenen vorgezogenen Wahlen zur Nationalen Versammlung (dem Parlament) Armeniens hat die Partei des amtierenden Premierministers Nikol Paschinjan „Zivilvertrag“ einen überzeugenden Sieg mit 53,92 Prozent der abgegebenen Stimmen errungen. Dies ist ausreichend für eine selbständige Regierungsbildung. Ins Parlament sind auch zwei Blöcke eingezogen, hinter den zwei Expräsidenten des Landes stehen – „Armenien“ von Robert Kotscharjan (21,04 Prozent) und „Ich habe die Ehre“ von Sersch Sargsjan (5,23 Prozent). Eine der ersten Gratulationen zum Sieg erhielt Paschinjan aus dem Kreml.
Die endgültigen Wahlergebnisse wird die Zentrale Wahlkommission Armeniens gemäß Verfassung in einer Woche verkünden. Es sind aber keinerlei ernsthafte Veränderungen zu erwarten. Entsprechend den veröffentlichten Daten sind am Sonntag 49,4 Prozent des Elektorats in die Wahllokale gekommen, das für 21 Parteien und vier Blöcke abstimmen konnte. Die Sperrklausel für Parteien war mit fünf Prozent festgelegt worden, für Blöcke – mit sieben Prozent. Somit würden entsprechend den Ergebnissen nur „Zivilvertrag“ und „Armenien“ ins Parlament einziehen. Gemäß der Verfassung muss die Nationalversammlung jedoch aus mindestens drei politischen Subjekten bestehen. Daher sind auch für den Block „Ich habe die Ehre“, der auf den dritten Platz gelangte, die Türen zum höchsten gesetzgebenden Organ Armeniens offen geblieben.
Bei der Kommentierung der Wahlergebnisse konstatierte der Analytiker David Petrosjan, dass sie den meisten Prognosen entsprechen würden. „Zu einer Überraschung wurde die Anzahl der Stimmen, die „Zivilvertrag“ erhielt. Die Mehrheit der Experten war der Meinung, dass nicht eine der Parteien oder nicht einer der Blöcke allein die Regierung bilden und das Land führen werden könne und dass eine Koalition gebildet werden müsse. Dies hatten auch die zahlreichen Umfragen belegt. Die Partei Paschinjans hat jedoch eine stabile Mehrheit erlangt“, sagte Petrosjan der „NG“.
Nach seiner Meinung bestehe der Hauptgrund für den Misserfolg der ressourcenstärkten Kolonne der Opposition – des Blocks „Armenien“ – darin, dass sie den Wählern in ihrer Kampagne kein Paradigma bieten konnte, das sich von dem durch Paschinjan unterbreiteten „Ehemalige Herrschende – heutige Herrschende“ unterscheidet. Er ist der Auffassung, dass, wenn Kotscharjan und Sargsjan den Vorschlag noch eines Ex-Präsidenten – von Levon Ter-Petrosjan – angenommen und ein gemeinsames Team gebildet und als Kandidat für das Amt des Premiers einen politisch neutralen Manager, der imstande ist, eine technokratische Regierung zu bilden, nominiert hätten, so Paschinjan nicht das Paradigma „Ehemalige – heutige“ hätte ausspielen können. Dementsprechend hätte das Ergebnis auch ein anderes sein können.
„Jetzt aber hat sich eine vollständige Rotation der Opposition vollzogen, und ihre Möglichkeiten, auf die Herrschenden Druck auszuüben, werden dadurch eingeschränkt, dass sie nur ein Drittel der Mandate kontrolliert. Überdies hatte Paschinjan im Verlauf der Wahlkampagne harte Maßnahmen gegen seine politischen Opponenten – unter den Staatsangestellten, Militärs und anderen – versprochen. Und wenn er von den Worten zu den Taten übergeht, wird sich die innenpolitische Situation noch mehr zuspitzen (und laut ersten Meldungen aus den Regionen hat bereits eine entsprechende Welle begonnen – Anmerkung der Redaktion). Und man muss sich dessen erinnern, dass die Wahlen die Probleme des Landes nicht gelöst haben. Und davon, wie sie die neue Regierung Paschinjans zu lösen beginnt, wird abhängen, wie sich der politische Prozess vollziehen wird – mit einem Trend zur Konfrontation oder zu einer Zusammenarbeit“, sagte der „NG“ David Petrosjan.
Der Doktor der Geschichtswissenschaften und Politologe Armen Chanbajan kommentierte den beinahe dreifachen Vorsprung Paschinjans gegenüber seinem Hauptrivalen Kotscharjan und konzentrierte die Aufmerksamkeit auf den überzeugenden Sieg in Sjunik, dem südlichen Verwaltungsgebiet, wo nach dem Bergkarabach-Krieg vom vergangenen Herbst die neue Grenze mit Aserbaidschan gezogen wurde. „Es war gedacht worden, dass die Probleme der Einwohner des „neuen Grenzgebietes“, ausgelöst durch diesen Umstand, sie von Paschinjan abspenstig machen würden. Doch es erfolgte das Gegenteil. Es stellte sich heraus, dass sich die Einwohner von Sjunik ausgezeichnet daran erinnern, unter was für einem Joch der früheren lokalen Offiziellen sie leben mussten. Analog ist es auch in den anderen Regionen“, sagte Chanbanjan der „NG“. Eine andere Begründung für den überzeugenden Sieg Paschinjans findet sich in einigen erzielten Erfolgen. Entgegen den Erklärungen seiner Opponenten fährt das Land nicht in die Hölle, sondern eher umgekehrt: Es werden neue Straßen gebaut, entwickelt wurde eine Menge erfolgreicher Startup-Projekte in den verschiedensten Bereichen – auf den Gebieten der IT, Land- und Energiewirtschaft usw. -, und spürbar verringert haben sich die Ausmaße der Korruption. „Ja, und es hat in der neuen Geschichte keinen Präzedenzfall dafür gegeben, dass die an die Macht gekommene junge Generation sie den betagten Vorgänger zurückgegeben hat“, sagte der „NG“ Armen Chanbabjan.
Allerdings sind die Vertreter des Blocks „Armenien“ wohl kaum damit einverstanden, die eine Nichtanerkennung der Abstimmungsergebnisse erklärten und die Bereitschaft signalisierten, sie im Verfassungsgericht anzufechten. Viele andere Teilnehmer der Wahlen haben jedoch den Gewinnern gratuliert. Und die zahlreichen Wahlbeobachter haben keinerlei ernsthafte Verstöße festgestellt, die in der Lage sind, die Ergebnisse zu beeinflussen.