Im Vorfeld des Treffes von Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew und Armeniens Premier Nikol Paschinjan, das am 14. Mai in Brüssel unter Beteiligung von EU-Präsident Charles Michel stattfinden wird, hat sich die Situation an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze erneut zugespitzt. Die Außenministerien Armeniens und Aserbaidschans haben Erklärungen abgegeben, in denen sich die Seiten einer „traditionellen Provokation vor wichtigen Verhandlungen“ bezichtigten. Von armenischer Seite wurden am Donnerstag vier Verwundete gemeldet, von der aserbaidschanischen Seite – ein Toter und ein Verwundeter. Bisher zu den Mittagsstunden des 11. Mai hatte sich die Situation in der Richtung von Sotk, wo sich die Zuspitzung ereignet hatte, stabilisiert. Am Freitag war dies aber alles erneut Vergangenheit, da es erneut zu einem gegenseitigen Beschuss an der Grenze kam. Baku sprach von einem Beschuss aus armenischen Haubitzen und mit Fla-Raketen sowie von einem erneuten toten Militär. Als Erwiderung meldete Jerewan, dass Sotk wieder aus Artilleriewaffen und das Dorf Kut mit Drohnen beschossen worden sei. Zwei weitere armenische Militärs wurden verwundet.
Baku bezeichnet seine Handlungen als Antwort auf den Beschuss aserbaidschanischer Positionen durch armenische Formationen zwecks Destabilisierung.
In einer Mitteilung von Aserbaidschans Außenministerium heißt es, dass die armenischen Streitkräfte iranische Drohnen eingesetzt hätten, was im Übrigen das Verteidigungsministerium Armeniens dementierte: In der armenischen Armee würden sich keine iranischen Drohnen in der Bewaffnung befinden.
Der Militärexperte Adaljat Werdijew erklärte bei einer Kommentierung des Geschehens, dass Armenien durch derartige Handlungen die Friedensgespräche in Zweifel ziehen würde. „Vor zwei Tagen (am 9. Mai) befand sich Paschinjan in Moskau. Nach der Rückkehr nach Jerewan holte er die gesamte Militärführung zusammen. Danach kam es zur Zuspitzung an der Grenze. Dies kann belegen, dass Paschinjan einen Auftrag für diese Provokationen von äußeren Kräften erhalten hat“, erklärte Werdijew gegenüber aserbaidschanischen Medien.
Nikol Paschinjan erklärte, dass sich die Handlungen Aserbaidschans in das gesamte Bild einfügen würden. Es gehe um die Ausübung von Druck für den Erhalt eines möglichen Maximums bei den Gesprächen. Er unterstrich, dass Aserbaidschan die Taktik verfolge, neue Probleme zu schaffen, damit die existierenden in den Hintergrund treten. „Indem diese Provokation an der Grenze vorgenommen wurde, hofft die aserbaidschanische Führung augenscheinlich, das Problem des Latschin-Korridors (die einzige Straßenverbindung, die Bergkarabach mit Armenien verbindet – „NG“) in den Schatten zu stellen, damit diese Frage nicht erörtert wird“, erklärte Paschinjan.
Bei der Regierungssitzung vom 11. Mai wies der armenische Premier die Gerüchte zurück, dass in Brüssel irgendein Dokument unterzeichnet werde: „Solch eine Wahrscheinlichkeit ist sehr gering, denn der Entwurf für den Vertrag über die Schaffung von Frieden und zwischenstaatlicher armenisch-aserbaidschanischer Beziehungen befindet sich in einem konzeptionellen Zustand, und es ist verfrüht, von einer Unterzeichnung zu sprechen“.
Er begann dabei nicht, die Publikationen in armenischen Medien zu kommentieren, wonach das Treffen in Brüssel nur nach einer Ablehnung einer Teilnahme von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an ihnen durch die armenische Seite zu einem möglichen geworden sei. Darauf hätte Baku bestanden. Gemäß den gleichen Veröffentlichungen könne in zwei Wochen in Kischinjow noch ein Treffen Paschinjans mit Alijew stattfinden, aber bereits unter Beteiligung Macrons und Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz. Und im Oktober könnten die Verhandlungen in der spanischen Stadt Granada fortgesetzt werden.
Aber bis zu alle dem werden sich bereits am 19. Mai die Außenminister Ararat Mirzojan und Jeyhun Bayramov in Moskau treffen. Nach Meinung der meisten Politologen würden sie in der russischen Hauptstadt die Vereinbarungen bekräftigen, die im Verlauf der jüngsten vierseitigen Verhandlungen in den USA erreicht wurden. Was aber die Minister konkret erreicht haben, bleibt unbekannt. Obgleich US-Außenminister Antony Blinken die Gespräche als erfolgreiche bezeichnete, belegt das Ausbleiben der geringsten positiven Information aus Baku oder aus Jerewan eher den floskelhaften Charakter seiner Erklärung. Weitaus mehr ist über die Widersprüche in den Positionen Armeniens und Aserbaidschans bekannt. Zwischen den Seiten bestehen tiefe Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Schlüsselfragen. Sie betreffen nicht nur Bergkarabach, sondern auch die kleinen Enklaven.
Baku verlangt eine offizielle eindeutige Anerkennung von Bergkarabach als Teil Aserbaidschans durch Armenien. Ohne sich dabei auf allgemeine Formulierungen über die territoriale Integrität Aserbaidschans zu beschränken. Bergkarabach als sein Territorium betrachtend, will Baku alle damit verbundenen Fragen selbständig lösen.
Armenien fordert seinerseits, dass der Dialog zwischen Baku und Stepanakert unter der Kontrolle internationaler Beobachter erfolgt. Was eine faktische Wiederbelebung der Minsker OSZE-Gruppe bedeutet, die über Jahrzehnte die armenisch-aserbaidschanischen Verhandlungen begleitete und betreute, dabei aber keinen besonderen Erfolg zu erzielen vermochte.
Die Widersprüche zwischen Armenien und Aserbaidschan beschränken sich aber nicht nur allein auf Bergkarabach. Jerewan versucht, von Baku einen Verzicht auf acht kleine Dörfer zu erreichen, die zu Sowjetzeiten aserbaidschanische Enklaven in Armenien gewesen waren. Baku möchte jedoch jenes „sowjetische Verhältnis“ wiederherstellen, was Armenien in keiner Weise recht ist. Die Sache ist die, dass diese winzigen Ortschaften – teilweise unbewohnt – an strategischen Straßenverbindungen, die die nördlichen und südlichen Regionen Armeniens verbinden, aber auch an Fernverkehrsstraßen, die nach Georgien und in den Iran verlaufen, liegen.
Der Politologe Alexander Iskandarjan ist der Auffassung, dass Aserbaidschan versuche, so schnell als möglich das Bergkarabach- und das armenische Thema insgesamt durch die Unterzeichnung eines Friedensvertrages abzuschließen, solange Russland mit der Ukraine beschäftigt sei. Dem pflichtet der russische Politologe Nikolaj Silajew bei, der noch den türkischen Faktor erwähnt. Nach Meinung Silajews könne Baku im Falle einer Niederlage von Recep Tayyip Erdogan bei den Präsidentschaftswahlen eine unerschütterliche Stütze in Gestalt von Ankara verlieren, d. h., die Beziehungen würden gute bleiben, aber bereits mit einigen Einschränkungen.
Im Vorfeld der Verhandlungen in Brüssel erörterte US-Außenminister Antony Blinken die Situation im Südkaukasus mit Charles Michel, dem Präsidenten des Europäischen Rates. „Frieden im Südkaukasus ist unser erstrangiges Ziel“, hatte da Blinken erklärt.