Der Umstand, dass sich Geistliche der Protestbewegung in Armenien anschlossen, hat dazu geführt, dass die Regierung beschlossen hat, den Druck auf die Kirche zu verstärken. Man kann eines der nationalen Symbole mit Steuern belegen und Grundstücke wegnehmen. Allerdings beabsichtigen die Kirchenvertreter sich nicht zu beugen.
Der Erzbischof der Diözese von Tawusch, Bagrat Galstanjan, hat entschieden, dass man mit den Meetings und Aktionen eines Ungehorsams auf den Straßen nichts übereilen muss, obgleich für den kommenden Sonntag (26. Mai) in Jerewan eine Großkundgebung der Bagrat-Anhänger auf dem Platz der Republik angekündigt wurde. Wahrscheinlich ist, dass zu einer Ursache dessen die drastische Verringerung der Anzahl ihrer Teilnehmer geworden ist. Anstelle dessen begann der Geistliche, Expertentreffen zu organisieren. Er hat unter anderem schon Beratungen mit Vertretern der aufgelösten selbstproklamierten Republik Bergkarabach, mit Heimkehrern und Geschäftsleuten durchgeführt. Galstanjan schließt nicht aus, dass er sich in der Zukunft mit allen ehemaligen Präsidenten Armeniens treffen werde.
Einer von ihnen, Sersh Sargsjan, hat bereits erklärt, dass er bereit sei, jeglichen Kandidaten für das Amt des Premierministers zu unterstützen, den der Geistliche vorschlage. Bemerkenswert ist, dass der Erzbischof ungeachtet einer kanadischen Staatsbürgerschaft nicht ausschließt, dass er selbst die Regierung anführen könne, wenn es dafür einen Willen Gottes gebe.
Derweil sind die armenischen Offiziellen, nachdem sie gesehen haben, dass die vom Erzbischof angeführte Protestbewegung nachließ, selbst zu einer Offensive übergegangen. Wie Premierminister Nikol Paschinjan sagte, sei die Armenisch-Apostolische Kirche zu einem „Agenten einer Einflussnahme“ geworden. Er werde sich aber damit in den nächsten zwei, drei Monaten befassen. „Das armenische Volk hatte Erfahrungen, als Vertreter des Klerus nach Kesaria (eine Stadt in Byzanz, in der die armenischen Katholikosse im frühen Mittelalter den Segen erhalten hatten – „NG“) gegangen waren und dort geweiht wurden, aber nach der Rückkehr nach Armenien zu Agenten einer Einflussnahme wurden. Es scheint, dass sich bei ihnen seitdem nichts verändert hat“, betonte der Regierungschef.
Dabei gab Paschinjan zu verstehen, dass Galstanjan und seine Anhänger speziell gegen eine Delimitation der Grenze mit Aserbaidschan auftreten würden, um Armenien zu einer legitimen Zielscheibe für die Nachbarn zu machen. Im Ergebnis dessen könne die Republik keine unabhängige sein. Und die Initiatoren all dessen würden sagen, dass man auch ohne weltliche Offizielle auskommen könne. „Es gibt auch andere Verwaltungssysteme, wozu brauchen Sie eine Regierung, wozu brauchen Sie eine örtliche Selbstverwaltung, wozu brauchen Sie ein Parlament, wenn es die Diözesen gibt? Wozu brauchen Sie zehn Verwaltungsgebiete? Sie werden zehn Diözesen haben“, führte Paschinjan als ein Beispiel an.
Seinerseits erklärte Armeniens Parlamentschef Alen Simonjan, dass sich die Kirche mit einer Wirtschaftstätigkeit befasse, aber keine Steuern zahle. „Es reicht schon, mit unseren Emotionen, mit der Geschichte zu spielen und sich bereits mit Politik befassend loszuziehen, Geld in der Diaspora zu sammeln. Kerzen, Coca-Cola und Wein zu verkaufen, Restaurants zu besitzen und keine Steuern zu zahlen“, erklärte Simonjan bei einem Parlamentsauftritt.
Allerdings zahlt die Kirche dennoch etwas. Entsprechend den Ergebnissen des vergangenen Jahres hat die Armenisch-Apostolische Kirche 435 Millionen Dram (umgerechnet über 1,1 Millionen Dollar) an die Staatskasse überwiesen und nahm die 758. Position in der Liste der größten Steuerzahler des Landes ein. Dabei sind die Geistlichen von der Entrichtung einer Eigentums- und einer Gewinnsteuer, aber auch teilweise von einer Zahlung der Mehrwertsteuer entbunden worden. Der Hauptteil ihrer Zahlungen an die Staatskasse entfällt auf die Einkommenssteuer, die in Armenien zwanzig Prozent ausmacht.
Rustam Badasjan, der Vorsitzende des Parlamentsausschusses für staatliche Einnahmen, erklärte schon, dass es im Steuerkodex des Landes viele Bestimmungen gebe, die Vergünstigungen vorsehen. Aber nicht alle seien angebracht. Nach seinen Aussagen müsse man das System einer Revision unterziehen. Überdies teilte Artur Owannisjan, Sekretär der regierenden Partei „Zivilvertrag“, mit, dass die Armenisch-Apostolische Kirche für den Staat nützliche Grundstücke haben könne, die sie nicht nutze. Er unterstrich, dass die Kirche eine besondere Rolle im Land spiele. Aber unter Berücksichtigung der demokratischen und steuerrechtlichen Veränderungen, aber auch der Entwicklung der staatlichen Institutionen müssten alle Finanzmittel in Armenien aus dem Schattenbereich kommen.
Die Reaktion der Kirche ließ nicht lange auf sich warten. Der Chef der Kanzlei von Etschmiadsin, dem geistlichen Zentrum der armenischen Kirche, Erzbischof Arschak Chatschatrjan, bezeichnete die Behauptung als eine Lüge, dass die Armenisch-Apostolische Kirche keine Steuern zahle. Das Oberhaupt der Diözese von Schirak, Erzbischof Mikael Adshapachjan, war radikaler: „Ich wiederhole diesen Erbärmlichen und Armseligen das einhundertste Mal: Wir haben stärkere gesehen. Die Kirche besiegte sie und setzte ihr Wirken fort. Es gibt Grenzen und ein Maß. Es reicht! Wie kann man so kleinlich und kleinkariert, so armselig sein?“
Priester Asogik Karapetjan schlug den Herrschenden Armeniens vor, „nicht die Armenisch-Apostolische Kirche anzutasten“, die er als ein „absolutes nationales Gut“ bezeichnete.
Der armenische Politologe Mikael Soljan ist der Auffassung, dass die gegenwärtige Konfrontation eine Fortsetzung des Konfliktes sei, der im Jahr 2018 zwischen der Kirche und dem Staat begann. Nach dem Machtantritt von Paschinjan hatte eine gesellschaftliche Bewegung begonnen, die forderte, ein neues Oberhaupt der Armenisch-Apostolischen Kirche anstelle von Garegin II. zu wählen, dem man Korruption vorgeworfen hatte. Der Katholikos und seine Umgebung dachten, dass der Premierminister dahinterstehe, obgleich er sich von der Konfrontation distanziert hatte. Nach dem zweiten Karabach-Krieg im Jahr 2020 hatte die Kirche öffentlich die Opposition in Gestalt der Ex-Präsidenten Robert Kotscharjan und Sersh Sargsjan unterstützt. Und jetzt ist ihr Vertreter Galstanjan ganz und gar zu einem Anführer der Proteste geworden.
„Es ist schwer zu sagen, wieweit die Armenisch-Apostolische Kirche zu gehen bereit ist, denn sie hat etwas, was sie verlieren kann. Sie hat viele Privilegien, darunter restlich nicht festgeschriebene. Nunmehr gibt Paschinjan der Kirche zu verstehen, dass sie aufhören solle, sich in die Politik einzumischen“, unterstrich Soljan.
Ajk Chalatjan, Leiter des Analytischen Zentrums für strategische Studien, ist der Meinung, dass die Armenisch-Apostolische Kirche die letzte gesellschaftliche Institution sei, die in der Lage sei, Probleme für die Realisierung der Politik von Paschinjan zu schaffen, die viele Armenier als eine staatsfeindliche bewerten würden. „Die Regierung sucht nach Methoden, die erlauben, vollkommen die Kirche zu neutralisieren, damit sich die Opposition nicht um sie vereinigen kann. Die Kirche hat wirklich eine sehr große Ressource, wenn man berücksichtigt, dass der überwiegende Teil der armenischen Gesellschaft Anhänger der Armenisch-Apostolischen Kirche ist.
Zur gleichen Zeit aber ist die Kirche wie auch früher die anderen oppositionellen Kräfte nicht bereit, sich auf innere Zusammenstöße, auf ein Blutvergießen einzulassen, um eine Absetzung von Paschinjan und seinem Team zu erreichen. Der Premier nutzt dies aus. Er wird aber wohl kaum gewinnen können. Die Armenisch-Apostolische Kirche ist 301 entstanden und hat seitdem erfolgreich eine Vielzahl von Angriffen auf ihre Unabhängigkeit und selbst ihre Existenz seitens anderer Staaten, unter deren Herrschaft sich Armenien befunden hatte, überstanden. Diese Imperien sind aber zusammengebrochen und verschwunden. Die armenische Kirche hat aber ihre Existenz bewahrt“, erklärte Chalatjan gegenüber der „NG“.
Post Scriptum
Bereits nach Redaktionsschluss für den vorliegenden Beitrag meldete die russische Nachrichtenagentur Interfax am Samstag, dass Erzbischof Bagrat Galstanjan die Bürger des Landes aufgerufen habe, am Sonntag am Meeting im Zentrum von Jerewan teilzunehmen. „In Armenien gibt es aus rechtlicher und moralischer Sicht keine Herrschenden als solche. All dem muss ein Ende bereitet werden. Anders kann es nicht sein“, erklärte der Erzbischof am Samstag gegenüber Journalisten. Nach seinen Worten erlebe der Premierminister der Republik, Nikol Paschinjan, „die letzten Tage“ seines politischen Lebens.