Die Ukraine feierte am Dienstag, dem 24. August, ihren 30. Unabhängigkeitstag. Und unter den Gästen, die zu den Feierlichkeiten nach Kiew gekommen waren, erregte der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel Bartholomäus I. besondere Aufmerksamkeit. Er hatte einen langen Besuch auf Einladung von Präsident Wladimir Selenskij unternommen. Die offizielle Erklärung hatte jedoch nicht die Frage beantwortet, welche Beziehung der religiöse Vertreter zu dem rein politischen Ereignis hat.
Vor dreißig Jahren hatte der Oberste Sowjet der Ukrainischen SSR die Unabhängigkeitsdeklaration verabschiedet, und seit diesem Zeitpunkt rechnet die heutige Ukraine den Beginn des eigenständigen politischen Bestehens. Das historische Ereignis ist mit den Folgen des Moskauer Putsches des Staatskomitees für den Ausnahmezustand, der letzten Endes nach drei Jahren gescheitert war, zu erklären. Wenige Tage, nachdem die Putschisten festgenommen worden waren und die Demokratie gerettet worden war, wählte auch die Ukraine den Weg der Souveränität. Freilich, der formelle Zusammenbruch der Sowjetunion erfolgte er nach vier weiteren Monaten, im Dezember 1991.
Wie wir sehen, hat die Kirchenfrage zu den Ereignissen, die mit dem denkwürdigen Datum zusammenhängen, eine mittelbare Beziehung. Im Verlauf von 1990 und 1991 hatte sich parallel zur Entwicklung separatistischer Tendenzen in der Ukrainischen SSR eine Kirchenbewegung für eine Eigenständigkeit von Moskau entwickelt. In der weiteren Folge wurde das Ukrainische Exarchat etabliert und später die Ukrainische orthodoxe Kirche, die formal als eine eigenständige proklamiert worden war, obgleich auch in einer Einheit mit der Russisch-orthodoxen Kirche. Jedoch hatte Filaret (Denisenko), der sich 1992 auf eine Spaltung einlässt und die Bildung des Kiewer Patriarchats bekanntgibt, bereits im Sommer 1990 auf ein Patriarchenamt in der Russisch-orthodoxen Kirche Anspruch erhoben. Wie dem auch sei, doch die kontroverse Geschichte der ukrainischen kirchlichen Unabhängigkeit, die mit dem Namen von Filaret verbunden ist, muss für Patriarch Bartholomäus I. eine unangenehme sein. Schließlich hatte sich Filaret letztlich vom Tomos über die Autokephalie der Orthodoxen Kirche der Ukraine losgesagt, der durch Bartholomäus im Jahr 2018 unterzeichnet worden war. Und jetzt befindet sich Denisenko in Opposition zu Konstantinopel.
Mit der Einladung des Oberhaupts der orthodoxen Kirche von Konstantinopel nach Kiew hatte Selenskij an ein Zusammentreffen von Daten erinnert. Im November wird Bartholomäus den 30. Jahrestag seiner Inthronisierung als Patriarch begehen. Doch selbst solch ein Zahlen-Symbolismus sieht wie einer, der an den Ohren herbeigezogen wurde, aus.
Bartholomäus hat einen ersten Kiew-Besuch nach der Bildung der Orthodoxen Kirche der Ukraine unternommen. Obgleich die Proklamierung der Autokephalen ukrainischen Kirche mit einer entscheidenden Rolle von Konstantinopel erfolgte, wäre es logischer gewesen, wenn der religiöse Funktionär Kiew am Tag der Taufe der Rus – der Ukraine besucht hätte. Zumal Bartholomäus auch während dieses Besuchs diesen zu rechtfertigen suchte und daran erinnerte, dass die Rus die Taufe von Byzanz empfangen hätte und Konstantinopel seitdem eintausend Jahre lang Kontakt mit Kiew halte.
Warum wurde aber ein anderes Datum für den Besuch des Ökumenischen Patriarchen ausgewählt? Sicherlich nicht nur, weil in diesem Jahr der Jahrestag der Christianisierung der Rus kein runder gewesen war. Aufmerksamkeit löst die Priorität der politischen Tagesordnung der Visite des Patriarchen gegenüber der kirchlichen aus. „Wir sind mit allem sehr zufrieden, was in der Orthodoxen Kirche der Ukraine seit der Zeit der Gewährung des Tomos über die Autokephalie erreicht worden ist“, sagte Bartholomäus am Vorabend der Kiew-Reise in einem Interview für eines der ukrainischen Medien. „Wir sind auf den Dienst und das Zeugnis der Kirche, wobei wir nicht verhehlen, dass sie zu einem Objekt gnadenloser Erscheinungen von Verleumdung und Falschheit seitens bestimmter Kreise geworden ist, die keine Unabhängigkeit des orthodoxen Christentums in der Ukraine von äußeren Einflüssen möchten“. Im Verlauf seines Kiew-Aufenthaltes demonstrierte der Gast das Festhalten an der Idee gerade der politischen Souveränität der Ukraine.
Patriarch Bartholomäus besuchte als erstes die Mauer des Gedenkens am Michail-Kloster. Es gibt Fotos, auf denen er entlang dem Memorial in Begleitung des Oberhaupts der Orthodoxen Kirche der Ukraine, Metropolit Epiphanius (Dumenko) läuft. Und zu sehen war die Inschrift: „Mauer des Gedenkens an die Verteidiger der Ukraine im russisch-ukrainischen Krieg. Dies sah recht herausfordernd aus, so als hätte der ausländische Kirchenvertreter eindeutig eine Seite in dem bewaffneten Konflikt eingenommen. Wir klammern einmal die Vielzahl der Auslegungen hinsichtlich der Ereignisse im Donbass aus, doch das, wie man die Situation in der Ukraine auffasst, versetzt den Patriarchen von Konstantinopel in eine noch unbequemere Lage. Allerdings konnte dies auch einfach ein festgehaltener zufälliger Moment gewesen sein, da im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Patriarchen doch das Gedenken an die Opfer des Holodomors (Teil der Hungersnot in der Sowjetunion in den 1930er Jahren, der sich in der Ukraine abspielte – Anmerkung der Redaktion) stand, wie die Medien hervorhoben, was im Kontext der christlichen Barmherzigkeit akzeptabel ist.
Am ersten Tag seiner Visite besuchte Bartholomäus die Werchowna Rada (das ukrainische Parlament). Und danach empfing Wladimir Selenskij den Patriarchen. Aus dem Munde des Präsidenten hörte das Oberhaupt der Kirche von Konstantinopel eine Reihe zweifellos politischer Erklärungen. „Das Staatsoberhaupt dankte seiner allerhöchsten Heiligkeit für die bedingungslose persönliche Unterstützung der Souveränität, der territorialen Integrität der Ukraine und deren Unabhängigkeit“, heißt es in einer Mitteilung auf der offiziellen Internetseite des ukrainischen Präsidenten. „Die Gesprächspartner erörterten Fragen der friedlichen Konfliktregelung im Donbass, die Situation hinsichtlich der Verletzung der grundlegenden Menschenrechte und -freiheiten, unter anderem der Glaubensfreiheit auf den zeitweilig okkupierten Territorien der Ukraine“. „Wladimir Selenskij betonte, dass einer der Faktoren, der durch den Aggressor gegen die Ukraine als eine Hybridwaffe angewendet werde, der religiöse sei“, wird gleichfalls in dieser Mitteilung gesagt.
Politologen äußern unterschiedliche Versionen dazu, warum Selenskij, der zu Beginn seiner Kadenz eine gleiche Distanz zu den religiösen Organisationen demonstriert hatte, darunter zu den in einem Konflikt stehenden Kirchen – der Orthodoxen Kirche der Ukraine und der Ukrainischen orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats -, doch wieder in die „Konstantinopel“-Fahrspur seines Vorgängers Petro Poroschenko zurückgekehrt ist. Die einen meinen, dass Selenskij das nationalistische Elektorat gebraucht hat. Andere verweisen darauf, dass die Feiern zum 30. Jahrestag der Unabhängigkeit mit einer bescheidenen Teilnahme von Gästen aus dem Ausland erfolgten. Und Bartholomäus war für „ökumenische“, die universelle Dimension der Feierlichkeiten nötig gewesen. Freilich vermied er es, bei den Feiern in der Sophienkathedrale aufzutauchen.
So oder so ergibt sich, dass das Thema der kirchlichen Autokephalie unter Selenskij wie auch einst unter Poroschenko die Mängel und gar die Flops jener Projekte kompensiert, die bei der Distanzierung von Russland im Jahr 2014 in den Vordergrund gerückt wurden. Die Ukraine ist der Europäischen Union nicht beigetreten, und sie wurde kein NATO-Mitglied. Das einzige „prowestliche“ Vorhaben, das zu einem logischen Abschluss gebracht wurde, ist die Schaffung einer Kirche, die unabhängig von Moskau, aber eine „Tochter“ in Bezug auf das Patriarchat von Konstantinopel ist.
Was interessant ist: Diese Sichtweise hat auch die prorussische Seite akzeptiert. Nachdem man in der Russischen orthodoxen Kirche regelmäßig an das „räuberische“ Verhalten von Patriarch Bartholomäus erinnert, haben nun auch in der letzten Zeit russische Diplomaten angefangen, das Thema von der „Diversion gegen die geistliche Einheit“ der russischen Orthodoxie, hinter der angeblich die USA stehen, als ein hauptsächliches in der antiwestlichen Rhetorik im Kontext der Ukraine zu verwenden. Das Schreckgespenst der Autokephalie hat scheinbar gar die unheilverkündenden Vorhersagen von „NATO-Panzern an der Westgrenze Russlands“ verdrängt. Und der Hauptkampf gegen die antirussische Politik hat wohl im Kirchenbereich begonnen, was die Protestaktionen belegten, mit denen die Gläubigen und der Klerus der Ukrainischen orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats Patriarch Bartholomäus empfingen. Beobachter konstatieren in diesem Zusammenhang, dass die Dimensionen der Protestaktionen jedoch bescheidene und sehr kurzatmige gewesen seien. Mit einer fragwürdigen Organisation und auch finanziell dürftigen Absicherung sahen die moskautreuen Gläubigen in Kiew in den Tagen des Besuchs des Ökumenischen Patriarchen aus Konstantinopel wie eine klägliche und bedauernswerte Truppe aus.