Seit Beginn der Großen Fastenzeit vor dem Osterfest, das die orthodoxen Christen in diesem Jahr am 24. April feiern, hat der Patriarch von Moskau und Ganz Russland Kirill aufgehört, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, wenn er von den gegenwärtigen Ereignissen in der Ukraine spricht. Das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche hielt am 9. März bereits eine zweite Predigt, in der er klar erklärte, dass in der Konfrontation mit der ukrainischen Regierung und der westlichen Zivilisation gerade Russland Recht habe. Er erläuterte, worin nach seiner Meinung dieses Recht bestehe. Dabei schuf der Patriarch meisterhaft Allusionen zu den ideologischen Konzeptionen der politischen Führung der Russischen Föderation, wobei er aufzeigte, wie deutlich und klar er sich selbst an die Generallinie hält, die vom Kreml vorgezeichnet wurde.
„Derzeit machen wir einen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine durch“, sagte das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche in einer Predigt nach einer Liturgie in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale. „Lassen Sie uns einmal darüber nachdenken: Was kann uns real trennen? Wir sind praktisch ein Volk, das durch ein historisches Schicksal verbunden ist. Wir alle sind aus dem Kiewer Taufbecken herausgekommen, wir sind durch einen Glauben, durch unsere Heiligen, durch ein gemeinsames Hoffen und Vertrauen sowie durch ein und dieselben Gebete verbunden. Was kann uns trennen?! Aber der Feind aus dem Menschengeschlecht wirft durch konkrete Menschen, durch konkrete Vereinigungen von Menschen in die Beziehungen zwischen unseren Völkern Lüge. Und auf der Grundlage dieser Lüge entwickelt sich ein Konflikt. Und wir wissen, dass dies nicht einfach ein Streit zwischen Nachbarn ist. Dies ist ein Konflikt, in den Staaten verwickelt werden, das heißt: Institutionen, die das legitime Recht besitzen, Gewalt anzuwenden, wobei sie ihre Bürger zu Gehorsamkeit zwingen, wenn jene Gesetze verletzen, oder andere Länder, wenn sie in ihnen eine Bedrohung sehen, dazu nötigen, dass diese Bedrohung aufhört“. „Natürlich, das mit den russisch-ukrainischen Beziehungen verbundene Thema, ist heute zu einem Teil der großen Politik geworden. Oder wie man jetzt sagt: der Geopolitik. Und eines der Ziele dieser Geopolitik ist eine Schwächung Russlands, das zu einem starken, zu einem real mächtigen Land geworden ist“, meint das Kirchenoberhaupt.
Es scheint, dass das Wort „Lüge“ nicht zufällig aus dem Munde des Patriarchen zu vernehmen war. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte bei der Erklärung der Gründe der von ihm angeordneten militärischen Sonderoperation in der Ukraine betont, dass der Westen ständig lüge. Das Staatsoberhaupt brachte den Ausdruck „Imperium der Lüge“ in den Umlauf, der augenscheinlich spiegelartig das Klischee „Imperium des Bösen“, mit dem die USA die UdSSR vor einigen Jahrzehnten „geehrt“ hatten, reflektieren soll.
Nur hat Patriarch Kirill den Gedanken des Präsidenten seines Landes weiterentwickelt, indem er ihm einen „metaphysischen“ Sinn verlieh. „Und eben heute versuchen mit allen Kräften die Feinde sowohl des russischen als auch des ukrainischen Volkes von außen her zu suggerieren, dass Sie keine Brüder seien, sondern dass sie Feinde seien und sie gegeneinander kämpfen müssten. Und schließlich ergibt sich irgendwer dieser Versuchung!“, sagt er in der Predigt. Im gesamten Verlauf dieser Predigt verwendet der Patriarch Worte, die einen infernalen Charakter des Westens andeuten. Damit setzt er das Spiel mit der Formulierung von Ronald Reagan „Imperium des Bösen“ fort, mit dem der US-Präsident der 1980er Jahre die Sowjetunion den evangelischen Werten entgegengestellt hatte.
„Da, wo der Teufel ist, dort ist stets eine Lüge. Ja, und was für eine gewaltige Menge an Lüge wird heute verbreitet! Aufgekommen ist sogar solch ein neumodisches Wort wie „Fake“ als ein Synonym für Lüge“. In diesen Worten aus der Patriarchen-Predigt zur großen Fastenzeit ist eine Billigung für den neuen Artikel des russischen Strafgesetzbuches zu vernehmen, der gegen eine Verbreitung von Fake-Informationen über die Handlungen der Streitkräfte der Russischen Föderation in der Ukraine gerichtet ist. Das heißt: Den Hetzern in Russland droht nicht nur ein Freiheitsentzug von bis zu 15 Jahren. Ihnen drohen ewige Qualen in einer anderen Welt. Schließlich seien sie Gehilfen des Teufels. So kann man zumindest die neuesten theologischen Überlegungen des Oberhauptes der Russischen orthodoxen Kirche auffassen.
Früher hatte Patriarch Kirill bereits vom „metaphysischen Charakter“ der Konfrontation von Russland und dem Westen gesprochen, die sich auf dem ukrainischen Boden abspiele. „Acht Jahre lang erfolgen die Versuche, das zu vernichten, was im Donbass existiert“, sagte der Hierarch am 6. März in seiner Predigt am letzten Sonntag vor der großen Fastenzeit (bekannt als Estomihi vor der Passionszeit, an dem entsprechend der Tradition der orthodoxen Christen einander für mögliche ungute Taten um Vergebung gebeten wird – Anmerkung der Redaktion). „Und im Donbass besteht eine Inakzeptanz, eine prinzipielle Ablehnung der sogenannten Werte, die heute von jenen vorgeschlagen werden, die auf eine Weltherrschaft Anspruch erheben. Heute gibt es solch einen Test auf Loyalität gegenüber diesen Herrschenden, einen gewissen Passierschein in jene „glückliche“ Welt, in die Welt eines übermäßigen Konsums, die Welt einer scheinbaren „Freiheit“. Wissen Sie aber, was das für ein Test ist? Der Test ist ein sehr einfacher und gleichzeitig schrecklicher. Dies ist eine Gay-Parade. Die Forderungen an viele, eine Gay-Parade abzuhalten, sind auch der Test in Bezug auf die Loyalität gegenüber eben jener mächtigen Welt. Und wir wissen, dass, wenn Menschen oder Länder diese Forderungen zurückweisen, sie nicht in jene Welt kommen werden. Sie werden für sie zu fremden“. Der Patriarch erinnerte daran, dass Homosexualität durch die Lehre der orthodoxen Kirche verurteilt werde (obgleich es in ihr nicht wenige Menschen gibt, die homosexuell sind – Anmerkung der Redaktion). Somit ergibt sich, dass die militärische Sonderoperation, die die Russische Föderation in der Ukraine bereits die dritte Woche veranstaltet, den Interessen der Russischen orthodoxen Kirche entspricht. „Daher hat dies, was sich heute im Bereich der internationalen Beziehungen abspielt, nicht nur politische Bedeutung. Es geht um etwas Anderes und weitaus Wichtigeres als die Politik. Es geht um die Rettung der Menschheit“, sagte der 75jährige Patriarch.
Möglicherweise stimmen die westlichen und ukrainischen Christen, die anders das Geschehen in Europa beurteilen, nicht solch einer Auslegung der christlichen Methaphysik zu. So hat beispielsweise die katholische Freiburger Universität in der Schweiz am 8. März Metropolit Hilarion (Alfejew) als Titularprofessor suspendiert, da der Vorsitzende der Abteilung für auswärtige Kirchenbeziehungen der Russischen orthodoxen Kirche nach Meinung des Rektorats seinen kirchlichen und politischen Einfluss nicht nutze, «um die völkerrechtswidrige militärische Invasion Russlands in der Ukraine öffentlich und unmissverständlich zu verurteilen“. Und die Haltung und Aussagen von Patriarch Kirill hält die Universität für schockierend. Sie seien in theologischer wie politischer Hinsicht ein Skandal (siehe u. a. https://www.kath.ch/newsd/universitaet-freiburg-suspendiert-metropolit-hilarion/). Es ist jedoch offensichtlich, dass, wie stark auch der Feind des Menschengeschlechts und seine Gehilfen und Komplizen auf der Erde sein mögen, es wird ihnen wohl kaum gelingen, einen Keil zwischen den Patriarchen Kirill und der Führung Russlands zu treiben.