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Patriotismus in Russland soll durch Strafverfahren geweckt werden


In der Staatsduma ist eine Initiative der Gesetzgebenden Versammlung (des Regionalparlaments – Anmerkung) des Verwaltungsgebietes Tscheljabinsk über eine Ergänzung der Strafprozessordnung durch einen Paragrafen zur Einstellung von Verfahren gegen Freiwillige, die für eine Teilnahme der Sonderoperation losziehen, eingegangen. Da man beginnt, Bürger faktisch zum Abschluss von Verträgen zu nötigen, deren Schuld zumindest nicht nachgewiesen worden ist, liegt ein gewisses „strafrechtliches Wecken von Patriotismus“ auf der Hand. Es ist aber keine Tatsache, dass eine Inhaftierung für solche Menschen als eine düstere Perspektive erscheint.

Die Tscheljabinsker Abgeordneten schlagen den Kollegen aus der Staatsduma vor, den Paragrafen „Einstellung eines Strafverfahrens oder einer strafrechtlichen Verfolgung im Zusammenhang mit einer Veränderung der Situation“ in die Strafprozessordnung aufzunehmen. Bereits beim Aus-der-Taufe-heben dieser Initiative war es zu einem kleinen Skandal gekommen.

Das Dokument war Ende März in einem Paket mit anderen gesetzgeberischen Vorschlägen dieses Subjekts der Russischen Föderation gebilligt worden. Gesondert war es nicht erörtert worden. Mehr noch, wie lokale Massenmedien berichten: Nach Fragen und Appellen mit der Bitte, detaillierter diese Gesetzesänderung zu kommentieren, war diese auf der Internetseite des Tscheljabinsker Regionalparlaments irgendwie verloren gegangen, zumindest war das erläuternde Begleitschreiben nicht zugänglich gewesen. Dabei macht es Sinn hervorzuheben, dass vom Auftauchen des Projekts bis zu seiner Billigung nur ganze zwei, drei Tage vergangen waren.

Somit ergibt sich: Da die Initiative doch in die Staatsduma eingebracht wurde, ist sie wohl kaum als irgendeine rein regionale Eigenmächtigkeit anzusehen. Dies belegen sowohl auch die Geschwindigkeit der Vorabbestätigung dieses Gesetzentwurfs als auch der recht hohe Grad der Ausarbeitung seines Wortlautes. Die Gesetzgebende Versammlung des Verwaltungsgebietes Tscheljabinsk ergänzt beispielsweise nicht bloß die Strafprozessordnung mit dem neuen Paragrafen 25.2, sondern inkorporiert ihn auch noch geschickt in jene anderen Teile des Kodexes, die gerade auch unterschiedliche Prozeduren zur Einstellung oder Aussetzung einer strafrechtlichen Verfolgung betreffen. Meistens demonstrieren die regionalen Gesetzgeber keine solche Sorgfalt. Folglich kann angenommen werden, dass es in diesem Fall gute Konsultanten gegeben hat.

Es sei daran erinnert, dass die Polit-Kuratoren aus dem föderalen Zentrum oft derartige „Bitten von der Basis“ organisieren, um zumindest zu zeigen, dass man ja oben die Stimme des Volkes vernehme. Hier jedoch kommen einem sofort die mehrfach in den Medien aufgetauchten Meldungen in den Sinn, dass der Verzicht auf neue Mobilmachungswellen angeblich durch einen gewissen Plan der Herrschenden ausgelöst worden sei, die Sonderoperation mit Freiwilligen in einer Anzahl von etwa 400.000 Menschen zu verstärken. Es ist verständlich, dass gerade auch die Regionen solch einen möglichen Plan umsetzen werden. Dies bedeutet, dass man die Tscheljabinsker Initiative als eine Antwort auf die augenscheinlich bereits verbreiteten Kontrollparameter für die Erfassung von Freiwilligen ansehen kann.

An und für sich ist dieser neue Paragraf der Strafprozessordnung scheinbar nicht schlecht konstruiert worden: „Das Gericht, der Staatsanwalt, aber auch der Untersuchungsführer und Ermittler sind mit Zustimmung des Staatsanwaltes berechtigt, das Strafverfahren gegen eine Person einzustellen, die der Verübung einer Straftat geringer oder mittlerer Schwere verdächtigt oder bezichtigt wird, wenn festgestellt wird, dass im Zusammenhang mit einer Änderung der Situation durch diese Person die Entscheidung über ein freiwilliges Absolvieren eines Militärdienstes in Militärformationen getroffen wird“. Das heißt, es wird sozusagen unterstrichen, dass sich als eine „Änderung der Situation“, die natürlich eine Überraschung für die Untersuchungsbehörden oder Anklage ist, die Information darüber erweist, dass der gewisse Bürger einen Vertrag für eine Teilnahme an der militärischen Sonderoperation unterschreibt.

Aufmerksamkeit erregt aber die Formulierung „eine durch diese Person getroffene Entscheidung“, die die nicht erlaubt, klar die Abfolge der Ereignisse zu bestimmen. Gab es zuerst den Vertrag, dem sozusagen das Strafverfahren stört, oder hat es zuerst doch das (Straf-) Verfahren gegeben und danach bereits den Vertrag. So als ob „gegenwärtig bereits Bürger für einen Dienst in den Streitkräften der Russischen Föderation gewonnen werden, die Verbrechen verübten“. Und ergo „wird somit durch den Staat die Möglichkeit eines Sühnens der Schuld durch den Bürger vor der Gesellschaft und den Staat durch das freiwillige Absolvieren eines Militärdienstes in bewaffneten Formationen anerkannt“. Diese Worte vermitteln im Großen und Ganzen auch ein Begreifen dessen, aus welchem Grund das erläuternde Begleitschreiben von der Internetseite der Gesetzgebenden Versammlung des Verwaltungsgebietes Tscheljabinsk verschwand. Und zwar weil da klar die Notwendigkeit ausgewiesen wurde, ein Instrument sozusagen für ein „strafrechtliches Wecken patriotischer Gefühle“ greifbar zu haben.

In dem bereits erwähnten begleitenden Erläuterungsschreiben werden der Reihe nach vorhandene Mechanismen für eine Verstärkung des Zustroms von Freiwilligen für die militärische Sonderoperation aufgezählt: „Durch die föderale und regionale Gesetzgebung sind materielle und soziale Maßnahmen für eine Unterstützung sowohl der Militärangehörigen als auch deren Familienmitglieder vorgesehen worden. Der gesetzgeberische Prozess entwickelt sich und ist auf unbedingte Maßnahmen für eine Unterstützung und eine Stimulierung der Bürger, die ihre Pflicht zur Verteidigung des Vaterlands in den Reihen der Streitkräfte der Russischen Föderation erfüllen wollen, ausgerichtet. Die erweisen sich aber – allem nach zu urteilen – als unzureichend. Daher nötigt man faktisch die Bürger, die Straftaten geringer und mittlerer Schwere bezichtigt werden, für die man entsprechend den jeweiligen Paragrafen nicht mehr als drei oder fünf Jahre Haft gibt, eine Haftstrafe gegen einen Militärvertrag einzutauschen.

Hierbei erregen zwei Aspekte Aufmerksamkeit. Der erste: Es geht um Personen, deren Schuld einfach noch nicht durch ein Gericht bewiesen wurde. Und sie liegt möglicherweise überhaupt nicht vor. Es sei daran erinnert, dass aus der Praxis Fälle für das Auftauchen von Strafverfahren buchstäblich ohne jegliche Grundlagen bekannt sind. Und der zweite zweifellhafte Aspekt steht mit jener für die Bürger anstehenden Entscheidung in einem Zusammenhang, die die Abgeordneten von Tscheljabinsk ihnen scheinbar auch nicht überlassen. Die Sache ist die, dass es offenkundig mehr Chancen gibt, wenn nicht die Gesundheit so zumindest das Leben hinter Gittern als in der Zone der Kampfhandlungen zu bewahren.