Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Pazifisten wird man in Russland punktuell verfolgen


In zwei Regionen haben Gerichte auf einmal die Seite der Opposition eingenommen, die die Offiziellen unter dem Vorwand eines Schutzes der sogenannten militärischen Sonderoperation vor einer negativen Einstellung zu unterdrücken versuchten. Im Verwaltungsgebiet Pskow hat man einer Aktivistin der außerparlamentarischen Partei „Jabloko“ keine Strafe entsprechend dem „Gesetz über Militär-Fakes“ verhängt. Und in der Verwaltungsregion Altai erwirkte die KPRF das Recht, eine Mahnwache gegen die Zunahme der Preise zu veranstalten. Zuvor war diese im Zusammenhang mit einer angeblich möglichen Diskreditierung der Armee verboten worden. Dies wie auch drei ähnliche Gerichtsentscheidungen in Sankt Petersburg sind vorerst keine Wende des generellen repressiven Trends in Russland. Experten sind jedoch der Auffassung, dass der Strom derartiger Fälle gestoppt werden könne. Zumindest in Bezug auf jene, die völlig grundlos eingeleitet werden.

Am 18. Mai hat im Stadtzentrum von Barnaul doch eine Mahnwache von Kommunisten stattgefunden, die entsprechend dem Beschluss eines Gerichts die Behörden der Stadt zähneknirschend genehmigen mussten. Im Verlauf dessen Verhandlung war festgestellt worden, dass das Verbot, das auf einer angeblich logischen Verbindung von Protesten gegen das Ansteigen der Preise mit der Durchführung der am 24. Februar begonnenen Sonderoperation basierte, so nicht überzeugend begründet werden könne.

Die Ablehnung einer Abstimmung der Straßenaktion war so formuliert worden: „Die angemeldeten Mahnwachen können eine Verbreitung negativer Informationen unter einer großen Anzahl von Menschen und die Ausprägung einer negativen Haltung zur Sonderoperation in der Ukraine bei ihnen genauso wie auch eine unbegründete Zunahme sozialer Spannungen und öffentliche Unruhen auslösen, die in der Lage sind, Störungen der öffentlichen Ordnung auszulösen und als Folge eine Gefahr für das Leben und die Gesundheit einer unbestimmten Anzahl von Menschen und die Zufügung von Schäden an Eigentum zu schaffen“. Besonders bezeichnend war solch ein Hinweis des Gerichts: Das Argument der Stadtverwaltung, wonach die Zunahme der Preise mit den gegen die Russische Föderation verhängten Sanktionen zusammenhänge, habe keine Grundlage, da Sanktionen gegen Russland durch die sogenannten unfreundlichen Staaten konsequent im Verlauf der letzten acht Jahre verhängt werden würden. Alles in allem entschied Justitia, dass die Mahnwache „Gegen die Zunahme der Preise!“ einen wirtschaftlichen Charakter trage und nichts mit der Sonderoperation in der Ukraine zu tun habe und dementsprechend nicht auf die Ausprägung einer negativen Haltung gegenüber der Sonderoperation bei den Menschen abziele.

Es sei daran erinnert, dass laut ungefähren Berechnungen im Verlauf der von Präsident Wladimir Putin befohlenen Sonderoperation bereits rund 2.000 Ordnungs- und 14 Strafverfahren eingeleitet worden sind. Dabei hat es bis auf die erwähnten Petersburger Fälle keine anderen Präzedenzfälle gegeben, bei denen sich die Gerichte auf die Seite der Angeklagten stellten. Nun also die Entscheidung eines der Gerichte des Verwaltungsgebietes Pskow. Das Petschory-Kreisgericht stellte überraschend das Verfahren über eine angebliche Diskreditierung der russischen Armee gegen die Mathematik-Lehrerin Ljubow Schilzowa ein, die überdies von der „Jabloko“-Partei Abgeordnete im Palkino-Kreisparlament ist. Sie hatte bereits am 25. Februar in sozialen Netzwerken ihr Foto mit einem pazifistischen Plakat veröffentlicht. Aber erst drei Wochen später kam die Polizei ins Dorf Slopygino, um ein Protokoll gegen sie gemäß Teil 1 des Artikels 20.3.3 des Ordnungsstrafrechts der Russischen Föderation aufzusetzen. Vor Gericht bestritt Schilzowa ihre Schuld, und nach einer Befragung von Polizeibeamten stellte der zuständige Richter den Fall aufgrund des Nichtbestehens eines Tatbestands für eine Rechtsverletzung ein.

Derweil trugen in der letzten Zeit die Entscheidungen der Gerichte zu analogen Anschuldigungen in der Regel einen entgegengesetzten Charakter und endeten mit Schuldsprüchen. Der Pskower „Störfall im System“ und in geringerem Maße der aus dem Altai sind möglicherweise zufällige oder hängen mit irgendwelchen juristischen Fallstricken zusammen. Nicht ausgeschlossen ist aber auch das, dass die Lawine der Verfolgungen von Pazifisten doch etwas gestoppt wird, zumindest was die absurdesten Anlässe angeht. Und scheinbar kann auch solch eine Variante nicht verworfen werden, dass vermehrte Gerechtigkeit von den Gerichten jener Regionen an den Tag gelegt wird, wo die Gesellschaft um die Verluste im Verlauf der bereits in die 13. Woche gegangenen Sonderoperation nicht aus den TV-Reportagen weiß, sondern von Nachbarn, die dies erlebt haben.

Was die Kommunisten-Mahnwache in Barnaul angeht, so erläuterte Maria Prusakowa, Abgeordnete in der Staatsduma (Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) und 1. Sekretärin des KPRF-Komitees der Altai-Region, dass die Aktion am 18. Mai ohne Zwischenfälle erfolgt sei, die Stadtverwaltung die Entscheidung des Gerichts umgesetzt habe. Dies sei aber keine Liberalisierung, sagte sie, sondern ein Ergebnis der „Praxis von Gerichtsstreits, einer recht umfangreichen und reichen, mit der Verwaltung der Region zur Verteidigung des Rechts auf die Durchführung von Protestaktionen“. Prusakowa merkte an, dass die Kommunisten im Verlauf mehrerer Jahre nicht wenige Fälle gewonnen hätten, da man Straßenveranstaltungen in dieser Region nicht beim ersten Anlauf genehmige. Sie ist sich gewiss, dass gerade die juristischen Argumente und der Professionalismus der Verteidiger der KPRF eine Rolle gespielt hätten. Irgendeine Kampagne zur Liberalisierung des verbietenden Vorgehens sei aber nicht zu beobachten.

Dass dies keinerlei Tauwetter sei, erklärte der „NG“ auch Emilia Slabunowa, Mitglied des „Jabloko“-Politkomitees. „Dies ist eher ein Bestreben, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft abzulenken, und möglicherweise auch eine normale Arbeit einzelner Gerichte. Denn in Bezug auf Petrosawodsk (der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Karelien, wo Emilia Slabunowa politisch tätig ist – Anmerkung der Redaktion) hat es beispielsweise bisher nur Schuldsprüche gegeben, und dies in Bezug auf absurde Fälle“, unterstrich sie. Zum Beispiel, so Slabunowa, hätte man entsprechend dem „Gesetz über Militär-Fakes“ in Karelien gerade die 77jährige Veteranin des Innenministeriums Tatjana Sawinkina mit einer Geldstrafe von 30.000 Rubel (umgerechnet etwa 459 Euro) belegt. Man hatte sie einer „Diskreditierung der Streitkräfte der Russischen Föderation“ für schuldig befunden, da sie ein pazifistisches Plakat in einem Fahrstuhl angeklebt hatte. Denunziert wurde sie von der Chefin der Mietergemeinschaft. Nach Auffassung der Vertreterin von der „Jabloko“-Partei würden die Altai-Fälle und der Pskower Fall eventuell irgendeine Rolle spielen, so dass man Ordnungsverfahren aufgrund nichtigster Anlässe häufiger einstellen werde, um keine negative Beachtung der Gesellschaft auf die Sonderoperation zu lenken.

Der Leiter des juristischen Dienstes der KPRF Georgij Kamnjew erläuterte seinerseits, dass auch solch ein Faktor eine Rolle gespielt habe: „Die Administration (Stadtverwaltung) hat ihre Argumente bis zu einer völligen Absurdität geführt und konnte sie einfach vor Gericht nicht begründen. Und das Gericht stellte sich auf unsere Seite und die des gesunden Menschenverstands“. Aber den Beginn einer Liberalisierung glaubte er nicht. „Wenn einfach im Land eine Kampagne einsetzte, so passieren sowohl Übertreibungen als auch Fälle einer Nachsicht. Dies ist im Geiste des Systems“. Folglich würden gerechte Gerichtsurteile punktuelle bleiben. Die Welle der Verfahren und Verbote werde wahrscheinlich andauern. „Man wird sicher nur annehmen können, dass die Offiziellen jetzt klüger sein werden. Sie werden ihre Verbote mit den Rechtsschützern abstimmen. Und die Rechtsschützer ihre Anklageargumente mit Juristen, damit es für die Opposition einfach schwieriger wird, sich auf gerichtliche Streitigkeiten einzulassen“, vermutete Kamnjew.

Der Leiter der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow ist dagegen jedoch der Annahme, dass in der nächsten Zeit die Maschinerie wahrscheinlich gestoppt werde. „Bisher sind dies einzelne Signale. Es ist jedoch augenscheinlich entschieden worden, die systemkonforme Opposition in Ruhe zu lassen. Und die KPRF und „Jabloko“, dies sind systemkonforme Akteure. Seine Rolle hat auch das gespielt, dass die Walze der Verfahren ihr Ziel erreichte. Die Protestaktionen gegen die Sonderoperation, ja und auch die pazifistische Bewegung insgesamt haben aufgehört. Und nunmehr kann man etwas zurückfahren, das heißt, sorgfältiger auswählen, gegen wen man kämpft“, erklärte der Experte gegenüber der „NG“. Während man also in der ersten Zeit sich jene gegriffen hätte, die einem untergekommen waren, so würden augenscheinlich im Weiteren die außerparlamentarischen, die nichtsystemkonformen Kräfte, Journalisten, radikale Bürgeraktivisten unter dem Druck bleiben. Die absurden und unbegründeten Fälle würden aber eingestellt werden. Kalatschjow räumte ein, dass möglicherweise auch das eigentliche Gerichtswesen sich nicht mit dem Unterstützen juristisch haltloser Argumente der Rechtsschützer diskreditieren wolle. Unter anderem auch, weil in einer Reihe von Regionen die Ordnungs- und Strafverfahren entsprechend dem „Gesetz über Militär-Fakes“ ein Know-how lokaler „Fürsten“ sind, die einfach für ihre weitere Karriere punkten wollen. Und Kalatschjow pflichtete noch dem bei, dass die Region Altai und das Gebiet Pskow tatsächlich jene Regionen darstellen würden, deren Spezifik vielen ihrer Einwohner erlaube, auf dem Laufenden von dessen zu sein, was die derzeitige Sonderoperation dem Land koste. Und daher würden absurde Fälle dort in der Gesellschaft eine erhöhte Gereiztheit und Verärgerung auslösen.