Bei der jüngsten Büro-Tagung des Obersten Rates der Kremlpartei „Einiges Russland“ hat ihr Vorsitzender Dmitrij Medwedjew (ja, auch solch eine Funktion bekleidet der russische Ex-Präsident und jetzige Stellvertreter des Vorsitzenden des Sicherheitsrates von Russland – Anmerkung der Redaktion) erklärt, dass „der Kampf gegen den äußeren Feind heute weiteraus wichtiger als die zwischenparteilichen Meinungsverschiedenheiten sind“. 2Einiges Russland“ könnte nach seinen Worten den „anderen patriotischen Kräften“ helfen, einen Dialog mit den ideologischen Gleichgesinnten im Ausland zu gestalten. Medwedjew schlägt vor, „die Auslandsarbeit als eine einheitliche Linie zu gestalten“. „Dies machen auch andere Länder, dabei gibt es nichts Erstaunliches“, sagte er. „Im Gegenteil, jene politischen Kräfte, die im Ausland versuchen, irgendeine andere, staatsfeindliche Position einzunehmen, müssen insgesamt aus der politischen Landschaft entfernt werden“.
Man kann sagen, dass Dmitrij Medwedjew gleichzeitig sowohl die geltenden Spielregeln in der legalen Politik in Russland als auch die Konturen eines zwischenparteilichen Konsenses umrissen hat. Früher hatten derartige Konsense den Parteien erlaubt, ins Parlament zu gelangen. Nunmehr werden sie einfach zu einer Bedingung für das Existieren.
Vorgenommen wurde eine klare Aufteilung aller politischen Kräfte in „patriotische“ und „staatsfeindliche“. Unter Patriotismus versteht man in den letzten Monaten augenscheinlich eine antiwestliche Einstellung, die Kritik an den „für Russland nichttraditionellen“ Werten, eine absolute Unterstützung für die seit dem 24. Februar laufende militärische Sonderoperation – und im weiteren Sinne für jegliche außenpolitischen Initiativen der Herrschenden und die Handlungen der staatlichen Organe im Ausland. Die Wende gen Osten gehört offenkundig ebenfalls zu dem Paket.
Wenn eine Partei all diese Bedingungen erfüllt, kann sie sich erlauben, mit Politik in Russland zu befassen, um Sitze im Parlament zu kämpfen, seine Kandidaten für die Ämter von Bürgermeistern, Gouverneuren und sogar für das Amt des Präsidenten aufzustellen. Zulässig ist beispielsweise, das Bildungssystem zu kritisieren, für eine Verringerung oder umgekehrt für eine Anhebung von Steuern zu kämpfen sowie eine Revision der Rentenreform zu fordern. Dabei dehnt sich die „Zone der militärischen Sonderoperation“ in der Innenpolitik schrittweise aus. Und es ist bereits nicht sehr klar, ob der Abgeordnete N… bei der Erörterung des Etats erklären kann, dass die Gesundheit, das Bildungswesen und die Kultur und nicht die Verteidigung eine Priorität sein müssten. Früher war dies zugelassen worden. Heutzutage scheint es, dass dies nicht bloß unzeitgemäß, sondern auch noch unpatriotisch ist.
Die Worte von Ex-Präsident Medwedjew, wonach man „staatsfeindliche“ Kräfte aus der politischen Landschaft entfernen müsse, fixieren vom Wesen her das, was auch schon so getan worden ist. Im legalen politischen Feld Russlands ist keine außerparlamentarische Opposition geblieben, ihre Vertreter befinden sich entweder in der Emigration oder im Gefängnis oder sind mit dem Etikett „ausländischer Agenten“ versehen worden. Solch ein Verdrängen wird zu einer deklarierten Norm, die mit Verweisen auf unterschiedliche Gesetze untermauert wird.
Der Vorsitzende von „Einiges Russland“ verweist, wenn er von der Gestaltung einer gemeinsamen Parteilinie in der Auslandsarbeit spricht, auf Erfahrungen anderer Länder. Um welche Länder es geht, wird erwartungsgemäß nicht konkretisiert. Wenn die entwickelten Demokratien gemeint sind, so ist es dort sehr schwierig, von einem außenpolitischen Konsens zu sprechen. Es genügt, sich dessen zu erinnern, was für eine Rolle die Militärkampagne im Irak bei den Wahlen der US-amerikanischen Präsidenten gespielt hatte. Die Beteiligung an Blöcken, der Beitritt zu Vereinigungen vom Typ der Europäischen Union, die Entsendung von Soldaten und Offiziellen in den Nahen Osten, das israelisch-palästinensische Problem, die Beziehungen mit Russland, China, dem Iran, der Türkei und mit Saudi-Arabien – all dies war und bleibt ein Gegenstand von Streitigkeiten der politischen Kräfte. Es kann da von keinerlei einmütigen Unterstützung für die Herrschenden die Rede sein Selbst gegenwärtig, wenn wir ständig von einem „sich gegen Russland vereinten Westen“ hören, sind in den USA oder den europäischen Ländern die Stimmen jener zu vernehmen, die beispielsweise fordern, Selenskij an den Verhandlungstisch zu bringen oder der Ukraine keine Waffen zu geben (und in Russland werden diese Stimmen gern und umfangreich zitiert, selbst wenn sie eventuell für keine mehrheitliche Auffassung stehen – Anmerkung der Redaktion). Und diese Stimmen erklingen nicht aus Gefängnissen und Kerkern. Dies formulieren Teilnehmer des legalen politischen Prozesses, mitunter Parlamentarier.
Ein freies und energisches Parteileben verschafft den Herrschenden ein Feedback hinsichtlich der Innenpolitik. Aber absolut das Gleiche kann man auch über die Außenpolitik in alle ihrer Vielfalt sagen.