Politiker des postsowjetischen Raums nutzen mit Leichtigkeit den religiösen Faktor für die Verstärkung ihrer Legitimität und Bestätigung der nationalen Identität aus. Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko ist zu keiner Ausnahme geworden. Bei der Charakterisierung des Programms der Opposition betonte er bei einer Beratung im nationalen Sicherheitsrat, dass seine Gegner unter anderem „die Weißrussische autokephale orthodoxe Kirche als Gegengewicht zum Weißrussischen Exarchat des Moskauer Patriarchats wiederherstellen“ wollen. Faktisch prophezeite Lukaschenko das ukrainische Szenario für das weißrussische orthodoxe Christentum, das auch an den Rand einer Spaltung geraten kann, wenn die neuen Machthaber die Bildung ihrer eigenen „nationalen Kirche“ verkünden werden. In Weißrussland gibt es keine solche Mannigfaltigkeit an kirchlichen Jurisdiktionen, die sich auf dem Territorium der Ukraine herausgebildet hatte. Und das „alternative orthodoxe Christentum“ ist zu marginal, um mit der Weißrussischen orthodoxen Kirche (WOK) im Bestand der Russischen orthodoxen Kirche (ROK) zu konkurrieren. Außerdem hatten die Konkurrenten des amtierenden Präsidenten bei den Wahlen in keiner Weise die Kirchenfrage tangiert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es keinerlei gefahren gibt. Die revolutionären Ereignisse des August 2020 haben gezeigt, dass das weißrussische orthodoxe Christentum seinen eigenen Weg zur nationalen Selbstbestimmung gefunden hat.
Die Empfindung dessen, dass die Weißrussen eine vollkommen unabhängige Kirche bekommen können, hat Lukaschenko selbst im Verlauf vieler Jahre ausgelöst. Er bezeichnete sich als einen „orthodoxen Atheisten“ und eignete sich überhaupt nicht für die Rolle eines gläubigen Führers der Nation, der für die Symphonie von Kirche und Staat verantwortlich zeichnet. Metropolit Pawel (Ponomarjow), das Oberhaupt der WOK, erinnerte der Präsident daran, dass der kein Staatsbürger der Republik sei. Lukaschenko hatte gleichfalls erklärt, dass die gegenwärtigen Beziehungen mit der ROK den Weißrussen recht seien, aber „das Leben alles an seinen Platz rücken wird“. Zu Weihnachten des Jahres 2016 unterstrich Weißrusslands Oberhaupt, dass er die These über die Trennung der Kirche vom Staat nicht verstehe, die WOK sich aber darüber im Klaren sein müsse, dass sie „in einem souveränen und unabhängigen Staat“ wirke und sich dem anpassen müsse. Der Präsident hat Papst Franziskus eingeladen, Weißrussland ohne eine Billigung des Moskauer Patriarchen, dessen kanonisches Territorium die Republik ist, zu besuchen. Wie auch in der weltlichen Politik, in der Lukaschenko mit den Gefühlen und Interessen der russischen Spitzenpolitiker spielt, hat er selbstredend gute Beziehungen mit der Russischen orthodoxen Kirche bewahrt.
Das Thema einer alternativen Orthodoxie hinsichtlich des Moskauer Patriarchats ist in der Republik in den Jahren 2018-2019 aufgekommen. Gerade damals hatte die Gewährung eines Tomos über die Unabhängigkeit der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) durch das Patriarchat von Konstantinopel die Frage auch nach dem Schicksal der Kirchenstrukturen aufgeworfen, die sich innerhalb des Bestands der ROK in Moldawien und Weißrussland befinden. Im Verlauf des Konflikts mit der ROK hatte das Ökumenische Patriarchat die Entscheidung über die Übergabe der Metropolie Kiew, zu der im 17. Jahrhundert das Territorium Weißrusslands gehört hatte, unter die Verwaltung des Moskauer Patriarchen aufgehoben. All dies aktualisierte die Tätigkeit der Weißrussischen autokephalen orthodoxen Kirche (WAOK). Ihr Zentrum befindet sich in New York. Auf dem Territorium Weißrusslands existieren mehrere Gemeinden. Die WAOK entstand in den 1920er Jahren, wurde Repressalien ausgesetzt, erlebte während der Okkupation eine Wiedergeburt, während der die weiß-rot-weiße Flagge verwendet worden war, die jetzt zu einem Symbol des Kampfes gegen Lukaschenko geworden ist. Im Jahr 2018 unterstützte das Oberhaupt der WAOK, Erzbischof Swjatoslaw (Login), die Gewährung des Tomos für die OKU. Login gehört der nationalistischen Weißrussischen Volksfront an, der einzigen Organisation, in deren Programm direkt die Bildung einer unabhängigen Kirche als Bedingung für die Souveränität des Landes festgeschrieben worden ist.
Im Verlauf der nunmehrigen Manifestationen gegen Lukaschenko tauchten Erklärungen von Vertretern der OKU hinsichtlich der Notwendigkeit der Bildung einer „unabhängigen weißrussischen Kirche“ unter der Ägide des Patriarchats von Konstantinopel auf. Der Geistliche der OKU Georgij Kowalenko betonte: Die Proteste in Weißrussland erlauben, davon zu sprechen, dass in diesem Land faktisch bereits eine der OKU analoge Struktur existiert. „Die Orthodoxe Kirche Weißrusslands ist schon eine Realität, obgleich auch noch eine nicht begriffene und nicht organisierte“. Das Oberhaupt der WAOK, Erzbischof Swjatoslaw (Login) trat mit einem Statement auf, das freilich von kaum einen zur Kenntnis genommen worden ist. Der Chef der alternativen Kirche sprach sich direkt für eine Entmachtung des „Diktators“ aus: „In unseren Tagen leiden die Weißrussen, da die verruchte Regierung Waffen gegen ihr Volk anwendete, dass zu friedlichen Protesten gegen die Lüge und das Böse gekommen war“. Der Erzbischof unterstrich besonders, dass sich die WAOK in der Heimat im Untergrund befinde, obgleich der zahlenmäßige kleine Klerus und die Gemeindemitglieder der Kirche aktiv an der Bewegung der Nationalisten teilnehmen würden, die der Auffassung sind, dass das Minsker Exarchat die Weißrussen aus den Sowjetzeiten geerbt hätten.
Zu einem Symbol der neuen Epoche in der Kirchenpolitik ist die Teilnahme eines Vertreters der WAOK an dem gesamtchristlichen Gebet (zusammen mit Klerikern der WOK, Pfingstlern, Baptisten usw.) für die „Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden in Weißrussland“ geworden, das am 18. August in der Minsker katholischen Kirche auf Initiative des Vorsitzenden der Katholischen Bischofskonferenz in Weißrussland, Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz, zelebriert worden war. Dabei bleibt die WAOK formell eine nicht anerkannte Struktur, die nur mit der OKU Kontakte unterhält.
Derweil ist innerhalb der WOK bereits ein „alternatives orthodoxes Christentum“ gewachsen. Bezeichnend ist, dass im März 2018 der Leiter der Informationsabteilung der WOK, Erzpriester Sergej Lepin, seitens prorussischer Publizisten kritisiert wurde. Er war zum 100-jährigen Jubiläum der Ausrufung der Weißrussischen Volksrepublik eindrucksvoll aufgetreten, wobei er seine Rede mit dem Ausruf „Gepriesen sei Christus! Hoch lebe Belarus!“ (analog zur Losung „Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden!“) beendete. Im August 2020 hat der Klerus der WOK schon die Hymne der weißrussischen Emigration „O, mächtiger Gott“ („Mahutny Boža“), auf den Straßen gesungen. Und dutzende Geistliche nahmen an der Aktion „Orthodoxe gegen Fälschung, Erniedrigung der Persönlichkeit und Druck auf die Persönlichkeit“ teil, zu deren Organisator der Diakon Dmitrij Pawljukewitsch aus Grodno geworden war (parallel lief das Projekt „Katholiken gegen Fälschungen“). Es hat sich herausgestellt, dass in der WOK der junge Klerus europäisiert ist, und die Bischöfe kritisieren frei die Offiziellen. Große Bekanntheit erlangte Alexander Kuchta, ein Geistlicher, Blogger und Rapper aus Minsk. Er unterstützte die Protestierenden auf den Straßen und besuchte diejenigen, die Folterungen in den Haftanstalten durchgemacht hatten. Initiativgruppen von Gläubigen veranstalteten ein gesamtchristliches Gebet neben der Heilig-Geist-Kathedrale in Minsk, wohin auch Metropolit Pawel zu kommen gezwungen war. Der Hierarch bekam die Vorwürfe zu hören, dass er übereilt den „Tyrann“ Lukaschenko gratuliert hätte.
Praktisch jeder neue nationale Führer Weißrusslands wird mit dem Begriff „nationale Kirche“ wie auch seine Politiker-Kollegen in anderen Ländern der Welt operieren. Dies ist ein gesetzmäßiger Schritt bei der Bestätigung der nationalen Identität bei einem Defizit an Legitimität. Im Fall mit Weißrussland tritt als nationale Kirche die WOK selbst auf, da die Offiziellen keine Auswahl haben. Zugleich kann man den Haupthierarchen und seine Umgebung auswechseln und mehr Autonomie von der ROK verlangen. Und im radikalsten Fall kann man wie der Präsident von Montenegro, Milo Djukanovic, ein Gesetz über die Umverteilung des Eigentums zugunsten der „nationalen Kirche“, wie unbedeutend sie auch sein mag, verabschieden. Der politische Pluralismus jedoch, den die WOK während der friedlichen Revolution im August 2020 demonstrierte, wird den Offiziellen nicht erlauben, sich auf äußerste Maßnahmen einzulassen.