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Poroschenko hat sich für Selenskij vor dem Westen entschuldigt


Der nächste Maidan in der Ukraine werde an dem Tag beginnen, an dem der Termin für direkte Verhandlungen von Wladimir Putin und Wladimir Selenskij bekannt werde. „Hier wird es von uns eine Million geben“, drohten dem ukrainischen Präsidenten die Teilnehmer eines Meetings auf dem Maidan an. Sie gaben eine unbefristete Aktion bekannt, stellten aber keine Zelte im Zentrum von Kiew auf. Die Stimmung der Zusammengekommenen und die Stimmungen in der Gesellschaft beeinflussen die Meldungen über eine russische Truppenkonzentration an den Grenzen der Ukraine.

In Kiew hat man nach Washington im November begonnen, von der Wahrscheinlichkeit einer „russischen Militäraggression“ zu sprechen. Diese Frage wurde auch in Stockholm beim Treffen der Außenminister der OSZE-Mitgliedsländer erörtert. Am Rande des Forums erfolgten Gespräche des US-Außenministers Anthony Blinken mit dem ukrainischen Amtskollegen Dmitrij Kuleba. Einen neuen Anlass für die Behandlung des Themas hatte Alexander Lukaschenko gegeben, der gerade von sich in Vorbereitung befindenden russisch-weißrussischen Militärmanövern gesprochen hatte. „Wir haben mit Präsident Putin vereinbart, dass wir in der nächsten Zeit gemeinsam Manöver an den südlichen Grenzen, an der weißrussisch-ukrainischen Grenze abhalten sollten“. Die erste Etappe der Manöver soll laut Aussagen Lukaschenkos im Winter erfolgen.

Zuvor hatte der Chef der Hauptverwaltung für Aufklärung des ukrainischen Verteidigungsministeriums Kirill Budanow in einem Interview für die Zeitschrift „Military Times“ erklärt, dass ein Krieg im Januar-Februar beginnen könne. Und gegenwärtig führe die russische Seite nach seinen Worten Vorbereitungsarbeiten unter der ukrainischen Bevölkerung durch. „Sie wollen Unruhen durch Proteste und Meetings schüren, die zeigen, dass die Menschen gegen die Regierung eingestellt sind… Sie wollen die Situation im Landesinnern zu einer immer gefährlicheren und schwereren machen, eine Situation schaffen, in der wir die Regierung wechseln müssen“. Lukaschenkos Worte wurden von vielen in der Ukraine als eine Bestätigung der Prognose der ukrainischen Aufklärung aufgefasst. Und dies beeinflusste die Stimmungen an dem Tag, an dem auf dem Maidan ein Wetsche (Versammlung der Bevölkerung, die im Mittelalter bei den Slawen üblich war – Anmerkung der Redaktion) anberaumt wurde.

Zur Aktion unter der Losung „Verteidige die Ukraine – stoppe den Umsturz“ waren rund 3000 Menschen zugekommen. Einer der Organisatoren, der Chef der Partei „Demokratische Streitaxt“ Jurij Gudymenko, gab bekannt: „Wir beginnen eine unbefristete Kampagne für eine vollkommene Neuaufstellung der Herrschenden und eine Rückkehr der Ukraine auf den Weg der Reformen, für eine Befreiung der okkupierten Territorien und für eine euro-atlantische Integration“. Er verkündete eine Liste von Forderungen an die Offiziellen: den Rücktritt von Präsident Wladimir Selenskij, vorgezogene Wahlen zur Werchowna Rada (das Landesparlament – Anmerkung der Redaktion) und eine Untersuchung der „Verbrechen, die von Einflussagenten der Russischen Föderation im Umfeld von Selenskij begangen wurden“. Obgleich die Redner die Forderungen „im Namen des Volkes der Ukraine“ stellten, entsprach die Dimension der Aktion nicht solch einem Anspruch. Daher erklärten die Organisatoren, dass sie eine Million Menschen auf dem Maidan an dem Tag zusammenbringen würden, an dem der Termin für ein Treffen Putins mit Selenskij bekannt werde.

Am ersten Tag zogen die Teilnehmer friedlich durch das Regierungsviertel zum Gebäude des Präsidenten-Office, wo sie riefen „Selenskij verschwinde!“. Und danach kehrten sie genauso friedlich auf den zentralen Platz, wobei sie an den Gebäuden der Regierung und der Werchowna Rada vorbeiliefen, zurück – und trollten sich nach Hause. Seit Donnerstag hätten, wie der bekannteste aller Redner, die von der Tribüne aus aufgetreten waren – der Mitstreiter von Petro Poroschenko sowie Ex-Sekretär des ukrainischen Rates für nationale Sicherheit und Verteidigung Alexander Turtschinow – erklärte, die Oppositionskräfte begonnen, einen „gemeinsamen Stab für einen legitimen Machtwechsel“ zu bilden. Ein derartiger Stab hatte in den Jahren 2013-2014 auf dem Maidan gearbeitet. Heutzutage ist die Situation eine andere, und die Stimmungen sind andere. Turtschinow besteht jedoch darauf: „Die Ukrainer haben nicht (im Jahr 2019 – „NG“) für eine totale Korruption und für Autoritarismus gestimmt. Sie haben nicht für eine Lüge votiert. Für den Verrat, den Selenskij aufgrund der Verhandlungen mit Putin begehen will. Dies gerade ist ein Verrat, dies ist eine Erniedrigung… Daher muss man sich festlegen, was mit diesen Herrschenden getan werden soll. Notwendig ist ein völliger Neubeginn. Und beginnen muss man mit einer vorzeitigen Beendigung der Vollmachten des Parlaments und der Wahl einer neuen Werchowna Rada“.

Petro Poroschenko versuchte, in einer diplomatischeren Form die Ausländer davon zu überzeugen, die am Kiewer Forum für Sicherheitsfragen teilgenommen hatten. In seinem Auftritt erinnerte der Oppositionsführer ironisch daran, dass für den 1. Dezember ein sogenannter Staatsstreich annonciert worden war. „Ich möchte mich gern bei unseren ausländischen Partnern für diesen absolut blöden Scherz Selenskijs entschuldigen. Dies ist ein Beispiel für eine grobe Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Land und gegenüber der Welt“. Poroschenko setzte die Rede mit einer Erklärung darüber fort, dass Selenskij die Staatlichkeit der Ukraine und den prowestlichen Kurs das Lands „durch seine Versuche, ein Regime nach den Vorlagen Putins und Lukaschenkos zu gestalten“ gefährde. Der fünfte Präsident zählte die Entscheidungen und Beschlüsse auf, die nach seiner Meinung von der Absicht der Herrschenden zeugen würden, die Parlamentswahlen zu verschieben, deren Ergebnis mit Hilfe einer elektronischen Abstimmung zu fälschen und das Verfassungsgericht unter Kontrolle zu bekommen. „Dies ist die Gefahr eines schleichenden Umsturzes. Und ich bin davon überzeugt, dass die ukrainische Opposition zusammen mit einer starken Zivilgesellschaft imstande ist, dieses Szenario zu stoppen“.

Unter Berücksichtigung der sich in der Gesellschaft verbreiteten Befürchtungen hinsichtlich eines „großen Krieges“ wird die Idee für einen neuen Maidan wohl kaum breite Unterstützung finden. Doch die Stimmungen können, wie die Ergebnisse einer gerade vorgelegten Umfrage des Kiewer internationalen Instituts für Soziologie belegen, für die Herrschenden besorgniserregende sein. „Innerhalb des letzten Monats hat sich von 61,7 bis auf 65,9 Prozent die Zahl derjenigen erhöht, die der Auffassung sind, dass sich die Angelegenheiten im Land nicht in der richtigen Richtung entwickeln würden. Von 22,7 bis auf 18,6 Prozent ist die Zahl derjenigen zurückgegangen, die von einer richtigen Richtung sprechen“, heißt es in einem Bericht zu den Umfrageergebnissen.

Die Soziologen haben herausgefunden, dass 51,6 Prozent der Befragten nicht an die Fähigkeit Selenskijs glauben, „effektiv als Oberster Befehlshaber im Falle eines Einmarschs von Russland zu handeln“, 35,9 Prozent glauben daran. Nur 8,3 Prozent bezeichneten den amtierenden Präsidenten als besten Obersten Befehlshaber in der Zeit der Unabhängigkeit der Ukraine. Fast genauso viele hatten Leonid Kutschma als solch einen bezeichnet. Weniger (vier Prozent) erhielt nur Viktor Justschenko. Sogar Viktor Janukowitsch kam auf 12,2 Prozent der Stimmen. Als beste bezeichneten in dieser Rolle Leonid Kutschma (22,8 Prozent der Ukrainer) und Petro Poroschenko (21,9 Prozent). Der zweite und der fünfte Präsident wurden auch zu den Spitzenreitern in der Befragung hinsichtlich einer effektiven Außenpolitik. Poroschenko bekam 25 Prozent der Stimmen, Kutschma – 23,4 Prozent. Die Außenpolitik Krawtschuks würdigten 11,8 Prozent, die von Justschenko – 6,3 Prozent, von Janukowitsch – 6,2 Prozent und die von Selenskij – acht Prozent. Auf die Frage danach, ob man den Kriegszustand im Zusammenhang mit der Verstärkung der russischen Kräfte an den Grenzen der Ukraine verhängen müsse, sagten 58,1 Prozent, dass man dies nicht tun dürfe. 32,8 Prozent – dass man dies tun müsse. Der fünfte Teil der Befragten hatte es laut Angaben des Kiewer internationalen Instituts für Soziologie abgelehnt, diese Fragen zu beantworten.

Ohne Selenskij für einen ausgezeichneten Musterschüler zu halten und selbst Enttäuschung über ihn verspürend, vertreten die meisten Ukrainer die Meinung, dass man die Situation im Land vor dem Hintergrund der militärischen Bedrohung nicht untergraben dürfe. Daher sind weder ein Maidan noch ein Umsturz in der Ukraine möglich. Die Opposition setzt auf den Protest der Menschen gegen direkte Verhandlungen des ukrainischen und des russischen Präsidenten, von deren Notwendigkeit Selenskij sprach. Die Politologin Olesja Jachno ist aber der Meinung, dass es solche Verhandlungen nicht geben werde, da die Positionen der Ukraine und der Russischen Föderation diametral entgegengesetzte seien.