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Präsident Putin musste die Foltern im russischen Strafvollzug zur Kenntnis nehmen


Wladimir Putin hat den Direktor des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug (FDSV) Alexander Kalaschnikow entlassen. Zum neuen Chef wurde sofort der bisherige Vizeinnenminister Arkadij Gostjew ernannt. Solch eine demonstrativ harte Absetzung, bei der im entsprechenden Präsidentenerlass keine Erwähnung ihres Grundes ausgewiesen wurde, ist eine Reaktion des Staatsoberhauptes auf den „Folterskandal“. Bisher ist aber unklar, was hinter der Entlassung Kalaschnikows steht. Sollte der einzige Geheimdienstler in der Führung des FDSV aus der Schusslinie genommen werden? Oder im Gegenteil, soll die gesamte Verantwortung ihm aufgebürdet werden? Es gibt auch solch eine Meinung, wonach der Inlandsgeheimdienst FSB die Kontrolle über die U-Haftanstalten und Strafkolonien verliere. Und jetzt können auch nicht eine Rückkehr des Gefängnisamtes zum Innenministerium, das heißt in die sowjetische Vergangenheit ausgeschlossen werden.

Nach der schlagartigen Einsetzung Gostjews ins Amt von Kalaschnikow hat sich in der Führung des FDSV die eindeutige Situation einer vollständigen Kontrolle des Strafvollzugs durch aus dem Innenministerium stammenden Vertretern ergeben. Beinahe alle Stellvertreter Gostjews haben ihre Dienstlaufbahn in der Miliz begonnen. Einst hieß auch der Vorgänger des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug Hauptverwaltung für den Strafvollzug des Innenministeriums. Daher sind auch anstehende strukturelle Veränderungen für diese beiden Rechtsschutzinstitutionen nicht auszuschließen.

Dies sind jedoch vorerst Vermutungen. Eine Tatsache ist aber, dass der einzige Vertreter des FSB, das heißt Kalaschnikow selbst, nun den FDSV verlassen hat. Und das Rückgrat des gerade erst begonnenen „Folterskandals“ bilden die Vorwürfe an die Adresse der Tschekisten, der Geheimdienstler, dass sie nicht bloß die Situation für Anwerbemaßnahmen und das Erfinden neuer Strafsachen ausgenutzt, sondern auch selbst diese Situation geschaffen hätten. Somit bleibt unklar: Nimmt der Putin-Erlass Kalaschnikow aus der Schusslinie oder macht er ihn zum Hauptschuldigen für die von den Gefängnisbeamten zugelassenen Schweinereien?

Der Gründer des Projekts Gulagu.net, Wladimir Osetschkin, tendiert, seinem Kommentar für die „NG“ nach zu urteilen, zur zweiten Version. Nach seinen Worten „hat der Auslandsaufklärungsdienst im Kreml eine Akte auf den Tisch gelegt, wonach Gulagu.net über eine erschöpfende Beweisbasis hinsichtlich der „Foltern im Fließbandverfahren“ in Krasnojarsk hat. Und dies wird bald veröffentlicht“. Chef der FSB-Verwaltung in dieser Region war gerade zu Zeiten der Bildung des Videoarchivs Kalaschnikow höchstselbst. Und zum Chef der operativen Verwaltung des FDSV hatte er den Ex-Chef der Hauptverwaltung des FDSV für diese Verwaltungsregion ernannt, für den er auch verantwortlich war. Und ins Amt des zeitweiligen Chefs der FDSV-Verwaltung für das Verwaltungsgebiet Saratow hatte Kalaschnikow auch noch den früheren Leiter der operativen Verwaltung der FDSV-Hauptverwaltung für die Verwaltungsregion Krasnojarsk gehoben. „Das heißt, sie alle hatten eine Linie gebildet, und jetzt setzten sie sich alle zusammen aufs Katapult“, merkte Osetschkin an.

Das Wichtigste seines Erachtens sei aber, dass zum Leiter des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug ein stellvertretender Innenminister ernannt wurde. Und dies „belegt direkt, dass der FSB die Kontrolle über den FDSV verloren hat“. „Dies ist eine Schlüssel- und prinzipielle Entscheidung. Der Geheimdienst hat erstmals in langen Jahren das Vertrauen des Präsidenten eingebüßt. Putin ist klargeworden, dass die Tschekisten aus der Verwaltung „M“ des FSB die Herrschenden mit ihren Aktenordnern einfach genarrt haben und die Situation bis zum Äußersten getrieben haben. Verloren wurde die operative Kontrolle über geheime Informationen, die in den Westen abgeflossen sind, wo sie im Rahmen einer großen internationalen Untersuchung veröffentlicht werden“, erklärte Osetschkin der „NG“. Er erwartet eine „Perestroika, eine Reformierung, eine innere Umgestaltung und eine sehr ernsthafte Rotation der Führungskräfte des FDSV“. Und er unterstreicht: „Jetzt hat sich für uns in irgendeiner Weise eine Hoffnung auf eine Humanisierung des Systems aufgetan, da das Innenministerium recht effektiv die Foltern und die Willkür bekämpft hatte. Und diese Institution hat eine ernsthafte Praxis zur Unterbindung solcher Handlungen entwickelt. Und das Wichtigste ist, dass dort das Prinzip wirkte: Wenn irgendwer bei Foltern erwischt wird, bestraft man nicht nur den Schuldigen, sondern auch seinen Vorgesetzten“.

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Das hohe Wellen schlagende Ereignis kommentierten auch Autoren russischer gesellschaftspolitischer Telegram-Kanäle. „Durch die Auswechselung des Leiters eine unverzügliche Verbesserung der Lage zu erwarten, hat wohl kaum Sinn“, vermutet „Meister“ (https://t.me/maester). „Aber Vorschläge zur Veränderung des Systems der Kontrolle und Aufsicht – sowohl der gesellschaftlichen als auch seitens der Staatsanwaltschaft -, aber natürlich auch Mitteilungen über eine Überprüfung der übrigen Besserungsanstalten und über Untersuchungen zu bekanntgewordenen Tatsachen über Verstöße möchte man (schon) gern erwarten“. „Der heute abgesetzte Alexander Kalaschnikow war zum Leiter des FDSV im Herbst 2019 ernannt worden“, erinnert „Boilernaja“ („Heizhaus“ – https://t.me/boilerroomchannel%20).