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Präsident Selenskij: Unsere Geschichte, unser Land sollen ausgelöscht werden


Seit dem 24. Februar, der für Europas Nachkriegsgeschichte zu einer schwerwiegenden Zäsur geworden ist, sind inzwischen sieben Tage vergangen. Und die von Präsident Putin angeordnete Militäroperation gegen das Nachbarland im Süden dauert an, hat offensichtlich an Tempo verloren (im Vergleich zu den ursprünglichen Plänen) und bringt neue Zerstörungen und Opfer. Russische Truppen rücken weiter auf dem ukrainischen Territorium vor, im Donbass melden die von Moskau anerkannten Republiken neue Erfolge. Während im Verteidigungsministerium Russlands auch am Mittwochmorgen erklärte wurde, dass mit „hochpräzisen Waffen“ nur militärische Infrastrukturobjekte der Ukraine ins Visier genommen und vernichtet werden, scheint die Realität eine andere zu sein. Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij sprach dabei in seiner neuen Rede an das Volk, in der er am Mittwoch ebenfalls die Juden in aller Welt um Hilfe und Unterstützung bat. „NG Deutschland“ veröffentlicht nachfolgend eine Übersetzung dieses emotionalen Auftritts von Wladimir Selenskij.

„Ich wünsche Gesundheit, vereintes Land! Ich habe nicht zufällig „vereintes“ gesagt. Begonnen hat der siebte Tag des schrecklichen Krieges. Eines Krieges, den wir auf gleiche Art und Weise spüren. In dieser Zeit ist unsere Einheit größer als innerhalb von dreißig Jahren geworden. Zuerst war es für uns gleichermaßen schrecklich, dann – gleichermaßen schmerzlich. Und jetzt ist alles gleich. Außer der Sieg. Außer die Wahrheit. Außer der Frieden. Außer der Ruhe, zu der wir kommen wollen. Außer der Leben unserer Menschen, um die wir uns Sorgen machen. Außer der Ukraine. In dieser Zeit sind wir zu einem Ganzen geworden. Wir haben Vieles einander vergeben. Wir haben einander liebgewonnen. Wir helfen einander. Wir haben um den Anderen Angst. Gestern Morgen waren wir auf dem Platz der Freiheit alle Einwohner von Charkow. Danach hat der Feind uns alle durch Schläge gegen Wohnhäuser in Borodjanka hinweggefegt. Gestern Abend hat man uns alle in Kiew bombardiert. Und wir sind wieder in Babyn Jar ums Leben gekommen – durch einen Raketenschlag. Obgleich die ganze Welt verspricht, verspricht ständig – nie wieder!

Für jeglichen normalen Menschen, der unsere Geschichte kennt, die Weltgeschichte: Babyn Jar ist ein besonderer Teil Kiews. Ein besonderer Teil Europas. Ein Ort des Gebetes. Ein Ort des Gedenkens an hunderttausende Menschen, die die Nazis umgebracht hatten. Ein Ort alter Kiewer Friedhöfe. Wer muss man sein, um solch einen Ort zur Zielscheibe für Raketen zu machen? Sie bringen Holocaust-Opfer ein zweites Mal um. Zu Zeiten der Sowjetmacht hatte man dort auf den Gebeinen ein Fernsehzentrum errichtet. Und noch einen Sportkomplex. Wirtschaftsbauten. Man legte dort einen Park an. Um die wahre Geschichte von Babyn Jar auszulöschen. Doch wozu hat man es bombardiert?… Dies liegt bereits jenseits von Menschlichkeit. Solch ein Raketenschlag belegt, dass für viele Menschen in Russland unser Kiew völlig fremd ist. Sie wissen nichts über unsere Hauptstadt. Über unsere Geschichte. Aber sie haben den Befehl, unsere Geschichte auszulöschen. Unser Land auszulöschen. Uns alle auszulöschen. Am ersten Tag des Krieges bombardierte man schwer Uman, wohin jedes Jahr hunderttausende Juden kommen, um zu beten. Danach – Babyn Jar, wo hunderttausende Juden erschossen worden waren. Ich wende mich jetzt an alle Juden der Welt: Sehen Sie etwa nicht, was geschieht? Daher ist es sehr wichtig, dass Sie jetzt, die Millionen von Juden in der ganzen Welt, nicht schweigen. Im Schweigen wird Nazismus geboren. Deshalb schreien Sie über die Ermordung von friedlichen Menschen! Schreien Sie über die Tötung von Ukrainern!

Am vergangenen Abend und in dieser Nacht haben sie weiterhin gegen unsere Städte Schläge geführt. Bomben. Raketen. Artillerie. Gegen friedliche Menschen. Erneut. Gegen Wohnviertel. Wiederum. Mariupol, Charkow, Kiew, Schitomir und andere Städte und Siedlungen der Ukraine. Dies kann nicht mit einem einzigen menschlichen Grund erklärt werden. Nicht mit einem einzigen Gottesgrund. Was wird da aber weiter kommen, wenn bereits Babyn Jar? Welche militärischen Objekte können noch die Russische Föderation bedrohen? Welche weiteren „NATO-Stützpunkte“? Die Sophienkathedrale? Die Lawra? Die Andreaskirche? Worum sie dort auch immer geträumt haben, gehen sie doch zum Teufel! Denn mit uns ist Gott!

In dieser Zeit haben wir Europa vereint, wir haben die Länder der Europäischen Union auf einer neuen Ebene vereint. Auf einer höheren denn einer formalen. Auf einer höheren denn einer zwischenstaatlichen. Auf der Ebene einfacher Menschen. Von Millionen und aber Millionen von Europäern. Vom Atlantik bis zum Vorort von Charkow, wo die erbitterten Kämpfe andauern. Als das Europaparlament gestern stehend uns applaudierte, unserem Kampf, war dies eine Bewertung für unsere Anstrengungen. Für unsere Vereinigung. In sechs Kriegstagen. Wie in dreißig Jahren. Daher antwortet die Europäische Union uns auch mit einem Ja. Wir haben eine spezielle beschleunigte Beitrittsprozedur begonnen. Unsere Diplomaten und unsere Freunde vereinen immer mehr die Welt im Interesse der Ukraine und eines Friedens. Die neutrale Schweiz hat die Sanktionen der Europäischen Union gegen russische Oligarchen, Beamte, gegen den Staat an sich und Unternehmen unterstützt. Ich sage es noch einmal: die neutrale Schweiz! Was warten da einige andere Länder ab? Unserer Antikriegskoalition haben sich jene Länder angeschlossen, auf die Moskau vor einer Woche noch gesetzt hatte. Dies ist ein außerordentliches Ergebnis. Jetzt darf man nicht neutral bleiben!

Und wie sieht die Bilanz für Russland aus? Die Flagge dieses Staates wird man nicht mehr bei Sportturnieren erblicken. Die heutige Weltkultur wird für sie jetzt verschlossen sein. Russische Waren wird man in der ganzen Welt aus den Ladenregalen entfernen. Russische Banken koppelt man vom globalen System ab. Russische Bürger verlieren Ersparnisse, verlieren jegliche Perspektiven. Russische Mütter verlieren Kinder in einem für sie völlig fremden Land. Begreifen Sie diese Zahl! Rund 6000 gefallene Bürger Russland, russische Militärs. Innerhalb von sechs Kriegstagen. Dies ist ohne eine Erfassung der Verluste in der vergangenen Nacht. Sechstausend. Um was zu bekommen? Um die Ukraine zu erhalten? Dies ist unmöglich. Dies kann man nicht mit Raketen ändern. Mit Bomben, mit Panzer, mit jeglichen Schlägen. Wir sind auf unserem eigenen Boden. Aber aufgrund des Krieges gegen uns wird es ein Internationales Tribunal für sie geben.

Ukrainer! Vergangen ist noch eine Nacht des großangelegten Krieges von Russland gegen uns, gegen die Menschen, gegen die Ukraine. Eine schwere Nacht. Der eine hat diese Nacht in der Metro verbracht, in einem Luftschutzbunker. Andere – in einem Keller. Irgendwer hatte mehr Glück gehabt, hat zu Hause geschlafen. Andere haben Freunde und Verwandte aufgenommen. Sieben Nächte schlafen wir fast nicht. Oder wir schlafen, aber sehr unruhig. Meine lieben, es wird die Zeit kommen, in der wir ausschlafen können. Dies ist aber nach dem Krieg. Nach dem Sieg. Im Frieden, den wir brauchen. Den wir stets geschätzt haben. Und den wir nie zerstört haben. Ich bitte Sie alle, Ihre Nächsten zu bewahren. Ihre Brüder und Schwestern zu schützen. Ich bin über jeden von Ihnen begeistert! Die ganze Welt ist über Sie begeistert – von Hollywood-Stars bis zu Politikern. Heute sind Sie, die Ukrainer, ein Symbol der Unzerstörbarkeit. Ein Symbol dessen, dass Menschen in jeglichem Land zu jeglichem Augenblick zu den besten Menschen auf der Erde werden können.

Ruhm der Ukraine!“