Die Juni-Aufrufe von Jewgenij Prigoschin, sich seinem Marsch „für Gerechtigkeit“ anzuschließen, haben kein mitfühlendes Echo in den Hirnen der Bürger Russlands, die sich so sehr nach Gerechtigkeit sehnen, gefunden. Wenn man einmal die Rostower Jugendlichen ausklammert, die sich mit ihm und Panzern der Söldnerfirma „Wagner“ fotografierten. (Freilich ist diese Beurteilung der Einwohner von Rostower nicht unbedingt zu 100 Prozent der Wahrheit nahe. – Anmerkung der Redaktion). Und auch ungeachtet des relativ hohen gesellschaftlichen Ratings (laut Angaben einer ROMIR-Befragung gehörte er zu den Top-5 der einflussreichsten Bürger) hatten die Bürger sein Angebot ignoriert. Auf jeden Fall waren keine tausenden mitfühlenden Einwohner von Rostow oder Woronesch, die ihm in Richtung Moskau zu folgen suchten, beobachtet worden. Anstelle dessen hatten es die Durchschnittsbürger vorgezogen, sich mit Bargeld (etwa 100 Milliarden Rubel), mit Devisen und Benzin einzudecken oder einfach das Land zu verlassen. Augenscheinlich hatten sich die generelle Verwirrtheit und das tiefe Wurzeln geschlagene politische Desinteresse der Bürger ausgewirkt, die ohnehin durch andere Probleme (die COVID-19-Pandemie, die Sanktionen und Teil-Mobilmachung) gepeinigt wurden und werden. Ja, und der Sommer, die Urlaubszeit standen ins Haus.
Nun, wenn man aber ernsthaft ist, so steht die Frage: Warum hat sich der oppositionell eingestellte Teil der Bevölkerung nicht dem rebellierenden Jewgenij Prigoschin angeschlossen, der über alles Notwendige für ein Schaffen von Ordnung im Land verfügte? Die Antwort ist offensichtlich: Die Person des „Kämpfers für die rechte Sache“ an sich passte nicht. Der widerspruchsvolle Chef der Söldnerfirma „Wagner“ hatte zwar eine gewisse Popularität im Volk durch seine scharfen Ausfälle gegenüber der Militärführung des Landes aufgrund der militärischen Sonderoperation erworben, indem er die leerstehende Nische eines Mannes, der kein Blatt vor den Mund nimmt, eingenommen hatte. Er hatte es aber nicht verstanden, sich von dem üblen Ruf zu lösen, den er nach zahlreichen journalistischen Nachforschungen erlangt hatte. Ja, und seine aktuelle Tätigkeit (die Anwerbung von Strafgefangenen und die Haltung ihnen gegenüber) hatte nicht wenige Beanstandungen seitens Vertreter des öffentlichen Lebens ausgelöst. Ja, und der übrige Teil der mit dem Leben unzufriedenen Bevölkerung wurde gleichfalls nicht durch den Prigoschin-Marsch aufgrund der historischen Erinnerungen inspiriert. Viele Bürger erinnern sich noch an die tragischen Ereignisse der ersten Hälfte der 1990er Jahre sowie an die Protestaktionen von 2011-2012, aber auch die Folgen der bunten Revolutionen in Ländern der GUS. Eine ernüchternde Wirkung hatten auch die recht harten Maßnahmen der strafrechtlichen Ahndung, die für eine Teilnahme an Massenprotesten (bis zu acht Jahre Haft), an unerlaubten Kundgebungen (bis zu fünf Jahre) und staatsfeindliche Äußerungen (bis zu vier Jahre) vorgesehen sind (freilich ist deren Verhältnismäßigkeit mehr als fraglich und im Grunde nur auf eine Abschreckung ausgerichtet – Anmerkung der Redaktion).
Wie eine jüngste soziologische Erhebung zeigte, wollen die meisten Bürger Russlands wie auch früher nicht an politischen Ereignissen aufgrund dessen teilnehmen, dass man sie nicht beeinflussen könne oder aufgrund eines Desinteresses. Häufiger als die übrigen haben darüber die weniger gebildeten jungen Menschen (bis zu 24 Jahre) und Dorfbewohner, aber auch gebildete Moskauer (im Alter von 40 bis 54 Jahren) gesprochen. Lediglich der fünfte Teil der Befragten ist bereit, sich an der Politik zu beteiligen. Die größte Bereitschaft ist den Moskauern und Einwohnern von Städten mit einer Bevölkerung von 100.000 bis 500.000 Menschen eigen, aber auch gutgestellten Bürgern, die sich Waren mit einer langen Nutzungsdauer erlauben können. Ihren apolitischen Charakter begründen Russlands Bürger damit, dass die „Politik nicht für den kleinen Mann von der Straße“ sei. Sie würden in ihr nichts verstehen oder zu sehr mit den tagtäglichen Angelegenheiten befasst sein. Anzutreffen sind auch Pessimisten, die über die Unmöglichkeit sprechen, etwas zu verändern, und nicht den Wunsch haben, sich schmutzig zu machen, und eine Verfolgung der Behörden befürchten.
Unter den „unpolitischen“ Bürgern waren nicht wenige Minderbemittelte (denen das Geld gerade so für Lebensmittel reicht), was anschaulich eine Statistik der Zentralbank illustriert. Mit Stand vom 1. Mai erreichte die Verschuldung der Bevölkerung allein gegenüber den Banken 30,2 Billionen Rubel (Ende des Jahres 2022 war es rund 27 Billionen). Und die durchschnittliche Höhe eines Kredits lag für eine Familie bei 509.600 Rubel (ca. 5070 Euro). Die am meisten verbreitete Verschuldung bleibt aufgrund aufgenommener Hypotheken (über 50 Prozent der vergebenen Kredite). Die Zunahme der Kreditverschuldung konnte angesichts der Anpassung des Bankensystems und der Kreditnehmer an sich an die neuen Realitäten erfolgen. Gleichzeitig damit hat der Umfang der überfälligen Kredite einen Stand von 1,1 Billionen Rubel erreicht. Der durchschnittliche Umfang der überfälligen Kreditzahlungen erreichte 20.400 Rubel. Nicht weniger Besorgnis löst die dynamische Zunahme der persönlichen Insolvenzen aus. Laut Angaben des Internetportals www.fedresurs.ru haben Gerichte im vergangenen Jahr 278.100 Bürger und individuelle Unternehmer als insolvent anerkannt, was um 44,2 Prozent mehr als im Jahr 2021 war. Dies ist aus quantitativer Sicht ein neuer Rekordwert seit Einrichtung dieses Instituts, seit dem 1. Oktober 2015. Innerhalb von sieben Jahren sind 753.200 Menschen als insolvente anerkannt worden. Dies bedeutet, dass auf 100.000 Einwohner des Landes 191 Insolvenzen kommen. Im ersten Halbjahr des laufenden Jahres hat die Zahl der Insolvenzen eine Zunahme um 34 Prozent bis auf 163.000 Fälle erlebt. Unter den Regionen sind hinsichtlich dieses Parameters Moskau und das Moskauer Gebiet, die Verwaltungsregion Krasnodar und Baschkirien die Spitzenreiter in Russland. Laut Experten wird die Kreditverschuldung der Bevölkerung nur weiter ansteigen.
Während man sich mit der Armut noch irgendwie abfinden kann, so ist die Perspektive einer unweigerlichen strafrechtlichen Verfolgung aufgrund „konterrevolutionären Geredes“ oder einer Unterstützung für verbotene Organisationen ein weitaus ernsthafterer und zügelnder Faktor für eine Nichteinmischung in die Politik. (Erst am Montag wurde bekannt, dass der Ex-Koordinator des Nawalny-Stabes in Barnaul, Wadim Ostanin, zu neun Jahren Lagerhaft verurteilt wurde – wegen „Beteiligung an einer extremistischen Organisation“. – Anmerkung der Redaktion). Laut Angaben des Obersten Gerichts Russlands hat man im vergangenen Jahr aufgrund unterschiedlicher „provokanter“ Äußerungen 638 Personen verurteilt (im Jahr 2021 – 541). Die größte Anzahl von Urteilen (356 gegenüber 307 im Jahr zuvor) wurden aufgrund von Aufrufen zu einer extremistischen Tätigkeit – vor allem über das Internet – gefällt. Dabei wurden 18 Angeklagte zu einer „Zwangsheilung“ verurteilt. Aufgrund der Beteiligung an der Tätigkeit extremistischer Organisationen (Paragraf 282.2 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation) verurteilte man 259 Personen, was um 88 Prozent mehr als im Jahr 2021 (138). Es sei daran erinnert, dass eine Bestrafung für solche Taten eine Einschränkung der Arbeits-, Wahl- und finanziellen Rechte (Aufnahme in eine schwarze Liste der Aufsichtsbehörde Rosfinmonitoring) nach sich zieht. Allerdings darf auch die ordnungsrechtliche Haftung nicht vergessen werden. Im vergangenen Jahr sind gemäß dem neuen Paragrafen 20.3.3 des Ordnungsstrafrechts der Russischen Föderation über eine Diskreditierung der Handlungen der russischen Streitkräfte und der staatlichen Organe im Ausland 4.400 Menschen mit einer Geldstrafe belegt worden. Russlands Staatskasse damit 151 Millionen Rubel. Und der Trend in diesem Jahr verheißt neue Einnahmen für den russischen Staatshaushalt.
Vor dem Hintergrund all dessen ist klar geworden, warum das regelmäßig von Mitarbeitern des staatlichen Allrussischen Meinungsforschungszentrums VTsIOM und der kremlnahen Stiftung „Öffentliche Meinung“ gemessene Protestpotenzial der Bevölkerung Russlands keinerlei wesentliche positive Dynamik aufweist, ungeachtet der herrschenden Meinung von einem hohen Grad der Protestbereitschaft der Bürger Russlands. Diskussionen am Küchentisch oder im Hinterhof bleiben dabei natürlich außen vor. Den Unwillen, erneute Erschütterungen zu erleben, belegen gleichfalls Umfragen des Levada-Zentrums (in Russland als ausländischer Agent gelabelt) vom März und Juni. Während bis zur Meuterei 19 Prozent der Befragten aus 50 Regionen des Landes Prigoschin bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr unterstützt hätten, so nach dem 24. Juni lediglich zehn Prozent, was die Halbierung seines Ansehens hinsichtlich anderer Positionen wiederholt. Die Ablehner der Prigoschin-Aktion betonten seine „überzogenen Ambitionen“. Dieser Tage hat übrigens die russische Aufsichtsbehörde für das Internet und die Massenmedien – Roskomnadzor – eine ganze Reihe von Internetseiten mit Wahlkampfagitation Prigoschins blockiert.
Hätte sich Prigoschin der unsterblichen Worte seines Landsmannes und Literaten Alexander Radistschew darüber, dass das „russische Volk sehr geduldig ist und bis zum Äußersten duldet“, erinnert, hätte er nicht auf die Unterstützung der verarmten sowie rechtschaffenen und die Gesetze fürchtenden Landsleute gehofft, die nicht zu einer neuen Revolution ohne einen adäquaten Anführer und verständlichen Aktionsplan bereit sind.