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Prigoschin’s Marsch könnte es auf 30 Jahre Haft bringen


Die Einstellung der strafrechtlichen Verfolgung des Chefs der privaten Militärfirma „Wagner“, Jewgenij Prigoschin, der die ganze Welt durch seine Demarche vom 23. und 24. Juni in helle Aufruhr versetzt hatte und damit sich die Experten für Verschwörungstheorien zerstreiten ließ, ist keine vollkommene Überraschung geworden, denn sie war vom Pressesekretär des Präsidenten der Russischen Föderation angekündigt worden. Jedoch sind weder ein konkreter Paragraf noch eine Formulierung, der entsprechend die Untersuchungsverwaltung des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB das zuvor eingeleitete Strafverfahren über die Organisierung eines bewaffneten Aufstands (Paragraf 279 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation) einstellte, aus irgendeinem Grunde nicht veröffentlicht worden. Obgleich für viele offensichtlich ist, dass sich die Untersuchungsbeamten gehörig darüber den Kopf zerbrechen mussten, denn das gesamte Geschehen war im Internet übertragen und durch Augenzeugen dokumentiert worden. Ja, und Beispiele für eine Einstellung derartiger Fälle hatte es in der Geschichte noch nicht gegeben. Das Leben wird zeigen, inwieweit die getroffene Entscheidung eine richtige gewesen war.

Ohne sich in alle mögliche Verschwörungstheorien hinsichtlich des Auftauchens von Prigoschin in der Umgebung des Präsidenten, dessen stürmischen Tätigkeit und der wahren Motivation für seine Handlungen zu vertiefen, analysieren wir den Ausgang seines Falls, wenn er einfacher Sterblicher gewesen wäre, von denen Hunderttausende wegen weitaus geringerer schuldhafter Taten gegenüber der Gesellschaft vor Gericht gestellt werden. Für den Anfang müsste er für die Worte haften, die in einer 20minütigen Videoansprache an das Volk formuliert wurden, die den „Panzer-Marsch“ vorbereitet hatte. Zwei Novellen des vergangenen Jahres aus dem Strafgesetzbuch der Russischen Föderation (Teil 2 des Paragrafen 280.3 „Öffentliche Handlungen, die auf eine Diskreditierung der Streitkräfte der Russischen Föderation ausgerichtet sind“ und Teil 3 des Paragrafen 280.4 „Öffentliche Aufrufe zur Vornahme einer Tätigkeit, die gegen die Sicherheit des Staates gerichtet ist“) hätten ihm um die zehn Jahre Freiheitsentzug zusammen mit einer Geldstrafe von mehreren Millionen Rubel eingebracht. Dazu kann man noch eine Verleumdung hinzurechnen (Teil 2 des Paragrafen 131.1 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation) – zwei Jahre mit einer Geldstrafe und zehn Jahre für Fahnenflucht mit Waffen (Teil 3 des Paragrafen 338 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation), wenn er den Militärs gleichgestellt wird.

Die eine oder andere Haftstrafe könnte man anhand der Ergebnisse der Durchsuchungen im Prigoschin-Office und Hotel in Sankt Petersburg zusammentragen. Fotografien von dort hatten gleich mehrere föderale Massenmedien veröffentlicht (da offensichtlich eine Anti-Prigoschin-Kampagne angefahren werden sollte, später hatte man sie aus irgendeinem Grunde von deren Internetseiten entfernt, aber sie sind auf Telegram geblieben). Auf diesen Fotos wurden neben Kartons mit Bargeld (vier Milliarden Rubel) und fünf Kilogramm Goldbarren sechs Pistolen, drei Pässe auf fremden Namen sowie fünf Kilogramm-Pakete mit einem weißen Pulver festgehalten. Während man sich mit dem gefundenen Geld, den Waffen sowie den Dokumenten noch irgendwie aus der Affäre ziehen könnte, so könnte ein Gericht aufgrund der Pakete mit den verbotenen Stoffen nach einem entsprechenden Gutachten deren Besitzer für 15 Jahre in ein Straflager stecken.

Daneben hatten die Unterstellten Prigoschins im Verlauf des „Marschs der Gerechtigkeit“ eine ganze Reihe von Handlungen verübt, die „eine reale Gefahr eines Todes von Menschen und des Zufügens eines erheblichen materiellen Schadens zwecks Destabilisierung der Tätigkeit der Machtorgane oder Beeinflussung des Treffens von Entscheidungen durch sie geschaffen hatten“. Wenn man dem den Tod von einem Dutzend Piloten, die sich in den von ihnen abgeschossenen sechs Hubschraubern und Flugzeug befunden hatten, die 19 beschädigten Häuser und das in Brand geratene Erdöllager in Woronesch (5.000 Kubikmeter Flugzeugkerosin) hinzufügt, so würde ihm eine 20jährige Haft drohen. Das heißt, noch vor dem Vorwurf der Organisierung eines Aufstands konnte Prigoschin insgesamt um die 30 Jahre bekommen (solch eine Begrenzung ist durch Teil 5 des Paragrafen 56 des Strafgesetzbuches festgelegt worden).

Was den Militärputsch angeht, der Prigoschin angelastet wurde (eine Haftstrafe von 12 bis 20 Jahren), so hatte er sich von ihm von Anfang an davon distanziert. Nach seinen Worten war das Ziel des Marschs gen Moskau, keine Vernichtung der Firma „Wagner“ zuzulassen (ab 1. Juli hat sie die Eigenständigkeit verloren und kommt unter die Kontrolle des von Minister Sergej Schoigu angeführten Verteidigungsministeriums) und die Militärführung zu Verantwortung zu ziehen, die unverzeihliche Fehler im Verlauf der militärischen Sonderoperation begangen hätte. Selbst unter Berücksichtigung eines Nichtbestehens der Absicht einer Veränderung der Verfassungsordnung der Russischen Föderation, des Unwillens, das Begonnene fortzusetzen, und der blendenden Charakteristik (Prigoschin ist dreimaliger Held – der Russischen Föderation, der Donezker Volksrepublik und der Lugansker Volksrepublik) hätten die FSB-Untersuchungsbeamten wohl kaum seinen Fall aufgrund des Nichtbestehens des Bestands einer Straftat oder angesichts der freiwilligen Aufgabe (nicht vergessen werden darf Teil 3 des Paragrafen 31 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation) eingestellt, wenn es nicht den Willen des Präsidenten gegeben hätte. Weder die menschlichen Opfer noch die Zerstörungen wurden ins Kalkül gezogen.

Stellen wir uns da jetzt die gesetzmäßige Frage: Wodurch ist Prigoschin besser als die anderen verurteilten „Aufständischen“. Zum Beispiel der mit Orden ausgezeichnete Ex-Oberst der Hauptverwaltung für militärische Aufklärung Wladimir Kwatschkow, der sich 2013 acht Jahre strenge Lagerhaft (und dies auch nach einer Beschwerde im Obersten Gericht der Russischen Föderation) aufgrund der Vorbereitung eines Aufstands eingehandelt hatte (er hatte in Städten eine Bürgerwehr zwecks Einnahme des Kremls zusammengestellt), oder der jakutische Schamane Alexander Gabyschew, der im Jahr 2020 in die Psychiatrie wegen öffentlicher Aufrufe zu einer Veränderung der Verfassungsordnung gesteckt wurde (er war zu einem Fußmarsch aus Jakutien gen Moskau zwecks „Vertreibung Putins“ aufgebrochen). Vor ihnen hatte man gemäß Paragraf 279 des Strafgesetzbuches die wohl überlebenden Teilnehmer der tschetschenischen Bandenformationen verurteilt. Wie ist es da also mit der sattsam bekannten allgemeinen Gleichheit vor dem Strafrecht bestellt?

Eine Ausweisung ins Ausland oder die Verbannung hinter den „101. Kilometer“ (von Moskau aus – Anmerkung der Redaktion) sind auch in der UdSSR praktiziert worden. Sie hatten aber vor allem Dissidenten oder marginal-kriminelle Elemente betroffen. Im Fall mit dem rebellierenden Prigoschin sieht eine derartige (gesetzgeberisch nicht vorgesehene) Maßnahme zur Einschränkung in den Rechten mehr als merkwürdig aus, wenn man die Schwere des von ihm Begangenen berücksichtigt (worüber anfangs auch selbst der Präsident gesprochen hatte). Wie kann man denn in diesem Fall mit einer Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeit rechnen (die es nach Meinung vieler Bürger Russlands ohnehin im Land nicht gibt – Anmerkung der Redaktion), in deren Interesse auch eine strafrechtliche Ahndung festgelegt wird (Teil 2 des Paragrafen 43 des Strafgesetzbuches)?

Obgleich man in der Perspektive auch alles übergehen und vergessen kann, wenn der verbannte 62jährige Prigoschin oder seine Umgebung nicht zur Vernunft kommen. Entsprechend Paragraf 214 der Strafprozessordnung kann man den Beschluss über die Einstellung eines Strafverfahrens per Entscheidung eines Gerichts selbst nach Verstreichen eines Jahres aufheben. Unter Berücksichtigung des Nichtbestehens einer Verjährungsfrist für eine strafrechtliche Verfolgung und Ahndung der Rebellen (Teil 5 des Paragrafen 78 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation ist eine Wiederaufnahme der Behandlung entsprechend des früher eingestellten Verfahrens gegen sie durchaus möglich. Auch wenn es aber dazu kommen wird, so augenscheinlich nicht in Bälde.

Übrigens, ungeachtet des am 23. und 24. Juni Geschehenen haben die Recruiting-Zentren der Söldnerfirma „Wagner“ bereits ihre Arbeit wiederaufgenommen. Und Werbeplakate mit den Aufrufen, sich ihren Reihen anzuschließen, zieren erneut städtische Billboards. Es ergibt sich, dass alles durch ihren Chef Gesagte und Getane in der obersten Führungsriege lediglich als ein Exzess eines recht hitzköpfigen Kommandierenden einer Armee in Zeiten der militärischen Sonderoperation (die am 8. Juli den 500. Tag erleben wird – Anmerkung der Redaktion) gewertet wurde.

Die vorliegenden Überlegungen über eine soziale Gerechtigkeit in Russland bilanzierend, bleibt, sich der Worte des unvergesslichen Klassikers der russischen Literatur Michail Saltykow-Stschedrin zu erinnern, wonach „die russischen Herrschenden ihr Volk im Zustand eines ständigen Staunens halten müssen“. Und die „Strenge der russischen Gesetze wird dadurch gemildert, dass ihre Umsetzung nicht unbedingt erfolgt“. Von daher macht es sicherlich Sinn, sich mehr über rechtlichen Übungen der Militärzeit zu wundern und sie als ein unwandelbares Attribut des einheimischen Alltagslebens aufzufassen.