Einzelne Vertreter der russischen politischen Klasse behaupten heute, dass Russland in der Lage sei, innerhalb weniger Stunden (genannt werden auch kürzere Zeitspannen) der Ukraine eine vernichtende Niederlage zuzufügen, wenn ein militärischer Konflikt beginnen. Schauen wir uns einmal an, inwieweit derartige Erklärungen der Realität entsprechen.
In Russlands Experten-Community hat sich in der letzten Zeit recht stark die Meinung festgesetzt, dass man sogar nicht einmal Truppen auf das Territorium der Ukraine einmarschieren lassen müsse, da sich die Streitkräfte dieses Landes in einem beklagenswerten Zustand befinden würden.
Einzelne Politologen unterstreichen, dass durch einen mächtigen Feuerschlag Russlands praktisch alle Beobachtungs- und Fernmeldesysteme sowie Artillerie- und Panzerformationen vernichtet werden würden. Mehr noch, eine Reihe sogenannter Experten ziehen gar die Schlussfolgerung, dass selbst ein vernichtender Schlag für Russland ausreichend sei, damit ein derartiger Krieg beendet werde.
Als Sahnehäubchen auf der Torte wird durch vereinzelte Analytiker die Tatsache unterstrichen, dass keiner in der Ukraine das „Kiewer Regime“ zu verteidigen beginne.
EINEN LEICHTEN SPAZIERGANG WIRD ES NICHT GEBEN
Beginnen wir mit der letzten Behauptung: Zu erklären, dass keiner in der Ukraine beginnen werde, das Regime zu verteidigen, bedeutet in der Praxis eine völlige Unkenntnis der militärpolitischen Lage und der Stimmungen breiter Volksmassen im Nachbarstaat. Mehr noch, der Grad des Hasses (der bekanntlich der wirksamste Brennstoff für einen bewaffneten Kampf ist) in der Nachbarrepublik gegenüber Moskau wird offenkundig unterschätzt. Keiner wird die russische Armee mit Brot, Salz und Blumen in der Ukraine willkommen heißen.
Scheinbar haben die Ereignisse im Südosten der Ukraine aus dem Jahr 2014 keinem und nichts gelehrt. Damals hatte man schließlich auch damit gerechnet, dass die gesamte Ukraine links des Dneprs mit einem Schlag und innerhalb von Sekunden zu Neurussland werde (war ein historisches Gebiet, das ab dem Jahre 1764 so genannt wurde, nachdem das Russische Kaiserreich das Osmanische Reich und dessen Vasallenstaat Krimkhanat zurückgedrängt und das Gouvernement Neurussland gebildet hatte – Anmerkung der Redaktion). Man hatte bereits Landkarten gezeichnet, die Personalzusammensetzung der künftigen Stadt- und Regionalverwaltungen konzipiert und Staatsflaggen entwickelt.
Doch selbst die russischsprachige Bevölkerung dieses Teils der Ukraine (einschließlich solcher Städte wie Charkow, Saporoschje, Dnepropetrowsk und Mariupol) hatte in ihrer überwältigenden Mehrheit derartige Absichten nicht unterstützt. Dem Projekt „Neurussland“ ging irgendwie unbemerkt die Luft aus und wurde still und leise zu Grabe getragen.
Kurzum, mit einem Befreiungsfeldzug wird es im Jahr 2022 nach dem Vorbild und Muster von 1939 in keiner Weise etwas werden. In diesem Fall sind wie nie zuvor die Worte des Klassikers der Sowjetliteratur Arkadi Gaidar richtig: „Offensichtlich wird es für uns jetzt kein leichtes Gefecht, sondern eine schwere Schlacht geben“.
„MIT WENIG BLUT UND DURCH EINEN MÄCHTIGEN SCHLAG“
Nun über den „mächtigen Feuerschlag Russlands“, mit dem angeblich „praktisch alle Beobachtungs- und Fernmeldesysteme sowie Artillerie- und Panzerformationen der ukrainischen Streitkräfte“ vernichtet werden würden.
Allein anhand nur dieser einen Formulierung ist zu sehen, dass so etwas nur Politarbeiter sagen konnten. Zur Kenntnisnahme: Im Verlauf von hypothetischen Kampfhandlungen im Maßstab des Theaters der Kampfhandlungen werden Schläge gegen erstrangige Objekte und massierte Feuerschläge geführt. Es sei angemerkt, dass im Verlauf der operativ-strategischen Planung die Attribute „mächtige“ (aber auch „mittlere“, „schwache“ usw.) nicht angewandt werden.
In der Militärwissenschaft wird unterstrichen, dass die Schläge strategische (dies betrifft zum größeren Teil die strategischen Nuklearkräfte), operative und taktische sein können. Hinsichtlich der Anzahl der beteiligten Kräfte und der zu bekämpfenden Objekte können die Schläge massierte, Gruppen- und vereinzelte Schläge sein. Und andere Begriffe, selbst in Aufsätzen politologischer Art, sollten doch besser nicht eingeführt und nicht verwendet werden.
Schläge gegen erstrangige Objekte und massierte Feuerschläge können im Rahmen einer Front (Fronten sind bisher an den Westgrenzen Russlands noch nicht gebildet worden) oder des Oberkommandos der Streitkräfte auf der Theaterbühne der Kampfhandlungen (bisher ist solch eines in der südwestlichen strategischen Richtung auch nicht gebildet worden) geführt werden. Alles, was geringer als dieses ist, ist schon kein massierter Schlag.
Und was ist beispielsweise ein massierter Feuerschlag einer Front? Zu Beginn sei betont, dass für einen massierten Feuerschlag eine maximale Anzahl von kampfbereiten Kräften und Mitteln der Luft- und Raketentruppen sowie der Artillerie und Mittel des funkelektronischen Kampfes, die sich in der Verfügungsgewalt des Kommandierenden der Truppen der Front (des operativ-strategischen Verbands) befinden, involviert werden. Bei einem massierten Feuerschlag handelt es sich um einen massierten Luftangriff der Luftstreitkräfte, um zwei, drei Salven von operativ-taktischen und taktischen Raketenkomplexen und mehrere Schläge der Artillerie. Es ist gut, wenn dabei der Grad der Vernichtung des Gegners 60 bis 70 Prozent ausmacht.
Was ist in dieser Frage in Bezug auf den Konflikt mit der Ukraine das Wichtigste? Zweifellos wird der massierte Feuerschlag dem wahrscheinlichen Gegner schwere Verluste zufügen. Aber damit zu rechnen, mit nur einem solchen Schlag die Streitkräfte eines ganzen Staates zu vernichten, bedeutet, im Verlauf der Planung und Führung der Kampfhandlungen einfach einen ungezügelten Optimismus an den Tag zu legen. Von solchen massierten Feuerschlägen müssen im Verlauf der hypothetischen strategischen Operationen auf der Theaterbühne der Kampfhandlungen nicht einer und nicht wie, sondern weitaus mehr geführt werden.
Dazu muss unbedingt hinzugefügt werden, dass die Reserven an perspektivreichen und hochpräzisen Waffen in den Streitkräften der Russischen Föderation keinerlei unbegrenzten Charakter tragen. Hyperschallraketen vom Typ „Zirkon“ gibt es bisher noch nicht in der Bewaffnung. Und die Anzahl der (seegestützten) „Kaliber“-Flügelraketen, (luftgestützten) „Dolch“- und X-101-Flügelraketen sowie der Raketen vom Typ „Iskander“ macht im besten Falle mehrere hundert aus (im Fall der „Dolch“-Raketen – dutzende). Dieses Arsenal ist völlig unzureichend, um einen Staat von der Größe Frankreichs und mit einer Bevölkerung von mehr als 40 Millionen Menschen vom Erdboden verschwinden zu lassen. Und gerade durch solche Parameter wird die Ukraine charakterisiert.
ÜBER DIE ÜBERLEGENHEIT IN DER LUFT
Manchmal wird in der russischen Experten-Gemeinschaft behauptet (durch die Anhänger der Douhet-Doktrin, Giulio Douhet war ein italienischer General und Theoretiker des Luftkriegs – Anmerkung der Redaktion), dass, da die hypothetischen Kampfhandlungen in der Ukraine unter den Bedingungen einer vollkommenen Herrschaft der russischen Luftstreitkräfte in der Luft erfolgen würden, der Krieg ein äußerst kurzer sein und innerhalb kürzester Frist beendet werde.
Dabei wird irgendwie vergessen, dass die bewaffneten Formationen der afghanischen Opposition im Verlauf des Konflikts von 1979-1989 nicht ein einziges Flugzeug und nicht einen einzigen Kampfhubschrauber gehabt hatten. Der Krieg hatte sich aber in diesem Land über ganze zehn Jahre lang hingezogen. Nicht ein einziges Flugobjekt hatten auch die tschetschenischen Rebellen gehabt. Und der Kampf gegen sie dauerte mehrere Jahre an und kostete den föderalen Truppen viel Blut und Opfer.
Die Streitkräfte der Ukraine haben aber doch irgendwelche Luftstreitkräfte, wenn auch keine besonderen. Und sie verfügen genauso über Luftverteidigungsmittel.
Übrigens, die ukrainische Einsatzteams der Luftabwehrraketentruppen (und bei weitem nicht die georgischen) hatten die russischen Luftstreitkräfte im Verlauf des russisch-georgischen Konflikts von 2008 in Südossetien ganz gehörig in die Bredouille gebracht. Nach dem ersten Tag der Kampfhandlungen hatte sich die Führung der russischen Luftstreitkräfte aufgrund der erlittenen Verluste in einem offenkundigen Schockzustand befunden. Und dies zu vergessen, lohnt sich nicht.
VORAB BEWEINTE
Jetzt zur These „Die Streitkräfte der Ukraine befinden sich in einem beklagenswerten Zustand“. Es steht außer Zweifel, die ukrainischen Streitkräfte haben Probleme mit den Luftstreitkräften und modernen Mitteln für die Luftverteidigung. Man muss aber auch Folgendes eingestehen: Während bis 2014 die Streitkräfte der Ukraine ein Bruchstück der Sowjetarmee darstellten, so ist in den letzten sieben Jahren in der Ukraine eine qualitativ andere Armee geschaffen worden, auf einer vollkommen anderen ideologischen Grundlage und in Vielem entsprechend den Standards der NATO. Und recht moderne Waffen und Technik gelangen heute von vielen Ländern des Nordatlantikpakts in die Ukraine. Und diese Lieferungen dauern an.
Was nun aber den Schwachpunkt der Streitkräfte der Ukraine – die Luftstreitkräfte – angeht: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der kollektive Westen in einer recht kurzen Zeit an Kiew Jagdflugzeuge – sozusagen aus dem Bestand der eigenen Streitkräfte, also Second-Hand-Jets — liefern kann. Doch diese Second-Hand-Technik wird hinsichtlich ihrer taktisch-technischen Eigenschaften durchaus mit den meisten Flugzeugen des russischen Parks an Jets vergleichbar sein.
Fraglos unterliegen die ukrainischen Streitkräfte heute hinsichtlich ihrer Kampf- und operativen Möglichkeiten den Streitkräften der Russischen Föderation. Diesbezüglich hat keiner Zweifel – weder im Osten noch im Westen.
Doch man darf sich aber gegenüber dieser Armee auch nicht leichtsinnig verhalten. In dieser Hinsicht muss man sich stets an das Gebot von Alexander Suworow erinnern: „Verachten Sie niemals Ihren Feind, halten Sie ihn nicht als dümmer und schwächer als Sie“.
Jetzt zu dem, was die Behauptung angeht, dass die westlichen Länder nicht einen Soldaten zum Sterben für die Ukraine entsenden werden.
Es muss betont werden, dass dem wahrscheinlich so sein wird. Dies schließt jedoch bei weitem nicht im Falle eines Einmarschs von Russland eine massierte Hilfe für die ukrainischen Streitkräfte seitens des kollektiven Westens in Gestalt unterschiedlichster Arten von Waffen und Kampftechnik sowie in Form von umfangreichen Lieferungen materieller Mittel aller Art aus. In dieser Hinsicht hat der Westen bereits eine bisher nie dagewesene konsolidierte Haltung demonstriert, die man in Moskau scheinbar nicht vorausgesehen hatte.
Dass seitens der USA und der Länder des Nordatlantikpaktes eine gewisse Reinkarnation eines Land-Lease nach dem Muster und dem Vorbild des Zweiten Weltkriegs beginnen wird, muss nicht bezweifelt werden. Nicht auszuschließen ist auch ein Zustrom von Freiwilligen aus dem Westen, deren Anzahl eine sehr große werden kann.
PARTISANEN UND UNTERGRUNDKÄMPFER
Und schließlich über die Dauer der hypothetischen Kampagne. In der russischen Experten-Community werden mehrere Stunden genannt, mitunter gar wenige dutzend Minuten. Dabei wird irgendwie vergessen, dass wir dies alles schon durchgemacht haben. Die Formulierung „eine Stadt mit einem Luftlanderegiment innerhalb von zwei Stunden einnehmen“ ist bereits für das Genre zu einer klassischen geworden.
Es lohnt, gleichfalls daran zu erinnern, dass das mächtige Stalinsche NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, das Innenministerium der UdSSR – Anmerkung der Redaktion) und die mehrere Millionen Militärs zählende Sowjetarmee über zehn Jahre lang gegen den nationalistischen Untergrund in der Westukraine gekämpft hatten. Und gegenwärtig besteht die Variante, dass die gesamte Ukraine leicht zum Partisanenkampf übergehen kann. Überdies können diese Formationen auch ganz leicht bereits auch auf dem Territorium Russlands zu agieren beginnen.
Ein bewaffneter Kampf in den ukrainischen Großstädten lässt sich überhaupt schlecht voraussagen. Es ist allgemein bekannt, dass eine große Stadt das beste Schlachtfeld für die schwache und technisch besser dastehende Seite eines bewaffneten Konflikts ist.
Ernsthafte Experten unterstreichen, dass man in einer Megapolis nicht nur eine Gruppierung von tausenden und gar zehntausenden Kämpfern konzentrieren, sondern sie auch vor der überlegenen Feuerkraft des Gegners verbergen kann. Aber sie auch lange mit Materialien versorgen und die Verluste an Menschen und Technik ausgleichen kann. Weder Gebirge noch Wälder oder Dschungel bieten heute solch eine Möglichkeit.
Die Spezialisten sind davon überzeugt, dass das städtische Umfeld den sich verteidigenden Kräften hilft, das Vorrücken der Angreifenden verlangsamt, eine riesige Anzahl von Kämpfern je Flächeneinheit zu stationieren erlaubt sowie das Zurückbleiben in Bezug auf Kräften und Technologien kompensiert. Und in der Ukraine gibt es Großstädte mehr als genug, darunter auch mit einer Bevölkerung von mehr als einer Million Einwohnern. Folglich kann die russische Armee im Verlauf eines hypothetischen Kriegs gegen die Ukraine bei weitem nicht nur ein Stalingrad und Grosny erleben.
SCHLUSSFOLGERUNGEN
Im Großen und Ganzen wird es keinerlei ukrainischen Blitzkrieg. Die Äußerungen einiger Experten von der Art „Die Russische Armee wird einen Großteil der Einheiten der ukrainischen Streitkräfte innerhalb von 30 bis 40 Minuten zerschlagen.“, „Russland ist imstande, die Ukraine innerhalb von zehn Minuten im Falle eines großangelegten Kriegs zu zerschlagen.“ oder „Russland wird die Ukraine innerhalb von acht Minuten zerschlagen.“ haben keine seriösen Grundlagen.
Und schließlich das Wichtigste: Ein bewaffneter Konflikt mit der Ukraine entspricht derzeit von Grund auf nicht den nationalen Interessen Russlands. Daher sollten einige überaufgeregte russische „Experten“ ihre vermessenen Fantasien am besten vergessen. Und zwecks Verhinderung von weiteren Ansehensverlusten sich dieser niemals mehr erinnern.