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Putin hat die ganze Legitimität im Jahr 2022 in vollen Zügen ausgenutzt


Jurij Wizbor hatte in der Erzählung „Frühstück mit Blick auf den Elbrus“ (1983) vor langer Zeit geschrieben: „Die zweite Scheidung. Mama, die einmal vollkommen von der Renovierung der Wohnung umgehauen war, sagte danach lange Zeit: „Dies war vor der Renovierung“ oder „Dies war schon nach der Renovierung“. Nunmehr wird alles, was ich weiter erleben werden, mit den Worten „dies war schon nach der zweiten Scheidung“ bezeichnet werden“.

Es scheint, dass sich das Leben in unserem Land im Bewusstsein der Bürger für lange in ein „bis zur militärischen Sonderoperation und nach der militärischen Sonderoperation“ aufgeteilt hat. Obgleich das „nach der militärischen Sonderoperation“ noch nicht der Fall ist. Genauer gesagt sei daher: „nach Beginn der militärischen Sonderoperation“.

Ein sehr schweres Jahr ist zu Ende gegangen. Obgleich auch kein Schaltjahr.

Kaum dass man COVID-19 abgewehrt hatte, die Sterblichkeit spürbar zurückzugehen begann, in Moskau gleich um 25 Prozent, die Menschen sich vorbereiteten, die in der Pandemie auf die lange Bank geschobene Nachfrage nach Waren, Dienstleistungen, Reisen und Urlaube zu befrieden… Und da brach auf einmal das gewaltige Donnern der Sonderoperation aus. Raketen, Geschosse, Panzer, Drohnen… Und dies alles nicht bei Manövern, sondern auf dem Schlachtfeld. Sowohl Opfer als auch Verletzte und Trauer…

Die Teilmobilmachung im Herbst hatte die Gesellschaft grundlegend durchgeschüttelt. Die Anzahl der Einberufenen entsprach nicht der Dimension der sich breitgemachten Besorgnis und der zunehmenden Empfindung einer Schutzlosigkeit der ganzen Gesellschaft. Die Ineffizienz der Mobilmachungspraktiken, die vom Präsidenten als ein nützlicher Anlass, die nichtfunktionierenden Knotenpunkte des Systems einzurichten, bezeichnet wurde, weckte das Misstrauen, dass wohl andere, nicht von der Gruppennervosität ermittelte Knotenpunkte wohl kaum exakter funktionieren. Der Panzer-Biathlon (ein Wettbewerb bei den internationalen Armee-Spielen, der vom russischen Verteidigungsministerium vor den Toren Moskaus ausgerichtet wird – Anmerkung der Redaktion) erwies sich auch wirklich nur als ein Spiel erwachsener Onkelchen, als ein Hobby von Rentnern und Liebhabern munterer Fernsehreportagen.

Die Schock-Chirurgie für die russische Wirtschaft, die auf eine Entfernung unserer Waren und Leistungen aus dem globalen Verkehr und den Lieferungsketten ausgerichtet ist, verbunden mit einer großangelegten „Kultur des Cancelns von Russland“ und hunderte westliche Unternehmen veranlasste, unseren Markt zu verlassen… All dies markierte den Anbruch einer neuen Realität. Nach der sich das gesamte Jahr über auch eine neue Normalität unter dem Namen „ein Leben ohne“ herausbildete. Ohne „Aeroflot“-Flüge ins Ausland, ohne internationalen Fußball, Eishockey, Basketball, ohne einen Kultur-, wissenschaftlichen und Studentenaustausch, ohne Netflix und Nescafé.

Die legalen Politiker scharrten sich um die Herrschenden, fingen an, öffentlich zu einer Absage der Wahlen aufzurufen, da es ja beschämend sei, sich aufgrund von Peanuts gegenseitig zu kritisieren, da wir im Hauptsächlichen einig sind! Wie einst der Lyriker Boris Sluzki irgendwie schrieb: „Nicht unterschieden hat sich das Jahr vom anderen Jahr, wie ein Hunne nicht vom anderen, und ein Gote nicht vom anderen Goten…“. Und weiter: „Die Jahre und die Monate und die Tage sind in schlechten Zeiten zusammengeklebt, vom Weg abgekommen, schämten sich, ballten sich zusammen und bildeten einen Klumpen. Und in jenem Klumpen sind sie“. Vielen ist solch ein geballtes Zusammengeklebtsein rechtens. Obgleich es scheint, dass es für das Land und die Gesellschaft schlecht ist, wenn die gesamte millionenfache Mannigfaltigkeit der Lebensprobleme und realen Alternativen bis auf eine Frage reduziert wird: „Wo waren Sie acht Jahre lang?“.

Für die Gesellschaft ist es gut, wenn dies alles nur eine Frage ist. Aber nicht die einzige…

Die nichtlegalen Politiker haben entweder im Ausland das Weite gesucht, wobei sie sich mit einem Schlage aus Politikern in einfache und langweilige Emigranten verwandelten, oder wurden zu Gefangenen. Ergo hat die Politik in Russland des Jahres 2022 aufgehört, in der Form zu existieren, wie sie uns in den letzten 30 Jahren zugänglich gewesen war und wie sie in unserer Verfassung beschrieben worden ist. Wozu dies letzten Endes führen wird, ist im Großen und Ganzen klar. Das haben wir bereits durchgemacht.

Das verstrichene Jahr hat unsere Vermutung aus dem vorangegangenen Jahr bestätigt, dass die Nabelschnurverbindung von Wladimir Putin mit der Hauptmasse des Volkes ihn zu einem uneingeschränkt handlungsfähigen macht. Er nutzt diese Legitimität in vollen Zügen aus. Das Kernelektorat Putins hat keine direkten Verluste aufgrund der Unmöglichkeit, Dollar von den eigenen Konten abzuheben, aufgrund der Unmöglichkeit, nicht mit „Aeroflot“ nach Europa zu fliegen und dort im Restaurant mit einer VISA-Karte zu bezahlen und für einen nahen Menschen ein Täschchen in einer Boutique der von unserem Markt verschwundenen Marke HERMES zu erwerben. Es hat sich ergeben, dass die Verärgerung und der Verdruss für diese Menschen entweder gänzlich unverständlich oder für ihre Lebensweise unwesentlich sind. Was man aber nicht von der Minderheit von zwanzig Prozent der Bevölkerung sagen kann. Sie sind wenige. Sie sind aber gebildet, geschäftlich aktiv, energisch und von der Lebensweise her international. Sie sieht man aber nicht als Betroffene an. Was nicht ganz gerecht ist. Schließlich haben sie keinem etwas Schlechtes angetan.

Doch die Überlegungen und das Gerede zu diesem Thema werden noch lange erfolgen, das gesamte verbliebene Leben. Da die Unterhaltungen über Gerechtigkeit ein beliebtes Genre in unseren Breiten sind.

Ich wünsche Ihnen, unseren lieben Lesern ein gutes neues Jahr! Gesundheit und Ausdauer! Sie sind uns, hoffe ich, für erfreulichere und optimistischere gemeinsame Vorhaben nützlich. Für das Wohl Russlands!