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Putin mit den Augen Berlins


 

Im Dezember ist im deutschen Gerhard-Hess-Verlag ein Buch erschienen, in dem über den Weg erzählt wird, den die russische Außenpolitik von Boris Jelzin bis Wladimir Putin zurückgelegt hat. Der Hauptfokus konzentriert sich auf die Persönlichkeit des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Anhand seiner Handlungen in der internationalen Arena wird die russische Außenpolitik demonstriert.

Im Januar gelangt das Buch in die Auslagen der Bücherläden Deutschlands. Und seine Präsentation erfolgt im März kommenden Jahres auf der Leipziger Buchmesse. Der Titel des Buches lautet: „Putin gestern, heute und morgen. Russland auf dem Weg zu den Top-Nationen der Welt“. Sein Autor ist der „NG“-Journalist Oleg Nikiforov.

Über Wladimir Putin sind nicht wenige Bücher verfasst worden. Die Persönlichkeit dieses außergewöhnlichen und widersprüchlichen internationalen Politikers zieht nach wie vor die Aufmerksamkeit sowohl von Journalisten als auch Schriftstellern und eines breiten Publikums in der ganzen Welt auf sich. Eine der Fragen, die die Leser auch heute bewegt, und dies nicht nur in Russland, besteht in Folgendem: Wie hat es sich ergeben, dass der wenig bekannte Oberstleutnant des sowjetischen Geheimdienstes auf den Gipfel der Macht gelangte und schon über 20 Jahre die Schicksale Russlands und der ganzen Welt bestimmt. Das Wichtigste in diesem Buch ist jedoch eine Analyse des Zusammenbruchs der unipolaren Welt, die nach der Liquidierung der Sowjetunion entstanden war, und der sich im Zusammenhang damit ergebenen Chancen für das postsowjetische Russland, in die Reihen der globalen internationalen Akteure zurückzukehren. Wie Swetlana Alexijewitsch, die Gewinnerin des Literatur-Nobelpreises von 2015, in diesem Zusammenhang schrieb, „ist Russland stets eine Vorahnung, immer ein Projekt, das nie bis zu Ende realisiert worden ist“.

Der Autor hat seine Darlegungen gerade mit diesen Worten begonnen. Einerseits musste er den deutschsprachigen Leser gewinnen, für den der Name der weißrussischen Schriftstellerin, die in russischer Sprache schreibt, vor allem mit dem „vielstimmigen Werk, das dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“, in einem Zusammenhang steht. So hatte die Schwedische Akademie die Vergabe des Nobelpreises an sie begründet. Andererseits, wenn man die Geschichte Russlands aus dem Blickwinkel der wichtigsten Wendepunkte, solcher wie der Smuta, der Zeit der Wirren (1598 bis 1613 – Anmerkung der Redaktion), der Oktoberrevolution von 1917, des Zweiten Weltkriegs und des Scheiterns der Perestroika Gorbatschows, bewertet, vermitteln diese Worte wirklich eine Charakteristik für den Weg, den das Land im Verlauf von Jahrhunderten zurücklegt.

Es besteht kein Zweifel daran, dass zwischen den Ereignissen der ausgehenden 1980er und beginnenden 1990er Jahre in der UdSSR und der Zeit der Wirren an der Wende des 16. zum 17. Jahrhunderts Parallelen bestehen. In der Smuta hatten unter den Bedingungen der staatlichen Instabilität das sich herausgebildete Vakuum an der Machtspitze Abenteurer unterschiedlichen Ranges konsequent ausgefüllt, solange nicht der Zufall die Romanows an die Macht brachte.

Putins Weg zum Gipfel der postsowjetischen Hierarchie in Russland stellt eine Kette von Zufälligkeiten dar. Ein Schlüsselmoment für den Beginn seines Aufstiegs war die Einladung seitens des damaligen Vorsitzenden des Leningrader Stadtsowjets Anatolij Sobtschak in seine Verwaltung. Damit aber diese Einladung erfolgte, war eine Empfehlung eines Sobtschak nahestehenden Menschen nötig, des Rektors der Leningrader Universität Stanislaw Merkurjew. Die Beziehungen Merkurjews und Putins, Merkurjews und des KGB sowie Merkurjews und Sobtschaks sind nie untersucht und nicht in der Presse erörtert worden. Jedoch hatten gerade sie eine entscheidende Rolle zu Beginn der Karriere Putins in der Stadtverwaltung von Leningrad gespielt. Vertreter des damaligen Umfelds von Sobtschak kann man auch heutzutage in der Umgebung von Putin finden. Es genügt, solche Namen wie (Dmitrij) Medwedjew, (Alexej) Kurdin und (Anatolij) Tschubais zu nennen. Interessanter ist aber die Abschlussetappe des Kampfes um den Platz des Rechtsnachfolgers von Jelzin. Der Autor stützt sich in seiner Untersuchung auf Zeugenaussagen von Teilnehmern dieses Kampfes, unter denen der einflussreiche Bankier Pjotr Awen und der Chef des persönlichen Wachdienstes von Präsident Jelzin, Alexander Korschakow, waren. Schließlich hatte es auch nicht wenige Anwärter für diesen Posten gegeben. Doch die tschetschenischen Ereignisse und die Entschlossenheit, mit der Putin die Aktionen der tschetschenischen Rebellen niederschlagen konnte, rückten gerade ihn an die erste Stelle unter den Kandidaten. Schließlich ging es in der Zeit des Überfalls von (Schamil) Bassajew auf Dagestan vom Wesen der Sache her um das Schicksal Russlands als Staat.

Man kann sagen, dass den heutigen Putin und die von ihm verfolgte Außenpolitik Russlands das Block-Denken des Westens und die sich daraus ergebende Politik einer Konfrontation mit dem neuen Russland, die sowohl die USA als auch die EU-Länder verfolgten, geschaffen haben. Der Autor ist sich sicher, dass Putin zu Beginn seines Weges zum Machtgipfel in Russland ein Liberaler gewesen sei. Dies hänge mit der Suche nach der wichtigsten Lebensidee nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Ideologie zusammen. Laut vorliegenden Umfragen jener Zeit hatten gerade zu Beginn der 1990er Jahre die meisten Bürger der damaligen Sowjetunion von einer Umgestaltung des Lebens im Land nach westlichen Vorbildern geträumt. Für die liberalen Bestrebungen Putins in jener Zeit sprechen nicht nur seine zwei Versuche, den KGB während der Tätigkeit in dieser Organisation nach der Rückkehr aus dem Einsatz in der DDR zu verlassen, sondern auch die Handlungen gegen das GKTschP (Staatskomitee für den Ausnahmezustand, das eine Gruppe konservativer und reaktionärer sowjetischer Funktionäre repräsentierte – Anmerkung der Redaktion) in der Zeit des Augustputsches von 1991. Wie Pjotr Awen seinerzeit anmerkte, „hatte die Umgebung Jelzins mit der Ernennung von Putin zuerst als Premierminister und dann als Nachfolger Jelzin anstelle eines phantastischen Nichtdemokraten einen undemokratischen Liberalen erhalten“.

Die Kandidatur Putins war, wie der Autor behauptet, in der Zeit der Jahre 1999 und 2000 von Oligarchen, der Sembojarschtschyna (der „Sieben-Bojaren-Herrschaft“, von Historikern verwendete Bezeichnung für die Regierung des russischen Staates aus sieben Bojaren in der Zeit der Wirren) unterstützt worden. Die Hauptrolle hatten dabei solche bekannten russischen Oligarchen wie Boris Beresowskij und Roman Abramowitsch gespielt, die die Präsidentschaftswahlkampagne Putins finanziert hatten, der einen gefährlichen Rivalen in Gestalt des Kommunisten-Führers Gennadij Sjuganow gehabt hatte. Es versteht sich, dass die Oligarchen darauf gesetzt hatten, dass Putin – ein wenig bekannter und unzureichend erfahrener Politiker – unweigerlich gezwungen sein werde, sich in der ersten Zeit an ihren Ratschlägen zu orientieren.

Am 30. Dezember 1999 veröffentlichte die „Nesawisimaya Gazeta“ den Artikel des Premierministers „Russland an der Jahrtausendwende“, in dem Wladimir Putin seine politischen Prioritäten skizzierte: „Patriotismus“, „Staatlichkeit“, „Etatismus“, „soziale Solidarität“ und ein „starker Staat“. Neue Revolutionen seien unzulässig, die sowjetische Erfahrungen dürfe man nicht unterschätzen. Aber man müsse sich auch des „gewaltigen Preises“ erinnern, „den die Gesellschaft, das Volk im Verlauf dieses sozialen Experiments gezahlt haben“. Für Russland lohne es sich, seinen Weg der Umgestaltungen anstelle „der Schemata aus westlichen Lehrbüchern“ zu suchen.

Natürlich kann man solch eine Kehrtwendung verstehen, indem man nur das Lebenscredo Putins analysiert hat. Anders gesagt: Man kann begreifen, wie er sich im Verlauf seines ganzen bewussten Lebens entwickelte. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass er sich noch zu Beginn seiner Karriere im Geheimdienst mit Werken von Alexander Solschenizyn vertraut gemacht hatte. Es muss betont werden, dass man die Werke dieses Literaturnobelpreisträgers von 1970 bereits Mitte der 1980er in Spezialbibliotheken, unter anderem im KGB, finden konnte. Gerade Solschenizyn, mit dem sich Putin seinerzeit persönlich unterhalten konnte, widmete ihm kurz vor seinem Ableben im Jahr 2007 solche Zeilen: „Putin bedeutet für Russland eine langsame und schrittweise Wiedergeburt“. Dabei sei Putin bestrebt, einer Konfrontation in der internationalen Arena aus dem Weg zu gehen. Es ist bekannt, dass er in der Anfangsphase der Führung des Landes sogar Möglichkeiten für einen Beitritt zur NATO und EU gesucht hatte.

Aber gerade die Enttäuschung über die Handlungen der Führung der Vereinigten Staaten, die den Zusammenbruch der UdSSR als einen Sieg im Kalten Krieg bewertet hatte, veranlasste Putin, sich an Europa zu wenden. In seiner Vorstellung hätte ein Bündnis Russlands und Europas eine Supermacht hervorbringen können, die imstande gewesen wäre, den USA Paroli zu bieten. Der Abtritt von Bundeskanzler Gerhard Schröder von der politischen Bühne Deutschlands und der Machtantritt der sich auf eine transatlantische Zusammenarbeit orientierenden Angela Merkel hatten jedoch diese Idee zu Grabe getragen und Moskau faktisch in eine Sackgasse getrieben. Ein Herauskommen aus dieser fing Putin an, durch die Etablierung neuer internationaler Bündnisse – der Eurasische Wirtschaftsunion, der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit und von BRICS – zu suchen.