Es wurde ein gewisser Paukenschlag, der da aus Moskau am Freitagmittag zu vernehmen war. Russlands Präsident Wladimir Putin war ins Außenministerium am Smolenskaja-Platz gekommen, womit er den Straßenverkehr auf dem Gartenring fast völlig lahmlegte. Für viele eine Überraschung, da Kremlsprecher Dmitrij Peskow nur wenige Minuten vorher bekanntgab, dass sich Putin mit der Führung des russischen Außenamtes treffen werde. Worum es konkret gehen werde, war jedoch von Peskow nicht zu erfahren. Freilich musste man diesbezüglich nicht lange warten, da das russische Staatsfernsehen nur wenig später eine Live-Übertragung vom Auftritt des Staatsoberhauptes begann. Und da wurde deutlich, dass der 71jährige vor allem zur Situation rund um den Ukraine-Konflikt sprechen will. Direkt vor Beginn der von der Schweiz organisierten Ukraine-Konferenz, die am Samstag und Sonntag in Bürgenstock stattfindet. Sowie parallel zum G-7-Gipfel in Italien, bei dem die politische Entscheidung getroffen wurde, einen großen Teil der Erlöse (Zinsen) aus den russischen Vermögenswerten, die im Westen aufgrund des Ukraine-Konfliktes auf Eis gelegt worden waren, Kiew zu übergeben.
Wladimir Putin sprach etwas mehr als eine Stunde, wobei er anfangs betonte, dass das letzte derartige Treffen Ende des Jahres 2021 erfolgte. Nun ging es ihm angesichts der sich seitdem vollzogenen Veränderungen und Entwicklungen in der Welt um eine Bewertung der aktuellen Situation und um die Aufgaben der russischen Diplomaten in diesem Zusammenhang. Viele Aussagen waren dabei keine Neuheiten, vor allem was die Gestaltung einer multipolaren Welt angeht. Diese wird von Russland und den ihm wohlgesinnten Ländern angestrebt. Andere bekannte Moskauer Narrative wie die von einer unteilbaren Sicherheit und der massiven Abhängigkeit der westeuropäischen Länder vom Willen und Gutdünken Washingtons waren gleichfalls zu vernehmen. Zum siebenten Mal, wie Beobachter betonten, beklagte sich das Staatsoberhaupt darüber, dass die NATO das Land hinters Licht geführt hätte und die Zusage hinsichtlich einer Nichterweiterung des Nordatlantik-Paktes gen Osten nicht eingehalten habe.
Den größten Teil seiner Rede widmete Wladimir Putin jedoch dem Ukraine-Konflikt. Dabei ging er auf dessen Ursachen ein, skizzierte seine Sicht auf die Ereignisse im Nachbarland seit dem Jahr 2013 und warf dem Westen vor, dass dieser Kiew ausnutze, um Russland eine Niederlage zuzufügen. Diese Pläne bezeichnete der Kremlchef als abenteuerliche, zumal sie zum Scheitern verurteilt seien. In diesem Zusammenhang machte er deutlich, dass Russland ein gewaltiges Arsenal an Nuklearwaffen habe.
Ja, die am 24. Februar 2022 begonnene sogenannte „militärische Sonderoperation“ in der Ukraine hat sich für viele im Land in die Länge gezogen. Am 20. Juni dauert sie bereits den 850. Tag. Sie hat nicht nur tausende Sanktionen des Westens für Eirichtungen, Unternehmen und Politiker Russlands nach sich gezogen, sie fordert erhebliche Anstrengungen des Staates, um die Kampfhandlungen in der Konfliktzone durchzuführen, um die Rüstungsindustrie anzukurbeln, um die Militärs und deren Angehörigen finanziell und materiell zu versorgen. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Opfern. Genaue Zahlen über Gefallene und Verwundete sind ein Staatsgeheimnis, obgleich aus unabhängigen Informationsquellen zu erfahren ist, dass diese Zahlen schon lange keine vier- und keine fünfstelligen mehr sind. Generell heißt es, dass jeder dritte Rubel der Staatsausgaben für die Kampfhandlungen und damit verbundenen Aktionen und Arbeiten ausgegeben wird. Am Freitag vorgelegte Zahlen des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts „Russian Field“ weisen aber aus, dass 71 Prozent der Befragten die „militärische Sonderoperation“ unterstützen. Obgleich auf die Frage, was sie davon halten, wenn Putin morgen ein Friedensabkommen mit der Ukraine unterzeichnet und die Kampfhandlungen seitens Russlands stoppt, 78 Prozent der Umfrageteilnehmer erklärten, dass sie solch einen Schritt unterstützen würden (17 Prozent sprachen sich gegen solch einen Gedanken aus).
Vor diesem Hintergrund wirkte es wie ein Paukenschlag, als Wladimir Putin sagte: „Wir unterbreiten heute noch einen konkreten, einen realen Friedensvorschlag. Wenn man in Kiew und in den westlichen Hauptstädten ihn wie auch früher ablehnen wird, so ist dies letzten Endes ihre Sache, ihre politische und moralische Verantwortung für die Fortsetzung des Blutvergießens“. Und bevor er diesen neuen Friedensvorschlag konkretisierte, machte er deutlich: „Es ist offensichtlich, die Realitäten auf dem Boden, an der Linie der Kampfhandlungen werden sich auch weiterhin nicht zugunsten des Kiewer Regimes verändern. Und die Bedingungen für den Beginn von Verhandlungen werden andere sein“, drohte er an. Der Kremlchef unterstrich bei der Erläuterung des Moskauer Friedensvorschlags, dass es um keinerlei zeitweiligen Waffenstillstand oder Feuereinstellung gehe, wie dies der Westen wolle. Es gehe auch nicht um ein Einfrieren des Konfliktes, sondern um dessen Beendigung. Weiter nannte Putin dann drei Bedingungen im Zusammenhang mit der Initiative. Kiew müsse einem vollkommenen Abzug seiner Truppen aus der Donezker und der Lugansker Volksrepublik sowie aus den Verwaltungsgebieten Cherson und Saporoschje zustimmen. Dabei präzisierte er, dass auch die Regionen der letzten beiden genannten Verwaltungsgebiete, die von Moskau nicht kontrolliert werden, von den ukrainischen Truppen verlassen werden müssten, zumal sie aus Moskauer Sicht und der geänderten Landesverfassung unverrückbar Teile der Russischen Föderation seien. Als weitere Bedingung formulierte Putin, dass die Ukraine ein neutrales, blockfreies und kernwaffenfreies Land sein müsse. Überdies müsse eine Demilitarisierung und Entnazifizierung des Nachbarlandes vorgenommen werde. Unter Verweis auf in Istanbul im Jahr 2022 erzielte Vereinbarungen plädierte der Präsident für eine Gewährleistung der Rechte, Freiheiten und Interessen der russischsprachigen Bürger in der Ukraine. Und letztlich meinte dann Putin: „Natürlich bedeutet dies auch ein Aufheben aller westlichen Sanktionen gegen Russland. Ich denke, dass Russland eine Variante vorschlägt, die erlauben wird, den Krieg in der Ukraine zu beenden“.
Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg verwarf die genannten Bedingungen. „Dies ist kein Friedensvorschlag“, sagte der Stoltenberg am Freitag zum Abschluss eines Verteidigungsministertreffens in Brüssel. „Dies ist ein Vorschlag für mehr Aggression, mehr Besatzung“. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin erklärte, dass Putin der Ukraine keine Bedingungen für einen Frieden diktieren könne. Aus Kiew war vom ukrainischen Präsidentenberater Mychailo Podoljak im Onlinedienst X nachzulesen, dass Putin „Augenwischerei“ betreibe und es seitens Russlands keine wirklichen Friedensvorschläge und keinen Wunsch, die Kämpfe zu beenden, gebe. Präsident Wladimir Selenskij betonte in Italien, am Rande des G-7-Gipfels gar, dass es sich bei den Putin-Bedingungen um ein Ultimatum handele. Dem sei nicht zu trauen.
Vor diesem Hintergrund waren nur wenig billigende Reaktionen zu vernehmen. Sahra Wagenknecht forderte zum Beispiel Offenheit für die vom russischen Präsidenten genannten Bedingungen für eine Friedenslösung in der Ukraine. „Die Ukraine und der Westen sollten die historischen Fehler vermeiden, die Signale aus Moskau brüsk als unrealistische Maximalforderungen zurückzuweisen“, sagte die Vorsitzende des Bündnisses Sahra Wagenknecht. „Stattdessen sollte Putins Initiative mit der notwendigen Ernsthaftigkeit aufgegriffen und als Ausgangspunkt für Verhandlungen begriffen werden“. In diesem Sinne äußerte sich gleichfalls Valentina Matwijenko, die Vorsitzende des russischen Oberhauses, des Föderationsrates. Sie betonte: „Putin hat den einzig möglichen Weg zur Beendigung des Konfliktes in der Ukraine vorgestellt. Er schafft Voraussetzungen für ein Wegkommen von einer außerordentlich gefährlichen Eskalierung und zur Gestaltung einer für alle gemeinsamen unteilbaren Sicherheit. Sowohl im eurasischen Raum als auch insgesamt in der Welt“.
Wladimir Putin hat wieder einmal eine Situation geschaffen, in der er am Drücker ist und seine Widersacher und die Widersacher Russlands einem Zugzwang aussetzt. Die kommenden Tage und Wochen werden also zeigen, ob der Paukenschlag aus Moskau verpufft oder Wirkung erzielt.