Der Druck auf Wladimir Putin nimmt zu. Die bisher sieben Monate Sanktions- und außenpolitisches Pressing des Westens sind durch neue Quellen und Akteure ergänzt worden. So war Russlands Präsident in Samarkand, beim Gipfeltreffen der Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit gezwungen gewesen, die Sorgen hinsichtlich der Frage über die militärische Sonderoperation seitens der Spitzenvertreter Chinas und Indiens anzuerkennen. Während sich Xi Jinping einer öffentlichen Bekundung seiner „Besorgnisse“ enthielt, erklärte Indiens Premier Narendra Modi, dass die „heutige Ära keine Ära von Kriegen ist“. Als Antwort gestand Putin ein, dass er mit Modi die Lage der Dinge in der Ukraine erörtert hätte. „Ich weiß um Ihre Position hinsichtlich des Konflikts in der Ukraine, um Ihre Besorgnisse, die Sie ständigen äußern. Wir werden alles dafür tun, damit dies alles so schnell wie möglich beendet wird. Nur hat leider die Gegenseite, die Führung der Ukraine, eine Ablehnung des Verhandlungsprozesses erklärt. Sie erklärte, dass sie ihre Ziele auf militärischem Wege erreichen wolle, wie sie sagen – „auf dem Schlachtfeld“. Dennoch aber werden wir Sie stets auf dem Laufenden dessen halten, was sich dort ereignet“.
Vor dem Hintergrund der „Umgruppierung der russischen Truppen“ bei Charkow (ein Euphemismus, der im Pressedienst des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation aus der Taufe gehoben wurde) explodierten russische kremltreue Telegram-Blogger buchstäblich in Bezug auf den Radikalismus der Forderungen. Sie begannen, dem Verteidigungsministerium und Generalstab alle Sünden vorzuwerfen und vom Obersten Oberkommandierenden entschiedene Handlungen an den Fronten der militärischen Sonderoperation zu fordern, wobei sie dazu aufriefen, auf keinen Fall „einen Rückzieher zu machen“. Ein anderes Segment der Hurra-Patrioten begann da sofort auch, vom Präsidenten zu verlangen, eine allgemeine Mobilmachung auszurufen und bis zu eine Millionen Menschen unter Waffen zu stellen.
Ramsan Kadyrow schlug den Chefs der russischen Regionen vor, überhaupt gar nicht erst auf eine generelle Mobilmachung zu warten und eine Selbstmobilmachung zu organisieren und jeweils eintausend Menschen zur militärischen Sonderoperation zu entsenden. Zumindest acht Oberhäupter von Subjekten der Russischen Föderation haben die Initiative des Oberhaupts der russischen Teilrepublik Tschetschenien unterstützt. Der Gouverneur des Verwaltungsgebietes Kursk, Roman Starowoit, erklärte, dass es bereits 800 Freiwillige losgeschickt hätte. Und das Oberhaupt der seit 2014 zu Russland gehörenden Krim, Sergej Aksjonow, informierte über 1200 Freiwillige, die bereits an der militärischen Sonderoperation teilnehmen würden, und über die Bereitschaft, noch zwei Bataillone aufzustellen.
Viel Informationsrummel hat auch ein Video ausgelöst, auf dem ein Agitator, der dazu aufruft, an die Front zu gehen, vor Strafgefangenen auftritt. Die danach folgenden Video-Berichte „realer Kerle“, die an die „Kollegen“ aus den Strafvollzugseinrichtungen gerichtet sind, sahen wie eine durchdachte soziale Werbung für eine Einberufung von wehrpflichtigen bzw. für einen Militäreinsatz geeigneter Gruppen aus, die für Friedenszeiten freilich nichttraditionelle gewesen wären.
Nach sieben Monaten nach Beginn der international umstrittenen militärischen Sonderoperation in der Ukraine ist Putin in eine Situation geraten, in der man gleichzeitig prinzipielle Entscheidungen treffen muss, die einerseits die internationale und außenwirtschaftliche Lage Russlands in der Dynamik betreffen, andererseits aber auf die Herausforderungen politischer Art reagieren, die unter anderem auch die Widersprüche innerhalb der Eliten reflektieren. Die Bildung regionaler Bataillone als eine Kompensierung für den universellen gesamtrussischen Appell birgt Risiken künftiger politischer Kataklysmen und Konfrontationen in sich.
Die bewaffneten Einheiten des Verteidigungsministeriums, der Russischen Garde, von Kadyrow und (Jewgenij) Prigoschin (der als ein Vertrauter Putins gilt und hinter der privaten Söldnerfirma „Wagner“ stehen soll – Anmerkung der Redaktion), aus den 85 Subjekten der Russischen Föderation, vom Inlandsgeheimdienst FSB und Innenministerium stellen bei einer Schwächung der Zentralgewalt im Land zweifellos ein Potenzial für eine Konfrontation von Institutionen und Ämtern sowie der Bürger dar.
Es versteht sich, Wladimir Putin begreift deutlich diese Risiken. Zu lange schon befindet er sich an der Macht, um sie zu ignorieren. Die bewaffnete Bevölkerung löst stets bei den Offiziellen Besorgnis aus. Und die Übergabe der Rechte zur Kontrolle des Waffenumlaufs an die Institution des Putin persönlich ergebenen Chefs der Russischen Garde, von Viktor Solotow, wurde seinerzeit gerade so von Analytikern bewertet.
Dabei hat Putin den Kritikern des Verteidigungsministeriums und des Generalstabs ein Signal gesandt, indem er in Samarkand erklärte, dass „der Plan keiner Korrektur unterliegen wird. Der Generalstab trifft im Zuge der Operation operative Entscheidungen“.
Heute sind wir Zeugen des Offenbarens eines überaus wichtigen politischen Wesenszuges des Präsidenten – eines Konservatismus in Sachen von Personalfragen.
Natürlich, ein Konservatismus in Sachen von Personalfragen ist auf seine Art und Weise gut. Besonders in Zeiten eines Aufblühens und Aufschwungs. Eine andere Sache sind Zeiten eines Rückgangs, einer Isolation, Konfrontation, eines Kampfes und der militärischen Sonderoperation. Denn eine Rezession, die in eine Depression übergeht, ein In-die-Länge-ziehen der Termine für den Abschluss der Sonderoperation „laut Plan“, die Schwierigkeiten bei der „Wende nach Osten“ und die Zunahme der Besorgnis seitens Chinas und Indiens werden zweifellos die Praxis des Anpassens der Gesellschaft und der Wirtschaft Russlands an die neue Realität beeinflussen.
Etwas verändert sich auch im nächsten Umfeld von Russland. Kasachstans Präsident Qassym-Schomart Tokajew lässt nicht einfach so die Hauptstadt aus Nur-Sultan in Astana umbenennen (wie man in der UdSSR die Stadt Nabereschnyje Tschelny in Breschnew umbenannt hatte), sondern verankert in der Verfassung auch das Recht des Präsidenten auf eine Kadenz, auf eine Amtszeit als Staatsoberhaupt. Dies sind unbedingt in gleichem Maße Gesten innen- und außenpolitischer Art. Und die Adressaten sind sowohl Washington und Brüssel als auch Moskau. Wie hatte es doch geheißen: Ich habe mit der Sowjetmacht stilistische/ästhetische Differenzen. Die politischen Schritte Tokajews sind zweifellos auch eine spezifische Form von Druck auf Wladimir Putin. Und zusammen mit der Erklärung von Xi Jinping in Samarkand über die Bereitschaft, Astana Garantien für die territoriale Integrität zu gewähren, kann man von einer durchaus verständlichen Wende Kasachstans in Richtung neuer strategischer Orientierungspunkte sprechen.
Um würdig und qualitätsgerecht auf diese Herausforderungen und den Druck zu antworten, muss Wladimir Putin eine maximale Fähigkeit zur erfolgreichen Suche nach nicht offensichtlichen, dabei aber einzig richtigen Entscheidungen an den Tag legen. Davon hängt das Schicksal des Landes ab. Und dabei des nächsten…