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Rechte Radikale drohen der Russischen orthodoxen Kirche „Säuberungen“ an


Die Russische orthodoxe Kirche hat schwierige Beziehungen mit der „christlich-orthodoxen Öffentlichkeit“. Mit den weltlichen Liberalen ist alles klar. Dies ist ein offener Opponent. Mit der rechten Opposition ist es aber weitaus komplizierter. Sie demonstriert einmal eine betonte Solidarität mit der Meinung der Kirchenführung, und mal stürzt sie sich mit solch einer scharfen Kritik, von der nicht einmal die Liberalen geträumt haben, auf die Kirchenhierarchen.

In der Ära vor COVID-19 demonstrierte die Führung der Russischen orthodoxen Kirche mit Hilfe von ihr kontrollierter rechtsradikaler Gruppierungen den Herrschenden ihren Einfluss. Einer der führenden Botschafter der Kirche an der national-patriotischen Flanke war der Erzpriester Dmitrij Smirnow gewesen (er verstarb im Jahr 2020). Als Leiter der Patriarchen-Kommission für Familienangelegenheiten arbeitete er mit Aktivisten, die sich um die Familienpolitik und um Demografie-Fragen Sorgen machten. Ihm gelang es, recht erfolgreich die Situation zu dirigieren und von den gesellschaftlich aktiven Vertretern die für die Kirche nötigen Ergebnisse zu erzielen. Mittels aller möglichen Vereinigungen aus christlich-orthodoxen Eltern sowie kinderreichen Müttern und Vätern lobbyierte der Geistliche viele für die Kirche wichtige Gesetzesinitiativen. Unter anderem eine Verschärfung der Gesetzgebung über Aborte (Schwangerschaftsabbrüche) und unterschiedliche staatliche Maßnahmen zur Unterstützung von Eltern mit Kindern und zur Unterbringung von Waisenkindern in Familien. Als Smirnow verstarb, „riss die große Kette“ jedoch ab, die die antijuvenile Gemeinschaft mit der Russischen orthodoxen Kirche verband. Das, was faktisch handgesteuert wurde, erhielt freien Spielraum. Und die neue Generation synodaler Beamter vermochte sie schon nicht mehr zu stoppen.

Die Veränderungen waren rasante, COVID-19 beschleunigte sie. Bereits bei den Protesten gegen die QR-Codes hatten die kirchennahen Bewegungen in der Art „Sorok Sorokow“ (in Anspielung auf den russischen Phraseologismus, der ursprünglich die Gesamtheit der Moskauer Kirchen bedeutete – Anmerkung der Redaktion) und „Immunantwort“ ihr Publikum auf zehntausende Menschen erweitert. Und der nunmehrige Protest gegen die staatliche Erfassung biometrischer Angaben (Präsident Wladimir Putin unterzeichnete am 30. Dezember 2022 ein neues Gesetz, in dessen Rahmen Russlands Bürger eigenständig ihre biometrischen Daten in ein einheitliches System eingeben können – Anmerkung der Redaktion) und gegen „eine Verlangsamung des Tempos der Sonderoperation“ vereint dank dem Internet bereits hunderttausende Teilnehmer. Ressourcen in der Art der russischen Nachrichtenagentur „Katjuscha“, des Portals „Iwan-Tee“ oder des Telegram-Kanals „Lasst uns in Ruhe“ von Alexandra Maschkowa-Blagich waren lange Zeit außerhalb des Sichtfeldes sowohl der Kirchenhierarchen als auch der kirchlichen Intellektuellen, die nach alter Manier an der „Stumpfsinnigkeit“ des Fernsehkanals „Spas“ (deutsch: „Der Erlöser“) und am stalinistischen Flair der Internetseite der „Russischen Volkslinie“ herumnörgelte. Jetzt hat sich aber herausgestellt, dass, während die in die Jahre gekommenen Patrioten einfach Jahr ein Jahr aus ihre Rubriken mit Beiträgen bedienen und ewig nach Sponsoren suchen, die rechten Radikalen der neuen Generation in der Lage sind, das Volk auf die Straßen zu bringen. Wobei sie offen herumprotzen, dass sie bald „mehr Menschen als Nawalny auf die Plätze bringen werden“. Und mit dem Geld haben sie keine Probleme. Es gibt sowohl Sponsoren aus den Reihen der Oligarchen als auch ein funktionierendes Crowdfunding-System. Bis zum 1. März 2022 gab es auch die eigene Plattform für Online-Abstimmungen und das Verfassen von Petitionen an die Machtorgane „CitizenGO“ – ein amerikanisches Projekt, das rechtsradikale Pendant zu Change.org.

Verändert hat sich nicht nur der Maßstab. Transformiert hat sich auch die Message der rechten Opposition. Im Unterschied zu den christlich-orthodoxen Patrioten der alten Formation assoziieren sich die neuen Rechten nicht direkt mit der Russischen orthodoxen Kirchen und nicht einmal mit Russland. In einer Reihe von Fällen sagen sie, dass CitizenGO eine „internationale katholische Plattform“ sei. Ihre Vertreter tauchen regelmäßig auf kirchlichen gesellschaftlichen und Medienplattformen auf, demonstrieren dabei auch ihre Unabhängigkeit von der Patriarchie und einen oppositionellen Charakter gegenüber der russischen Staatsgewalt. Dies sind schon ganz und gar nicht jene „Kardinalsgardisten“, die uns aus den 1990ern und Nulljahren bekannt sind, sondern eine gewisse neue entstehende „rechtskonservative Internationale“ ohne eine ersichtlich Führung, mit einer komplizierten Struktur und mit progressiven Technologien zur Führung der Massen.

Eine schillernde Figur in dieser „Internationale“ ist die Bloggerin Alexandra Maschkowa-Blagich, bis vor jüngster Zeit Koordinatorin von CitizenGO in Russland. Zusammen mit ihrem Companion Pawel Parfentjew, dem Vorsitzenden der internationalen gesellschaftlichen Organisation „Für die Rechte der Familie“, galt Maschkowa eine gewisse Zeit lang als ein Mitglied des gesellschaftlichen Rates bei der Patriarchen-Kommission für Familienangelegenheiten. Ihre Texte und Interviews sind auf unterschiedlichen christlich-orthodoxen Ressourcen einschließlich der „Russischen Volkslinie“ und Pravoslavie.ru anzutreffen. In den Jahren 2020-2021 moderierte sie die Sendung „Lasst uns in Ruhe“ auf dem Fernsehkanal „Zargrad“. Jetzt sammelt Maschkowa über die Telegram-Kanäle „Lasst uns in Ruhe“ und „Immunantwort“ tagtäglich Mittel sowohl für Ausrüstungen für Militärs als auch für den Erwerb von Häusern für kinderreiche Mütter sowie für Anwälte, die mit Fällen der „juvenilen Justiz“ beschäftigt sind. Sie plädiert gegen jegliche Einschränkung der Elternrechte seitens des Staates, gegen eine „Zwangsvakzinierung“ sowie den berüchtigten Gesetzentwurf über Gewalt in der Familie und propagiert, dass Kinder aus den staatlichen Schulen auf eine Ausbildung in der Familie umgestellt werden.

Vor zwanzig Jahren hatte der bereits verstorbene Oberpriester Wsewolod Tschaplin in privaten Gesprächen gesagt, dass solche Menschen die Kirche brauche, um dem Staat „unsere Raubtierzähne“ zu zeigen. Jetzt aber hat die „Raubtierzähne“ der rechten Aktivisten selbst Kirche zu sehen bekommen, die die „neuen Rechten“ von den „Verrätern in den Priesterröcken“, von der „fünften Kolonne“ „befreien“ wollen. Unter Losungen eines Kampfes für die kirchlichen Werte haben sich Maschkowa-Blagich und ihre Anhänger einer Säuberung des kirchlichen Umfeldes von den Verfechtern einer juvenilen Justiz angenommen.

So ist im November-Dezember des vergangenen Jahres zu einem der Objekte der Kritik seitens Maschkowa-Blagich und ihrer Mitstreiter die Familie des Geistlichen Alexander Djagilew, des Vorsitzenden der Kommission für Familienfragen sowie für den Schutz der Mutterschaft und der Kindheit der Sankt-Petersburger Eparchie (Diözese) der Russischen orthodoxen Kirche, geworden. Als Anlass für die Kampagne gegen die Familie des Klerikers diente die Teilnahme seiner Gattin, der Juristin für Familienrecht Ljubow Djagilewa, an einen Prozess zur Frage nach der Wiederherstellung der Elternrechte von Olesja Romanzewa, einer Einwohnerin des Verwaltungsgebietes Kaliningrad.

Olesja ist die biologische Mutter von zehn Kindern. Hinsichtlich der zwei ältesten wurden ihr im Jahr 2005 die Elternrechte entzogen. Die Kinder wurden adoptiert. Im Jahr 2019 wurden auf Antrag der Mutter die fünf ältesten Kinder in eine soziale Einrichtung eingewiesen, und der dreijährige Sohn und zwei neugeborene Mädchen – in ein Kinderheim. Im Jahr 2020 wurden die drei jüngsten Kinder von Pflegeeltern zur weiteren Erziehung aufgenommen.

Im August des Jahres 2021 wandte sich die Mutter mit Unterstützung „christlich-orthodoxer Freiwilliger“ an ein Gericht forderte Treffen mit den jüngsten Kindern eine Rückführung der älteren Kinder nach Hause. Um das Vorhandensein von Wohnbedingungen Romanzewas zu bestätigen, organisierte Maschkowa-Blagich über ihre Telegram-Kanäle die Sammlung von Mitteln „für den Erwerb eines Hauses für Mutter Olesja“. Ein Haus ist gekauft worden, einige Kinder sind an Romanzewa zurückgegeben worden.

Die Familie der Iwanows, die die aufgenommenen Zwillingsmädchen ab einem Alter von sieben Monaten erzogen hatte, verweigerte Romanzewa Treffen mit den Mädchen, da sie diese Situation für eine gefährliche für die Kinder hielt, und forderte auf dem Gerichtswege ein psychologisches Gutachten. Die Juristin Djagilewa trat auf der Seite der Pflegeeltern und nicht der biologischen Mutter auf, da Romanzewa gemäß den Materialien des Falls angeblich Persönlichkeitsstörungen aufweise und sich in der Vergangenheit nicht um eines der Kinder auf nötige Art und Weise gekümmert hatte. Sie und einer ihrer Lebensgefährten-Beischläfer waren aufgrund des Schlagens der älteren Kinder verurteilt worden. Außerdem habe Romanzewa freiwillig Kinder in soziale Einrichtungen und nicht „unter dem Druck der Vormundschaftsbehörden“, wie Maschkowa-Blagich und ihre Anhänger behaupten, gegeben. Die jüngsten Mädchen haben die biologische Mutter seit dem ersten Lebensmonat nicht gesehen. Die Trennung mit ihnen füge nach Meinung der Iwanows den Kindern ein kolossales Trauma zu. Und ohne eine Beurteilung des schädlichen Einflusses auf die Kinder mittels einer psychologisch-pädagogischen Begutachtung dürfe man keine Entscheidung über Begegnungen mit der Mutter oder über eine Rückgabe der Kinder an sie treffen.

Der spektakuläre Fall der kleinen Kinder aus Kaliningrad hat die Kirchengemeinschaft gespalten. Maschkowa-Blagich und ihre Mitstreiter werfen Djagilewa und gleichzeitig auch deren Gatten, einen Geistlichen, ein „Abweichen von der Orthodoxie“, einen „Widerstand gegen die traditionellen Werte“, der „Trennung einer Mutter von den Kindern“ und eine „Verteidigung der juvenilen Justiz“ vor. Die Seiten von Djagilewa in den sozialen Netzwerken werden systematisch mit Beschimpfungen und Beleidigungen heimgesucht. Die Kämpfer gegen eine „juvenile Justiz“ beschweren sich über die Djagilews in der Patriarchen-Kommission für Familienfragen und in der Sankt-Petersburger Metropolie, wobei sie als „Feinde der Familie, die sich in der Russischen orthodoxen Kirche eingenistet haben“, bezeichnet werden.

Nach Aussagen von Djagilewa ist ein Schutz der Familie in diesem Fall eine Verteidigung der Iwanows und ihrer Pflegetöchter vor unbedachten Handlungen dritter Erwachsener und einem Manipulieren von außen her. Für die Familie der Iwanows und ihre Juristin hat sich bereits der Erzbischof von Kaliningrad und Baltijsk Seraphim (Melkonjan) eingesetzt. „Mit der Familie der Iwanows bin ich persönlich bekannt, ich kenne die Situation von innen heraus“, teilte er der Autorin des vorliegenden Beitrags mit. „Diese Familie hat die Heldentat auf sich genommen, sich um Kinder zu sorgen und sie zu erziehen, die von ihrer biologischen Mama der Willkür des Schicksals ausgeliefert worden waren. Die Mutter erinnerte sich erst daran, dass sie Kinder hat, als irgendeine gesellschaftliche Organisation, meines Erachtens, „Iwan-Tee“ die Aufmerksamkeit auf diese Situation gelenkt hatte. Leider haben diese und eine Reihe anderer gesellschaftlicher Organisationen, die die biologische Mutter unterstützen, aus den Kindern einen Anlass für eine eigene PR-Aktion gemacht. Die Interessen der Kinder stehen nicht an erster Stelle, wenn sie überhaupt eine Bedeutung für die Mutter ohne die Unterstützung dieser Organisationen haben“.

Nach Meinung des Erzbischofs würden Maschkowa-Blagich und ihre Mitstreiter die christlich-orthodoxe Lehre von der Familie pervertieren, wobei man die Rechte der biologischen Mutter verabsolutiere und vorschlage, das zu „vergessen“, dass sie sich nicht um die Kinder gekümmert und sie geschlagen hatte: „Die Orthodoxie ist keine Archaik, sondern eine gesunde Konservativität. Den Mythos, dass die Kirche angeblich das Recht, Kinder zu schlagen, verteidige, verbreiten die Massenmedien und Organisationen, die eine bestimmte Ausrichtung besitze“. Die biologische Mutter zum Schaden der Interessen der Kinder zu rechtfertigen, ist verbrecherisch: „Es gibt die Erziehung. Und es gibt ein Schikanieren. Wenn ein Elternteil ein Kind mit Liebe strafte, so wird er selbst danach mit ihm weinen, sich dies zu Herzen nehmen. Man muss einem Menschen stets eine Chance zur Besserung geben. Aber nicht alle begreifen diese Möglichkeit als eine Chance und beginnen, diese zu missbrauchen“. Hinsichtlich von „Immunantwort“, „Lasst uns in Ruhe“ und CitizenGO ist die Position von Seraphim eindeutig: „Diese Bewegungen geben aus, dass sie eine Unterstützung der orthodoxen Kirche erhalten würden. Aber ich kenne nicht eine einzige orthodoxe Kirchenorganisation, die sie unterstützen würde. Zumindest gibt es im Verwaltungsgebiet Kaliningrad ganz bestimmt keine solchen“.

Der Vorsitzende der Patriarchen-Kommission für Fragen der Familie sowie des Schutzes der Mutterschaft und Kindheit, Erzpriester Theodor Lukjanow hat gleichfalls der Autorin des vorliegenden Beitrages bestätigt, dass er entgegen den Mutmaßungen nicht mit Maschkowa-Blagich arbeite: „Zu unserer Kommission, aber auch zur Expertengemeinschaft, die regelmäßig mit der Kommission arbeitet, gehören keine Vertreter der Bewegungen „Immunantwort“ und CitizenGo. Irgendeine Zusammenarbeit mit ihnen wird nicht vorgenommen“.

Professor Leonid Poljakow von der Moskauer Hochschule für Wirtschaftswissenschaften und Mitglied des Rates für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und für Menschenrechte beim Präsidenten der Russischen Föderation betont, dass Maschkowa-Blagich, Parfentjew und die Gemeinschaften, die sich um die Plattform CitizenGO etabliert haben, „erfolgreich an den Trends der russischen Politik parasitieren“. Dabei „ist ihr Begreifen der traditionellen Werte in größerem Maße ein amerikanisches denn ein russisches“. „De facto sind sie typische amerikanische rechte Libertarier“, sagt Poljakow. „Von daher ihr Sozial-Darwinismus, die prinzipielle oppositionelle Einstellung zum Staat, eine Verabsolutierung der Rechte biologischer Eltern und ein radikales Anti-Vaxxertum“. „Das deklarierte Bündnis der Russischen orthodoxen Kirche mit diesen Bewegungen ist natürlich Nonsens. Auf der Plattform von CitizenGO sind Petitionen antirussischer Ausrichtung gepostet worden. Diese Organisation hat offen erklärt, dass sie „den russischen Einmarsch in die Ukraine verurteilt“. Und mit ihnen jegliche Angelegenheiten zu haben, ist für einen normalen russischen Staatsbürger unmöglich“, meint der Experte.