Die Abhaltung von Referenda über einen Beitritt der von Moskau kontrollierten Territorien der Ukraine zu Russland sieht praktisch wie eine unumgängliche aus. Der Donbass, das am Schwarzen Meer gelegene Gebiet – das Verwaltungsgebiet Cherson und beinahe das gesamte Verwaltungsgebiet Saporoschje und möglicherweise ein Teil von Sloboschantschina, des Verwaltungsgebietes Charkow – durch eine Willensbekundung des Volkes werden die Beziehungen mit Kiew abbrechen und dem Moskauer Kreml die Treue schwören. Womit sie das Versprechen von Wladimir Putin erfüllen, wonach nur das Volk der Ukraine über sein Schicksal entscheiden könne. Wahrscheinlich um einige militärische und politische Risiken zu kupieren, wird man dies ganz kurz, ein, zwei Wochen vorher verkünden.
Solche Abstimmungen durchzuführen, erlauben die Ergebnisse der russischen militärischen Sonderoperation in der Ukraine, die bereits den 154. Tag andauert. Mögen sie vorerst auch unzureichend sein, um den gesamten russischen südöstlichen Bogen der Ukraine – Noworossia – in den Bestand Russlands zu inkorporieren. Augenscheinlich werden von Plebisziten unberührt die zweite ukrainische Hauptstadt Charkow, die Stadt Saporoschje, das einstige Dnepropetrowsk (heute: Dnepr), Nikolajew, Odessa und möglicherweise ein Teil der Donezker Volksrepublik bleiben. Dies ist die nächste Etappe, deren Erfolg nicht nur vom Verlauf der Kampfhandlungen abhängt, sondern auch von der Etablierung eines attraktiven sozial-ökonomischen Modells auf den bereits besetzten Territorien. Eine schnelle Wiederherstellung zumindest eines relativen wirtschaftlichen Wohlstands (im Vergleich zur Ukraine), eine Anhebung des Lebensniveaus und die Gewährleistung der Sicherheit – dazu ist Moskau imstande. Mit der Mentalität der Menschen ergeben sich aber unlösbare Probleme. Viele derjenigen, die nicht unter der Herrschaft Moskaus leben wollen, haben die von der Russischen Föderation eingenommenen (im offiziellen Kiewer Sprachgebrauch: okkupierten – Anmerkung der Redaktion) Territorien verlassen, indem sie sich in den Westen begeben haben.
Dies bedeutet nicht, dass überhaupt keine Komplikationen mit den Menschen entstehen. Sie gibt es bereits. In den Verwaltungsgebieten Cherson und Saporoschje zeichneten Einheimische in den ersten Tagen der sogenannten Sonderoperationen Clips mit einer genauso obszönen Lexik in Bezug auf die russischen Truppen wie auch in den sogenannten proukrainischen Regionen auf. Russische Panzer hat scheinbar keiner mit Blumen empfangen (obgleich das russische Staatsfernsehen auch mit solchen Bildern aufzuwarten wusste – Anmerkung der Redaktion). Jetzt hat man sich natürlich daran gewöhnt. Die proukrainischen Aktivisten sind plattgemacht worden. Und die prorussischen Offiziellen tun alles, um zu zeigen: Russland werde hier für lange sein. Und dies könne für alle von Vorteil sein. Das gelingt mehr oder weniger erfolgreich. Aber solch einen passionarischen Charakter wie es im Jahr 2014 auf der Krim und im Donbass der Fall gewesen war, wird es da niemals geben.
Man kann viel über juristische Nuancen des Krim- und besonders des Donbass-Plebiszites streiten. Politisch reflektierten sie den Willen des in diesen Regionen lebenden Volkes. An die anstehenden Referenda in den Verwaltungsgebieten Cherson und Saporoschje wird es neben juristischen Fragen auch politische geben. Wenn die Ukraine morgen dorthin zurückkehren würde, würden sich die Ergebnisse als entgegengesetzte erweisen. Nicht, weil da irgendwer an der Anzahl der Stimmen herummanipuliert, sondern weil sich die konformistische Mehrheit so wirklich äußern wird. Für die Einwohner der Pufferzone des Wilden Feldes aus historischer Sicht ist dies ein normales Verhalten.
Allerdings hatten die Referenda früher nur der Aufgabe einer Gewährleistung der Legitimität gedient. Heute braucht Russland nach dem Bruch mit dem Westen keine solche Anerkennung. Es gibt so viele Sanktionen, dass es nicht (mehr) schlimm ist. Der Kreml veranstaltet die Volksabstimmung unter dem Vorwand einer moralischen Entscheidung. Sie soll die einfachen Menschen von dem „kannibalischen volksfeindlichen Joch Kiews“ befreien. Daher ist heute nicht die Meinung des Westens wichtig, sondern die Suche nach einer delikaten, für die Landesbevölkerung aber offensichtlichen moralischen Begründung der eigenen Handlungen. Unmoralisch war es, untätig zu sein. Dies ist eine Antwort auf die Frage, warum Putin die Sonderoperation begonnen hat. Man konnte sich die Leiden der Menschen nicht mehr ansehen, an denen sich das „volksfeindliche“ und das „antihistorische“ Regime von Wladimir Selenskij verging.
Die russische Sonderoperation in der Ukraine wird (wahrscheinlich) zu einer Neuziehung der Grenzen führen. Und dies wird faktisch das Ende der Welt von Jalta und Potsdam bedeuten. Und wenn es jene Welt nicht gibt, wird es auch die Grenzen jener Welt nicht mehr geben. Fragen Sie in Jugoslawien nach! Putin hat beschlossen, die geopolitische Situation rund um die Krim zu verbessern, womit er sie gleichzeitig für die Ukraine verschlechtert, da sie aus der Sicht des Kremls zu einem Anti-Russland geworden ist.