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Rentner sollen die weißrussische Industrie retten


Die weißrussische Regierung hat einen Komplex von Maßnahmen zur Umsetzung der Konzeption für die staatliche Personalpolitik Weißrusslands bis zum Jahr 2030 bestätigt. Jedem Ministerium sind entsprechende Anweisungen erteilt worden. Alexander Lukaschenko selbst schlägt sozusagen Alarm, indem er den Mangel an Arbeitskräften in den für das Land wichtigsten Unternehmen betont. Derweil empfiehlt das Innenministerium deren Mitarbeitern, sich in den sozialen Netzwerken vorsichtiger zu verhalten. Selbst ein simples Anmelden bei den Ressourcen, die als extremistische eingestuft wurden, kann dem Inhaber des entsprechenden Accounts teuer zu stehen kommen.

Auf dem weißrussischen Nationalen Internetportal für Rechtsfragen ist ein von der Regierung bestätigter Komplex von Maßnahmen zur Umsetzung der Konzeption für die staatliche Personalpolitik Weißrusslands bis zum Jahr 2030 veröffentlicht worden. Das Problem des Mangels von Arbeitskräften wird von den Offiziellen als eines der akutesten begriffen, und man hat beschlossen, systematisch an seine Lösung heranzugehen.

Verschiedenen weißrussischen Ministerien sind Aufgaben „zur Erfassung und zum Einsatz von Kadern, zur Schaffung von Bedingungen für ihr Halten (an den Arbeitsplätzen – Anmerkung der Redaktion)“ für die nächsten sechs Jahre gestellt worden. Angewiesen wird, Maßnahmen „zur Verstärkung des Kader-Potenzials der Branchen und Regionen entsprechend den vorrangigen Richtungen für die sozial-ökonomische Entwicklung“ zu ergreifen.

Durch gemeinsame Anstrengungen sollen das Arbeits-, das Finanz- und das Justizministerium bis zum Jahr 2026 die vertraglichen Formen für ein Einstellen „zwecks Motivierung der Arbeitnehmer für lange Arbeitsbeziehungen“ vervollkommnen. Und der Akademie für Verwaltungswesen ist die Aufgabe gestellt worden, Regeln für die Unternehmensethik in den staatlichen Organen auszuarbeiten, aber auch „Mechanismen für eine Anhebung des Niveaus des staatsbürgerlichen Verhaltens und des Patriotismus der Arbeitnehmer“ zu schaffen. Das Wirtschaftsministerium soll Maßnahmen zur „Lenkung der Migrationsprozesses im Land unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der jeweiligen Region (des jeweiligen Verwaltungsgebietes, des Kreises bzw. der Stadt)“ ausarbeiten.

Aufgaben wurden den unterschiedlichsten Ministerien und Institutionen erteilt. Notwendig sei es auch, sowohl „Arbeitskräfte auf dem Land zu halten“ als auch sie für die Industrie zu gewinnen. Und solange die weißrussische Beamtenschaft sich mit der Lösung dieses Problems herumschlägt, kann man die vorhandenen Arbeitsressourcen in zwei Schichten nutzen.

Ende März unterzeichnete Alexander Lukaschenko einen Erlass, der in Industriebetrieben eine Anhebung des Limits für Überstunden und das Arbeiten an Wochenenden bzw. freien Tagen sanktioniert.

„Wir beobachten, dass die Anzahl der Menschen abnimmt, die in der Wirtschaft beschäftigt sind. Wir haben keine neuen Leute. Im Gegenteil, sie werden weniger. Und eine der Maßnahmen, die sich der Staat ausgedacht hat, ist, dies aufzugreifen und die Anzahl der Mehrarbeitstage aufzustocken. Dies ist meines Erachtens die Hauptmessage, die zusammen damit erfolgt, dass wir superkühne Pläne für ein Wachstum des BIP haben“, erklärte Anastasia Lusgina, Expertin des Zentrums für Wirtschaftsforschungen.

Dabei bezweifelt die Expertin, dass man auf freiwilliger Basis zu Überstunden-Arbeiten animieren werde. „In einigen Unternehmen kann solch eine Situation entstehen, dass die Menschen einfach vor vollendete Tatsachen gestellt werden“, nimmt die Wirtschaftsexpertin an.

Und dies ist unter Berücksichtigung dessen durchaus wahrscheinlich, dass sich Alexander Lukaschenko selbst in der vergangenen Woche über das Problem des Personalmangels ausgesprochen hatte, und dies in einem recht alarmierenden Ton. Wobei die Situation in Bezug auf Facharbeiterberufen eine besonders besorgniserregende ist.

Bei einer Tagung zur Entwicklung der Industrie erklärte der Präsident, dass in der OAO „Minsker Automobilwerk“ der Mangel an Arbeitskräften 13 Prozent ausmache, und im Minsker Motorenwerk sei ein Exodus von Schlossern, Drehern, Montage-Kräften, Elektromonteuren, Schleifern und Fräsern zu beobachten. „Dabei bin ich mir fast sicher, dass bei Ihnen das Verwaltungs- und Leitungspersonal offenkundig aufgebläht ist. Im Minsker Traktorenwerk gibt es beispielsweise im Marketing-Dienst 100 Personen. Aber die Lagervorräte für ein halbes Jahr sind nirgendwo an den Mann zu bringen“, erklärte besorgt das Staatsoberhaupt.

Und separat verwies er auf die gewaltige Ressource in Gestalt von Rentnern. „Möglicherweise ist für die Regierung die Zeit gekommen, über eine Gewinnung der Weggegangenen, eben jener Rentner nachzudenken. Unter ihnen gibt es viele aktive Menschen, die arbeiten möchten. Mögen wir auch nicht auf 30.000 kommen, wir werden aber mehrere Tausend patriotisch eingestellte Menschen finden, die man in die Produktionsstätten holen kann. Sie werden mit Vergnügen kommen und arbeiten sowie noch einen größeren Nutzen als Mentoren bringen. Man muss klären, wie man sie interessieren kann, darunter auch materiell“, schlug der Präsident vor.

Es gibt aber auch Probleme mit den Ingenieuren. Und da verlangt der Präsident, aktiver die jungen Menschen zu stimulieren. „Experten warnen, dass die Risiken für einen Verlust von Kompetenzen auf dem Gebiet des Konstruierens und der Entwicklung neuer Arten von Erzeugnissen zunehmen. Warum? Weil es in den meisten Unternehmen in den Konstruktions- und Entwicklungsabteilungen wenig junge Spezialisten gibt“, unterstrich der Präsident. „Und dies ist bereits eine Frage nicht nur für das Industrieministerium, sondern auch für das Bildungsministerium. Es ist wenig, die Herangehensweise an die Ausbildung qualifizierter Spezialisten von Arbeits- und technischen Berufen zu ändern. Wir müssen entsprechend den Erfahrungen der sowjetischen Vergangenheit das Ansehen der Ingenieurberufe wesentlich anheben, den Status jener Menschen erhöhen, mit deren Händen und Geist reale materielle Werte geschaffen werden. Andernfalls werden all unsere Pläne leeres Papier bleiben“.

Die weißrussischen Offiziellen gestehen ein, dass zu einem der wichtigsten Faktoren, die das Entstehen des Personalmangels beeinflussten, die recht umfangreiche Auswanderung geworden ist. Und sie erörtern Maßnahmen, wie man die Ausgereisten zu einer Rückkehr motivieren könnte.

Bezeichnend ist aber, dass parallel Maßnahmen erfolgen, die das Gegenteil bewirken. So hatten dieser Tage Vertreter der Verwaltung des Innern des Oktober-Stadtbezirks von Grodno bei einer operativen Beratung im Unternehmen „Grodno Stickstoff“ die Beschäftigten aufgerufen, nicht zu vergessen, dass „ein geltendes Eingeschriebensein bei extremistischen Ressourcen ein verbreiteter Rechtsverstoß bleibt“. Im Zusammenhang damit wurde empfohlen, um kein „Opfer der eigenen Vergesslichkeit“ zu werden, „den eigenen Nachrichtenfluss der Freunde und Gemeinschaften zu kontrollieren, den Zugang zu aufgegebenen, aber nach wie vor persönlichen Accounts wiederherzustellen sowie die Passwörter zuverlässig zu schützen“.