In Weißrussland wird erneut die Möglichkeit der Begnadigung eines Teils der politischen Häftlinge erörtert. Die Hauptbedingung ist ihre Reuebekundung und ein Bitten gegenüber Alexander Lukaschenko. Nach Meinung von Experten könne eine Lockerung der Repressalien ein neues Sanktionspaket behindern, dessen Erörterung Europa bereits begonnen hat.
Die Informationen über eine sich in Vorbereitung befindliche Begnadigung gehen von Jurij Woskresenskij aus. Das ehemalige Mitglied der Initiativgruppe von Belgazprombank-Ex-Chef Viktor Babariko hat, nachdem er zwei Monate im Gefängnis gesessen hatte, Reue bekundet, die Seiten gewechselt und ist nun im Lager der Herrschenden. Nachdem er die Räumlichkeiten bezogen hatte, in denen der Wahlstab von Viktor Babariko untergebracht worden war, hat er die Rolle einer konstruktiven Opposition übernommen. Daneben propagiert er die Idee einer Begnadigung Reue zeigender politischer Häftlinge. Dies offenbart sich darin, dass er ihnen Briefe mit dem Vorschlag sendet, Buße zu tun und Alexander Lukaschenko um eine Begnadigung zu bitten. Danach schickt er die Listen jene, die zugestimmt haben, an die Rechtsschutz- und bewaffneten sowie Sicherheitsorgane und direkt an Lukaschenko. Die erste derartige Amnestie war am Vorabend des 3. Juli, des Unabhängigkeitstages von Weißrussland, diskutiert worden. Ihre Umsetzung verhinderten jedoch die verhängten Sanktionen.
Es sei daran erinnert, dass die Offiziellen Weißrusslands erklärten, dass, je stärker der Sanktionsdruck werde, desto härter würden die Repressalien gegenüber der Zivilgesellschaft werden. Jegliche weitere Verschärfung der Sanktionen würden dazu führen, dass die Zivilgesellschaft zu existieren aufhören werde, sagte der weißrussische Außenminister Wladimir Makej.
Das nächste Schlüsseldatum, dem eine Amnestie gewidmet werden kann, ist der 17. September. Die Offiziellen haben ihn als einen Feiertag etabliert, als Tag der Volkseinheit. Polen zum Trotz fällt er auf den Tag, an dem sowjetische Truppen auf das Territorium Westweißrusslands, das damals polnisch war, gekommen waren.
Auf der ersten sogenannten Woskresenskij-Liste waren 100 Namen gewesen. Wie er während der Lukaschenko-Pressekonferenz vom 9. August berichtete, gehe es um 93 „unglaublich zu Zombies gemachte“ und „in die Irre geleitete Bürger“, die jetzt aber Reue bekundet hätten, und um sechs Manager der Belgazprombank, die faktisch darunter gelitten hätten, dass ihr früherer Chef Präsident werden wollte, juristisch aber auch Reue bekundet und den Schaden wiedergutgemacht, aber auch aktiv mit den Untersuchungsbehörden zusammengearbeitet hätten. Auf der Liste war ebenfalls der frühere Leiter der Philharmonie von Mogiljow, den, wie Woskresenskij sagte, er „für die Organisierung von Agitations- und Informationsveranstaltungen braucht“. „Sobald auch nur einer der Begnadigten ausschert, wirst du sitzen“, stellte Lukaschenko Jurij Woskresenkij als Bedingung, und der stimmte zu.
Nunmehr, im Vorfeld des 17. September, tauchten in den Medien unter Berufung auf Woskresenskij Informationen über die Zusammenstellung einer zweiten Gruppe von einhundert Anwärtern auf eine Begnadigung auf. Die Liste wird geheim gehalten. Als Gerüchte kursieren Informationen, wonach der Blogger Igor Losik bereit sei, Alexander Lukaschenko um eine Begnadigung zu bitten. Verbreitet werden sie unter anderem von Jurij Woskresenskij selbst. Die Verwandten des politischen Häftlings bekunden jedoch keinerlei Bestätigung für diese Tatsache. Mehr noch, seine Gattin Daria teilte mit, dass Igor Losik an den Papst einen Brief mit der Bitte um Hilfe geschrieben hätte. In dem bezeichnet er die weißrussischen Offiziellen als „schreckliche Menschen“, „denen bereits die Schicksale anderer, die durch Leid und Kummer niedergeschlagenen Familien egal sind“. „Ich bitte, für das Gute, für die Wahrheit, für die Gerechtigkeit, für die hunderten und tausenden Weißrussen, die die Hoffnung in genau solch einer Lage wie auch ich verloren haben. Und für viele ist sie gar schlimmer“, schreibt Losik. Die einheimische Öffentlichkeit hat gewichtige Gründe, daran zu zweifeln, dass Igor Losik gleichzeitig den Papst und Alexander Lukaschenko um Hilfe gebeten habe. Auch auf der Ebene von Gerüchten werden im Zusammenhang mit Listen für eine Begnadigung die Namen von Andżelika Borys, der Vorsitzenden des die Registrierung verlorenen Verbands der Polen in Weißrussland, des Direktors einer IT-Firma Dmitrij Konopelko, des Fußballfans Tomaz Pipij und des Friseurs Andrej Satschenko erwähnt.
Parallel dazu tauchte am Donnerstag die Information auf, wonach die EU ein fünftes Sanktionspaket gegen die weißrussischen Herrschenden schnürt. Die verbreitete der EU-Korrespondent von Radio Liberty Rikard Jozwiak. Nach Meinung einiger Experten könnten neue Sanktionen stören, eine Begnadigung zum 17. September und überhaupt zumindest eine gewisse Lockerung der Repressionen vorzunehmen. Solch einen Standpunkt äußerte unter anderem der Politologe Jewgenij Preigerman. „Das Wichtigste zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist ein Ausbleiben neuer Sanktionen. Dies würde zum ersten langsamen und nichtambitionierten Schritt in Richtung Anbahnung eines Dialogs werden. Denn, wenn man doch neue Sanktionen verhängt, werden die weißrussischen Offiziellen antworten, und sie können, wie wir sehen, in einem eingeschränkten Regime antworten… Zur Hauptrichtung wird eine noch größere Verstärkung der Repressalien im Land“, sagte er in einem Interview für die Zeitung „Solidarnosc“. „Derzeit spricht man erneut von einer Amnestie im September. Wenn es in dieser Zeit keine Sanktionen geben wird, so wird dies sicherlich in irgendeiner Art und Weise erfolgen. Es ist eine klare Sache, dass es um keine Wiederherstellung eines normalen Dialogprozesses gehen wird. Aber ein Ausbleiben neuer Sanktionen wird zumindest helfen, diese Spirale zu stoppen“, denkt Preigerman.
Allerdings sind die meisten Experten nicht der Auffassung, dass die Sanktionen ineffektiv sind, besonders in der langfristigen Perspektive. „Wenn überhaupt keine Sanktionen verhängt werden würden, so gebe es was für einen Sinn für die Herrschenden, da die politischen Häftlinge freizulassen? Wer braucht dies? Politische Häftlinge lässt man frei und versucht, einen Deal zu beginnen, gerade dafür, um irgendeine Lockerung oder Nichtverhängung neuer Sanktionen zu erreichen“, meint unter anderem der politische Analytiker Artjom Schraibman.
Derweil geben die Offiziellen keinerlei Anlässe dafür zu denken, dass sie bereit seien, die Repressionen einzustellen. Es erfolgen Gerichtsprozesse hinter verschlossenen Türen, es werden harte Urteile gefällt, und die Durchsuchungen gehen weiter. In dieser Woche erfolgte beispielsweise eine Durchsuchung in den Büroräumen der gesellschaftlichen Organisation „Schutz der Vögel des Vaterlands“. Danach erhielt der frühere Vorsitzender Organisation Viktor Fentschuk zwölf Tage Ordnungshaft. Die Gründe sind unbekannt. Recht oft kommt es in der weißrussischen Praxis vor, dass während einer Ordnungshaft ein Strafverfahren eingeleitet wird, und der jeweilige betroffene Mensch bleibt im Rahmen der gewählten Sicherungsmaßnahme in Haft.
Fortgesetzt werden die Attacken gegen die Massenmedien. Am Mittwoch erfolgten unter anderem Durchsuchungen bei Mitarbeitern des Sportnachrichten-Portals „Tribüne“. Darunter in der Wohnung des Leiters des Internetportals Maxim Beresinskij, in der er schon ein Jahr lang nicht mehr wohnt. Um in sie zu gelangen, brachen die Sicherheitskräfte die Tür auf.
Nicht geringer werden die Spannungen auch an der Grenze zur EU. In den letzten Tagen versuchten 130 Illegale aus Weißrussland nach Europa zu gelangen. Rund einhundert stürmten die Grenze zu Polen, die übrigen – die zu Litauen und Lettland. Polen verhängte am Donnerstag den Ausnahmezustand an der Grenze zu Weißrussland.
Diese Tatsachen belegen, dass der Westen keine Gründe hat, den Druck auf das Lukaschenko-Regime zu verringern. Dementsprechend hat auch er wenig Gründe, aufzuhören, die Zivilgesellschaft wegen der Sanktionen zu strafen. Außerdem seien sich die Herrschenden ungeachtet der Erklärungen über einen Sieg gegen die Gegner ganz und gar nicht dieses Sieges sicher, betonen Experten. Die durch die Repressalien niedergeschlagene Gesellschaft warte einfach auf das Sich-öffnen eines „Fensters von Möglichkeiten“, um erneut ihre Ablehnung zu bekunden. Somit kann man sagen, dass sich Bedingungen für eine Deeskalation noch nicht herausgebildet haben.