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Rund um Russland – ein Gürtel zur Zügelung


Russlands Bürger haben wohl kaum einen großen Unterschied in der Haltung des Weißen Hauses gegenüber Moskau nach dem Wechsel der US-Administration verspürt. Die gleiche Rhetorik, dieselben Vorwürfe, die gleichen Versprechen bezüglich eines kompromisslosen Kampfes für die Menschenrechte und demokratischen Freiheiten in Russland. Aber Unterschiede gibt es zweifellos. Und das liegt nicht nur in der Prolongierung des Vertrages über Maßnahmen zum weiteren Abbau und zur Reduzierung der strategischen Offensivwaffen (START-3). Die Notwendigkeit der Verlängerung von START-3 und deren Nützlichkeit für die USA sind offensichtlich. Es kann angenommen werden, dass auch Donald Trump, wenn er wiedergewählt worden wäre, letzten Endes auch einen analogen Schritt unternommen hätte. Schließlich ist es für Washington von Vorteil, die strategischen Arsenale beider Länder unter Bedingungen, unter denen man uns sagt, Russland sei bei der qualitativen Vervollkommnung der strategischen Trägermittel nach vorne geprescht.

Ein Unterschied besteht auch darin, dass die zunehmende Welle einer gegenseitigen anklagenden Rhetorik von beiderseitigen Bereitschaftsbekundungen für einen konstruktiven Dialog zu Fragen der Aufrechterhaltung der strategischen Stabilität in der Welt begleitet wird. Vor kurzem hatte der russische Botschafter in den Vereinigten Staaten Anatolij Antonow in allgemeinen Zügen auch die Tagesordnung dieses Dialogs skizziert: die Gefahr des internationalen Terrorismus, das Problem der Nichtweiterverbreitung (von Kernwaffen), das iranische Atom-Programm und die Sicherheit in den Regionen sowie die Cybersicherheit. Von der Cybersicherheit wird übrigens in Washington viel geredet. Es wird aber wenig für die Anbahnung eines stabilen produktiven Dialogs mit Moskau getan. Doch die Vereinbarung über die Schaffung einer entsprechenden gemeinsamen Arbeitsgruppe wurde bereits in Hamburg im Sommer des Jahres 2017 erzielt.

Es ergibt sich natürlich die Frage: Wer ist besser für Russland? Der grobe und geradlinige Trump, der mehr zu einem gewaltsamen Druck denn zu diplomatischen Verhandlungen geneigt ist, oder die höflichen Diplomaten aus dem Team von Joseph Biden, die einen Akzent auf die Koalitionsdiplomatie und einen Informationskrieg setzen?

Alles hängt unseres Erachtens davon ab, wie man diese Diplomatie an sich und den Krieg zu verstehen hat. Hervorgehoben sei vor allem eine „Nuance“, die aufgrund objektiver Umstände die nach 1981 geborenen „Generationen Y und Z“ – das Hauptobjekt des Informationskrieges — nicht erfassen können. Nie, selbst zu den Kulminationsmomenten des Kalten Krieges war der Grad des hysterischen Charakters in den Anschuldigungen gegen Moskau hinsichtlich von Verletzungen der Menschenrechte und Bürgerfreiheiten so hoch wie gegenwärtig. Angemerkt sei gleichfalls, dass, als in der UdSSR wirklich auf gröbste Art und Weise die Menschenrechte und demokratischen Freiheiten verletzt wurden und überall der Mechanismus der mordwinischen Lager für „Staatsverbrecher“ funktionierte, die Medienfreiheit als solche überhaupt nicht existierte. Und in der Kritik aus dem Ausland hatte es mehr Objektivität und weniger Hysterisches gegeben. Worin besteht das Geheimnis dieses Phänomens?

Scheinbar liegt die Ursache darin, dass das Thema der Menschenrechte und demokratischen Freiheiten in der heutigen Welt immer häufiger als Trumpfkarte im politischen Kampf der Machtzentren um Einflusssphären eingesetzt wird. In diesem Fall im postsowjetischen Raum. Überraschenderweise erfolgte für die politische Elite der NATO-Länder die Entwicklung der Ereignisse in den Beziehungen zwischen Moskau und dem kollektiven Westen – beginnend ab dem Jahr 2000 – ganz und gar nicht gemäß dem Szenario, das für Russland noch vor den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verfasst worden war. Jeder Mensch, der eine militärische Ausbildung durchlaufen hat, weiß, dass ein Sieg so lange kein vollständiger sein kann, solang das Territorium des Gegners nicht durch die eigenen Truppen okkupiert worden ist. Der kollektive Westen hatte sich nicht entschlossen, seinen Sieg im Kalten Krieg durch eine Okkupation des gesamten postsowjetischen Raums zu verankern. Zu groß waren die Risiken gewesen. Ja, und die Notwendigkeit dafür hatten die NATO-Generäle in den 1990er nicht gesehen. Der Sieg erschien als ein so absoluter und endgültiger, dass CIA-Direktor Robert Gates im Oktober 1992 mit einer Flasche Sekt in den Händen über den Roten Platz defilierte, wobei er vor den auf ihn gerichteten Fernsehkameras proklamierte: „Dies ist meine Parade des Sieges im Kalten Krieg“. Zu Ehren dieses „Sieges“ waren Erinnerungsmedaillen geprägt worden. Und keiner hatte gar an den Sieg der Demokratie und Menschenrechte erinnert. Es ging „einfach um den Sieg der USA“ in der militärpolitischen Auseinandersetzung mit der UdSSR.

Es geschah aber Unerwartetes. Innerhalb eines kurzen Zeitraums begann Russland, auf die Beine zu kommen: Die Wirtschaft fing zu arbeiten an, durch Pipelines floss Erdöl und Gas, wobei zu recht anständigen Preisen. Auf die aufgegebenen Felder kamen Menschen. Und es verwandelte sich aus einem Weizenimporteur zum weltweit führenden Getreideexporteur. Natürlich ist es noch weit, um vollkommen auf die Beine zu kommen. Aber die Terminologie des Perestroika-Autors verwendend kann man sagen: „Der Prozess ist in Gang gekommen“. Nur in einer entgegengesetzten Richtung. Und dieser Prozess bringt jene psychologische Frustration hervor, die die Intensität der Russophobie in den NATO-Kreisen bestimmt.

Unter Berücksichtigung dessen könnte man die Schlussfolgerung ziehen, dass der zivilisierte Biden und sein Team für Russland besser als Trump sind. Aber hier macht es aber sicherlich keinen Sinn, sich zu beeilen. Ja, Trump setzte in größerem Maße auf einen Druck durch Stärke. Doch Druck auf Russland mittels Stärke ist eine undankbare Sache.

Die Umgebung Bidens begreift dies. Daher ist Kurs auf eine Verstärkung der Koalitionsbeziehungen mit den Verbündeten im euroatlantischen Raum und in der asiatisch-pazifischen Region genommen worden. Als Opfer für diese Beziehungen kann Biden sogar eine „heilige Kuh“ darbringen – den Deutschen eine Genehmigung zum Abschluss des Baus der leidgeprüften Gaspipeline „Nord Stream 2“ erteilen.

Auf jeden Fall geht es um die Absicht der neuen US-Administration, um Russland einen gewissen Gürtel zur Zügelung zu verstärken, wobei so viel wie möglich sowohl direkte Vasallen als auch mehr oder weniger unabhängige Staaten einbezogen werden, um „ähnlich einem klugen Affen das Duell von Tigern im Tal zu überschauen“ (entsprechend einem chinesischen Sprichwort – Anmerkung der Redaktion).

Diese Strategie ist seit uralten Zeiten gut bekannt und genauso offenkundig zum Scheitern verdammt, denn in ihr gibt es einen Schwachpunkt. Mit der Wende gen Osten, zu der der Westen selbst Russland im Jahr 2014 angestoßen hatte, hat Moskau Beziehungen einer progressiven strategischen Partnerschaft mit großen Staaten in Eurasien, Afrika und Lateinamerika hergestellt, die sich stabil bei einer Abstimmung zu antirussischen Resolutionen in der UNO der Stimme enthalten. Gebildet wurde die blockfreie Allianz BRICS, die auch funktioniert, wenn auch noch unzureichend effektiv. Auf dem Vormarsch ist die Entwicklung der Zusammenarbeit mit China, Indien und den ASEAN-Ländern. Unter diesen Bedingungen ist eine Isolierung Russlands keine Realität, sondern eher ein süßer Traum.

Und da, nachdem Trump wie ein Elefant in den Porzellanladen der asiatisch-pazifischen Region hineingetrampelt war, ist man buchstäblich zur Besinnung gekommen. Und die Biden-Administration macht eiligst Knickse in Richtung Peking, erkennt als einen Fehler den Handelskrieg an, die Aufgabe der Transpazifischen (Handels-) Partnerschaft und den recht erniedrigenden Annäherungsversuch mit der KDVR separat von Peking, dessen Vasall Pjöngjang so oder auf andere Weise ist.

Natürlich ist es unmöglich, selbst auf dem Papier den blauäugigen Traum von einem antirussischen „großen Zweiergespann“ (Chimerica) dank der gewaltigen Ausdehnungen Sibiriens, die laut Aussagen von Zbigniew Brzeziński zu einer chinesischen Kolonialisierung auffordern würden, zu realisieren. Auf die Sondierungsversuche des Biden-Teams hat Peking mit der kaltblütigen Bereitschaftserklärung hinsichtlich einer Zusammenarbeit bei Erfüllung einer Reihe von Bedingungen durch Washington reagiert – Verzicht auf die Behandlung der Kommunistischen Partei Chinas als eine destruktive Kraft, die die strategische Stabilität in der Welt zerstöre; Anerkennung der territorialen Integrität Chinas einschließlich des Status von Taiwan als eine Provinz der Volksrepublik China; Aufgabe der Wühltätigkeit und des Informationskrieges von Washington in Hongkong, Xinjiang und im Tibet. Es ist klar, dass ohne eine Erfüllung dieser Forderungen von irgendeiner strategischen Partnerschaft mit der Volksrepublik China keine Rede sein kann. Aber für deren Erfüllung müssten die USA zuerst die wichtigste ideologische Grundsäule ihrer Politik – das Setzen auf eine weltweite globale Führungsrolle – aufgeben. Und dies würde einen Wechsel des aggressiven Kurses nicht nur hinsichtlich Chinas bedeuten, sondern auch in Bezug auf Russland, das man nach der Vorgabe Bidens in Washington erneut als Hauptgegner zu bezeichnen angefangen hat.

Und aus dieser Sicht ist Biden für Moskau wohl schlechter als Trump, da anstelle einer gewaltsamen frontalen Konfrontation Russland ein diplomatisches „byzantinisches Spiel“ aufgezwungen wird, in dem auf der Seite des Westens riesige Erfahrungen sind. Wir werden aber hoffen, dass auch für Russland die vergangenen drei Jahrzehnte nicht umsonst verstrichen sind. Es hat die Lehren gezogen und sich angeeignet, die der Westen erteilte, der seine Panzer um eintausend Kilometer weiter gen Osten von der Grenze, die einst die NATO und die Länder des Warschauer Vertrags getrennt hatte, vorrücken ließ.

Der Höhepunkt des unerklärten, aber aktiv gegen Russland geführte Informationskrieg steht noch bevor, zur Zeit der Staatsduma-Wahlen im Herbst des Jahres 2021. Aber es gibt doch auch eine Alternative zu der von niemanden gebrauchten Konfrontation. Dies ist ein konstruktiver Dialog, dessen Tagesordnung derzeit aktiv Diplomaten in Moskau, Washington und Peking abstimmen.

 

 

Vladimir Prjachin